One Solution! Zero Covid?
Die Kampagne Zero Covid wird von vielen als Ausweg aus der linker Sprachlosigkeit gegenüber der Corona-Pandemie angesehen. Dabei fordert der Aufruf realpolitisch, was in diesen Verhältnissen nicht zu erreichen ist. Gleichzeitig verkennt er die Repression, die auch ein solidarischer Lockdown bedeuten würde. Eine linksradikale Antwort auf Corona wäre es sich solidarisch in Netzwerken jenseits von Kapital und Staat zu organisieren.
Worüber man nicht sprechen kann – muss man schweigen
Plötzlich – oder doch vielleicht endlich – kommt Bewegung in die Sache. Seit kurzem haben auch die Linken in deutschsprachigen Raum eine Strategie gegen den Corona-Virus und die damit zusammenhängenden Krise gefunden. „Zero Covid“ heißt die Losung und allerorts von Hamburg bis nach Wien wird ein solidarischer Lockdown gefordert. Die Gruppe redical [m] aus Göttingen verkündete gar, dass ZeroCovid der erste nennenswerte Versuch sei, die Sprachlosigkeit der Linken, was Corona angeht, zu überwinden[1].
Diese Sprachlosigkeit festzustellen, ist nun keine allzu aufregende Erkenntnis – man sollte diese sich allerdings nicht gegenseitig zum Vorwurf machen. Interessanter ist schließlich die Frage, wieso weite Teile der Linken zu Corona zunächst wenig zu sagen hatten. Das mag daran liegen, dass linke Politik ganz wesentlich auf sozialer Nähe beruht, dass man sich in Autonome Zentren, Gruppen, Demos trifft und organisiert und dies unter den Vorzeichen der Pandemie schwieriger geworden sind und (mitunter durchaus aus guten Gründen) unterlassen wurde. Das mag auch daran liegen, dass Gesundheit für die (radikale) Linke hierzulande ohnehin nicht eine allzu zentrale Rolle einnimmt, obwohl natürlich auch die Frage der Gesundheit nach Klassengrenzen usw. strukturiert ist. Zusätzlich – und das ist wahrscheinlich der entscheidende Punkt – liegt die Pandemie schlicht außerhalb der Themenfelder der Linken. Eine Wirtschaftskrise wäre von der gesellschaftlichen Linken von Beginn an anders aufgegriffen und bearbeitet worden. Das mag auch daran liegen, dass die Corona-Virus als natürliche Katastrophe erscheint. Als natürliche Katastrophe erscheint sie aber zunächst als unpolitische – als eine Sache, um die keine Auseinandersetzungen geführt werden können und in der es ohnehin nur ganz bestimmte von der Wissenschaft vorgegebene Lösungen gibt. Es ist dann eben wie beim Hochwasser: Es ist ein natürlicher Prozess und wenn es mal da ist, geht es darum, dass es so schnell wie es geht wieder weg ist, wofür dann Feuerwehr und Katastrophenschutz zuständig sind.
Nun (und das gilt natürlich genauso auch fürs Hochwasser) ist die Pandemie eben kein rein natürliches Ereignis: Allein, dass eine Pandemie sich so ausbreiten kann bzw. überhaupt so auf den Menschen überspringt, ergibt sich aus einer kapitalistisch angetriebenen Zerstörung der Umwelt.[2] Auf die Tatsache, dass der Umgang mit der Pandemie selbst mit der Gesellschaft und der Einrichtung der gesellschaftlichen Verhältnisse zu tun, macht zumindest auch die Kampagne ZeroCovid aufmerksam, auch wenn das eine Erkenntnis ist, über die schon im Frühjahr geschrieben wurde.
Überhaupt – um damit wieder zur angeblichen Überwindung der Sprachlosigkeit der Linken zurückzukehren – zeugt es durchaus von einer gewissen Vermessenheit jetzt zu behaupten, „ZeroCovid“ sei der erste Versuch, die linke Sprachlosigkeit in Bezug auf Corona zu überwinden. Tatsächlich gab es bereits im Frühjahr eine ganze Reihe an Texten, die sich mit Corona auseinandergesetzt hatten und durchaus Vorschläge wie man mit der Pandemie umgehen könnte z.B. bei Crimethink[3]. In Slowenien, Süditalien, den französisichen Banlieue und anderswo gibt es seit Monaten Proteste gegen die Ausgangssperren: aber gut, dort spricht man auch eine andere Sprache und das zählt wahrscheinlich schon allein deshalb nicht als Versuch, die Sprachlosigkeit zu überwinden. Überhaupt gab es auch im ersten Lockdown eine ganze Reihe von Versuchen des Aufbaus von solidarischer Hilfe durch linke Initiativen, die man zumindest auf breiter Ebene als gescheitert betrachtet muss – bedauerlicher Weise jedoch entstanden zudem kaum Auswertungsstatements. Angesichts all dessen überrascht es dann doch, dass ein solcher Vorschlag nach über einem dreiviertel Jahr Pandemie und mehreren Monaten im Lockdown in unterschiedlicher Gestalt kommt. Der Vorschlag wäre theoretisch und praktisch auch schon zu Beginn der Pandemie denkbar gewesen. Dass man das eben nicht gemacht hat und jetzt nach Monaten des Lockdowns nach mehr Lockdown ruft, sagt dann vielleicht doch mehr über das Milieu, das diesen Vorschlag unterstützt, aus als über die generelle Sprachlosigkeit der Linken.
Die Logik des Staates lässt sich nicht austricksen!
Die Sprache der Kampagne ist unverkennbar eine realpolitische: Wir müssen jetzt handeln, wir machen jetzt einen Vorschlag, wie die derzeitigen gesellschaftlichen Institutionen anders handeln können, wie wir innerhalb der Verhältnisse die Corona-Pandemie bekämpfen könnten; wir schließen die Wirtschaft, wir führen aber soziale Hilfen ein, die wir mit Vermögenssteuern etc. finanzieren. Das ist an sich wenig überraschend, schließlich haben wahrscheinlich genügend Linksliberale den Aufruf initiiert. Dass er aber von linksradikalen Gruppen derart gefeiert wird, mag dann schon zu überraschen. Man gibt sich offensichtlich allzu leicht der Illusion hin, dass Forderungen leichter umzusetzen wären bzw. mehr Menschen erreichen können, wenn man sie denn nur realpolitisch verpackt. Es spricht wirklich alles dafür, Sammelunterkünfte aufzulösen, Obdachlose eine Wohnung zu verschaffen, beengte Wohnverhältnisse zu beenden, Menschen eine weitgehende soziale Absicherung anzubieten, vollen Lohnausgleich bei Betriebssschließungen zu garantieren. Der – wirklich schlechte – Witz ist nur, dass all diese Forderungen - vor allem in dem enormen Ausmaß, in dem sie allein schon angesichts der Corona-Pandemie notwendig wären – innerhalb dieser Verhältnisse wohl kaum umsetzbar sind. Allen Menschen eine angemessene Wohnung zu verschaffen, würde an der Eigentumslogik, an der kapitalistischen Ordnung, derart rütteln, dass es unmöglich bleibt. Nun ist das kein Einspruch gegen diese Forderungen, sondern nur gegen die Leichtfertigkeit, wie diese als vom Staat umsetzbare dargestellt werden. Es bleibt schleierhaft, wieso Forderungen, die dem derzeitigen System wirklich diametral entgegenstehen, in ein realpolitisches Gewand gekleidet sich leichter umsetzen lassen sollten. Sinnvoller wäre es aufzuweisen, wie die Umsetzung dieser Forderungen in diesen Verhältnissen systematisch unmöglich ist: was nicht gegen die Forderungen spricht, sondern gegen die Verhältnisse, die ihre Verwirklichung blockieren. Sinnvoller ist es, darauf hinzuweisen, wie sehr die Corona-Pandemie und ihre desaströse Bekämpfung mit der kapitalistischen Gesellschaft zusammenhängt und wie man in einer anderen, in einer kommunistischen Gesellschaft stattdessen damit umgehen könnte.
Ich will für euch im Lockdown bleiben
Neben den – zumindest der Schlagrichtung durchaus richtigen – sozialen Anliegen geht es der Kampagne um die Forderung nach einer „solidarischen Pause“, nach einem harten Lockdown, der nicht nur den privaten Bereich, sondern nun auch ebenso sehr die Wirtschaft betreffen soll. Dass die Wirtschaft von dem Lockdown weitestgehend ausgenommen wurde, dass dort, wenn man den Verlautbarungen der Politik Glauben schenkt, anscheinend keine Infektionen stattfinden können, dass diese ungehindert weiterlaufen soll, zeigt die Funktionsweise des Kapitalismus und seine ganze Absurdität. Soweit so gut. Allerdings beinhaltet die Forderung nach einer „solidarischen Pause“ eben nicht nur die Forderung nach einem Lockdown für das Kapital, gegen den nichts einzuwenden wäre, sondern ebenso sehr die Fortsetzung des Lockdowns im Privaten. Dass nun der solidarische Lockdown zum Allheilmittel wird, drückt sich auch darin aus, dass man zum Leidensdruck, den der Lockdown auslöst, kaum etwas zu sagen hat. Nur kurz etwas zu häuslicher Gewalt, nichts zu den Depressionen, psychischen und sonstigen Krankheiten, die er auslöst, nichts zu den Menschen in den ganzen Knästen, in denen das Virus furchtbar grassiert hat, nichts zu den Menschen, die in anderen, ohnehin geschlossenen Einrichtungen wie Jugendheimen oder geschlossenen psychatrischen Kliniken nun umso mehr eingesperrt sind. Und natürlich verläuft auch die Betroffenheit von diesem Leidensdruck – um es nochmals für die zu sagen, die es ansonsten ignorieren würden – entlang von Klassen- und Geschlechtsgrenzen, entlang von sozialen und rassistischen Markierungen.
Des Weiteren bedeutet ein Lockdown Einschränkung der Bewegungsfreiheit, Ausgangssperren, Absperrungen von Vierteln und Städten – die natürlich auch dann nicht angenehmer werden, weil vielleicht diesmal die reicheren Viertel davon auch betroffen sind. Diese Ein- und Absperrung befördern eine staatliche Repression und polizeiliche Morde. Und freilich trifft dieser Frontalangriff der Herrschaft besonders diejenigen Überlebenskünstler:innen, die sich sonst in den letzten Zwischenräumen der smarten Stadt der Reichen bewegen: Wohnungslose, Illegale, Junkies, Straßenkinder, Geflüchtete und viele rassistisch markierten Menschen. Offensichtlich hat man das polizeiliche Vorgehen, das allgegenwärtige racial profiling diesen Sommer in den deutschen Städten und die darauf reagierenden Riots in Stuttgart und Frankfurt so schnell wieder vergessen, sodass man nun eine Beibehaltung bzw. gar eine Verschärfung dessen fordert. Natürlich hat es diese polizeiliche Repression auch davor schon gegeben und es wird sie auch noch nach Corona geben. Aber so zu tun, als wäre es eine linke Antwort auf die Corona-Pandemie genau diese Repression aufrechtzuerhalten und sogar zusätzlich zu ermächtigen und sich nicht ein Modell genau jenseits dieser Repression, jenseits der staatlichen Vermittlung der Gesellschaft zu überlegen, bleibt abzulehnen und nicht auch noch zu begrüßen.
All Cops Are Showing Solidarity
Dazu kommt: Wer soll denn diesen „solidarischen“ Lockdown nun umsetzen? Die staatlichen Institutionen? Die Polizei? Wie kommt man denn nun zur Annahme, dass diese einen Lockdown, ganz egal, wie dieser angelegt ist, solidarisch umsetzen würde? Auch ein solidarischer Lockdown würde entlang der üblichen Klassen- und Geschlechtergrenzen, der rassistischen Markierungen u.ä. durchgesetzt werden. Um das zu zeigen, braucht es nicht einmal eine besondere theoretische Begründung. Es genügt auf das polizeiliche Handeln zu blicken, zu dem genug bekannt sein sollte. Zu was hat man die letzten Jahre gegen die ganzen PAGs protestiert, zu was hat man die ganze rechte „Einzelfälle“ und Strukturen thematisiert, wenn diese am Ende doch wieder die richtigen sein sollen, um die Gesellschaft zu organisieren und Antworten auf eine Krise abzusichern, wenn ihnen doch wieder alle Gewaltmittel anvertraut werden sollen?
Auch hier zeigt sich wieder die Grenze der Realpolitik: Man argumentiert und denkt im Grunde von Voraussetzungen aus, die schlicht nicht gegeben sind. Denn eine Polizei, die nichts rechts durchsetzt wäre, die einigermaßen solidarisch wäre, gibt es heute nicht und sie zu schaffen würde, wenn es denn überhaupt möglich wäre, Jahre dauern. (Aus guten Gründen halten wir eine solche Polizei für unmöglich, aber darum geht es hier erstmals nicht.) Dass man trotzdem so tut als ließe sich unter den Vorzeichen einer solchen Polizei (und anderer entsprechender Institutionen) ein solidarischer Lockdown umsetzen, zeugt von der Illusion der Realpolitik, die dort vermeintlich unmittelbar umsetzbare Vorschläge liefert, wo sie gerade nicht in dieser Form unmittelbar umzusetzen sind. Dazu passt jener sozialdemokratische Glaube an den Staat als ein bloßes Instrument, den man einfach einen Zweck geben kann und der das dann auch genauso umsetzt, ganz unabhängig von politökonomischen Funktionsweisen und Zwängen, unabhängig von Herrschaftsmechanismen und unabhängig von Machtstrukturen innerhalb des Staates.
Die ganz Gewieften werden nun einwenden, dass ja gar nicht die Polizei diesen Lockdown kontrollieren soll. Wer denn sonst allerdings? Man wendet nun, dass dieser Lockdown von unten organisiert und somit kontrolliert werden soll. Von der Basisbewegung oder von Gewerkschaften etwa. Wie hat man sich das vorzustellen? Die örtliche Antifa-Crew jagt jetzt nicht mehr Nazis, sondern Leute, die sich nicht an die Ausgangssperre halten? Eine solche Kontrolle von unten ist nun auch ganz grundsätzlich schlichtweg utopisch – und zwar in einem schlechten Sinne. In einer staatlich-kapitalistischen Gesellschaft hält nun einmal der Staat und seine Organe die Gewaltmittel in der Hand. Die Polizei und andere Organe haben das Monopol auf die Kontrolle und die Regelung der Gesellschaft. Wieso sollten sie das an nicht-staatlichen Gruppen und Organisationen abgeben, zumal an solchen die dem Staat zumindest verbalradikal eher skeptisch gegenüberstehen? Wie soll es also eine Kontrolle von unten geben, die nicht in den Formen des Staates verläuft, die nicht genau das macht, was der Staat sich vorstellt (und das wäre mit Sicherheit nicht solidarisch)? Wenn man aber auf der anderen Seite glaubt, dass sich diese solidarische Kontrolle von unten durchaus gegen den Staat herstellen lässt, wenn man glaubt, dass so etwas bereits jetzt möglich wäre, dass man tatsächlich eine „un-staatliche Ordnung“ durchsetzen könnte, wieso hält man sich dann mit realpolitischen Forderungen und Appellen an den Staat auf? Wieso fordert man nicht gleich (richtigerweise) die Revolution und fängt an, andere gesellschaftliche Formen aufzubauen? Und wieso wartet man mit dem Aufbau einer solchen solidarischen Organisation der Gesellschaft bis Corona die Altenheime leer räumt?
Die reale Verstaatlichung des Individuums
Man muss sich fragen, wieso man überhaupt zu so einer Position wie einem solidarischen Lockdown gelangt. Das mag wesentlich daran liegen, dass ein Lockdown überhaupt als einzige Möglichkeit mit der Pandemie umzugehen erscheint. Keine andere Bekämpfung des Virus, kein Denken außerhalb von staatlichen Strukturen und Kategorien scheint möglich zu sein.
Das lässt sich schon an der Darstellung des Verhältnisses von Bevölkerung und Ökonomie ablesen. Liest man die Verlautbarungen der ZeroCovid Kampagne und derjenigen, die sie unterstützen, scheint die Lage folgende zu sein: Auf der einen Seite die Menschen, die – von den Querdenkern mal abgesehen – kein Problem mit Lockdown, Ausgangssperren usw. haben und auf der anderen Seite die Ökonomie, die sich gegen jeden Lockdown, gegen jede Schließung wehrt und die vom Lockdown bis dato auch ausgenommen ist. Diese Trennung ist auf gleich mehrfache Weise falsch: Es baut auf der Annahme auf, dass sich die Leute im Grunde gerne in den Lockdown begeben, dass er für sie kein Problem darstellt. Wie angedeutet bedeutet der Lockdown aber für viele einen Leidensdruck und selbst die, die ihn zähneknirschend hinnehmen, wünschen sich, dass er so schnell wie möglich aufhört. Diejenigen, die nach Schlupflöchern suchen, die sich nicht (immer) daranhalten, sind eben nicht bloß die Unternehmen, sondern auch genauso die Bevölkerung. Auf der anderen Seite wäre es auch genauso falsch, die Infektionen allein auf die Wirtschaft zu schieben und so zu tun als würde nicht auch der „private Bereich“ dafür eine Rolle spielen. Vielleicht liegt diese Trennung im Verhalten von Bevölkerung und Ökonomie auch daran, dass man sich nicht eingestehen will mit welchen Mitteln ein solcher harter Lockdown (im privaten Bereich) durchgesetzt werden würde.
Das bringt zum vielleicht grundlegenden Problem zurück, dass nämlich ein Lockdown als einzige Möglichkeit angesehen wird, die Pandemie zu bekämpfen. Doch diese Annahme ist nur aus einer gewissen Perspektive, einer staatlichen zumal, gesetzt und nicht unbestreitbar. Das heißt freilich nicht, dass das Corona-Virus nicht gefährlich sei oder dass Kontaktbeschränkungen (und auch sonstige epidemiologische Maßnahmen wie z.B. Masken) falsch seien. Es heißt, dass der Lockdown nur vor dem Hintergrund einer gewissen – im Grunde genommen neoliberalen - Pandemiebekämpfung als einzige Möglichkeit erscheint. Im Gegensatz dazu wäre die Corona-Pandemie wesentlich als eine kapitalistische Krise zu sehen: Wie bereits angemerkt wurde das das Entstehen der Pandemie wie auch anderer Pandemien durch die kapitalistische Umweltzerstörung und Massentierhaltung ermöglicht. Risikofaktoren wie Atemwegserkrankungen oder Adipositas haben mit der industriell verursachten Luftverschmutzung einerseits oder eben andererseits der kapitalistisch bedingten Klassenzugehörigkeit und damit bspw. verbundenem Möglichkeiten, was die Ernährung und den Sport angeht, zu tun. Gleichzeitig gibt es (gerade im Süden Europa) ein massiv zusammengespartes Gesundheitssystem und ähnlich (nicht-)funktionierende Pflegeheime. Doch diese Faktoren lassen sich nicht bloß nachträglich feststellen und genauso wenig muss man sich mit dem Hinweis begnügen, dass die Pandemie unter anderen Vorzeichen nie in diesem Ausmaß ausgebrochen wäre: Die europäischen Staaten handeln in der Krise in einer Weise, die diese Faktoren fortsetzt und verschärft. Dies ist auch nicht verwunderlich; schließlich tritt dem Virus ein Staat gegenüber, den es längst schon nicht mehr um Daseinsvorsorge geht, sondern der auf jede Krise nicht mit sozialer Absicherung und einem entsprechenden Angebot reagiert, sondern mit einer Einschränkung der Freiheitsrechte.[4] Dass es den deutschen wie auch den anderen (europäischen) Staaten eben überhaupt nicht mehr in den Sinn kommt, auf eine Krise mit sozialer Absicherung zu reagieren, lässt sich anhand einiger Schlaglichter belegen. Nie wurden die Testkapazität angemessen massiv erhöht, geschweige denn sinnvolle Teststrategien für Alten- und Pflegeheime entwickelt, kaum wurden flächendeckend Luftfilter besorgt und an bestimmten Orten wie z.B. an Schulen eingesetzt, das großflächige Beschaffen von Schutzkleidung oder FFP2-Masken wurde kaum Erwägung gezogen und dort, wo es schließlich stattfand, kam es viel zu spät und unter schlecht organisierten Bedingungen. Die Pflegekräfte wurden im Frühjahr noch beklatscht, Lohnerhöhungen gab es jedoch nicht. Selbst der versprochene und lächerlich niedrige Corona-Bonus von 500 € in Bayern wurde schließlich nur willkürlich ausgezahlt.[5] Auch die Impfstrategie und deren Verzögerung wäre genau unter diesen Gesichtspunkten zu betrachten: Anstatt für eine Koordination der einzelnen Forschungsgruppen und Unternehmen zu sorgen bzw. den Impfstoff unter staatlicher Leitung herstellen zu lassen, hat man die Milliardensummen lieber so investiert, dass man die einzelnen Unternehmen auf den Markt gegeneinander hat antreten lassen, was nicht nur eine schnellere und bessere Entwicklung behindert hat sondern auch für deutlich geringere Produktionsmengen gesorgt hat. Das einzelne Unternehmen kann ja nicht absehen, ob es mit seinem Impfstoff Erfolg haben wird und kann deshalb zunächst auch nur begrenzte Produktionskapazitäten freistellen. Selbst der Ankauf der Impfdosen durch die EU folgt wieder dieser Logik. Für einen Ankauf in großen Mengen des Impfstoffs AstraZeneca wurde sich auch deshalb entschieden, weil dieser günstiger ist als andere Impfstoffe. Lieber ein Jahr länger Freizeit-Lockdown als ein paar Milliarden mehr auszugeben. Aus diesem Nicht-Handeln des Staates wären die richtigen Konsequenzen zu ziehen: Weder kann es darum gehen stattdessen einen Lockdown zu durchzusetzen noch diese Daseinsvorsorge wieder von Staat einzufordern. Dass der Staat so handelt wie er handelt, hat seine Gründe, die sich nicht einfach realpolitisch aufheben lassen.[6] Vielmehr wäre eine andere Gesellschaft einzufordern, die sich zentral genau um diese Daseinsfürsorge dreht. Eine Gesellschaft, in der das eigene Leben sozial abgesichert ist und der man über seine eigenen Lebensumstände mitentscheiden kann. Ein Lockdown, ob man ihn nun solidarisch nennt oder nicht, der an den Staat delegiert wird und von diesem durchgesetzt werden soll, bedeutet gerade nun aber nicht gesellschaftliche Mitbestimmung, er heißt gerade nicht, dass man über seine eigenen Lebensumstände, zu dem fraglos auch der Umgang mit und der Schutz vor Corona gehört, entscheiden kann. Er beendet keine Sprachlosigkeit, er sorgt nur dafür, dass andere für eine*m sprechen, und zwar ohne dass man das beeinflussen könnte.
Wie wir leben wollen
Die ständige realpolitische Hoffnung ist freilich nicht ohne Grund: Eine andere Gesellschaft ist noch so fern, noch so weit weg, man will im hier und jetzt, jetzt sofort was ändern. Deshalb tauscht man so gerne seine radikale Gesellschaftskritik mit realpolitischen Forderungen ein. Und tatsächlich liegt an diesem Gefühl auch etwas Wahres, so einfach lässt es sich nicht verwerfen. Die Revolution wäre zwar tatsächlich die Lösung auf die Fragen der Krise, aber einfach alles darauf verschieben, während man bis dahin die Zähne zusammenbeißen soll, wäre schlicht fatal. Es geht – und das gilt für die Frage der Corona-Pandemie ebenso wie ansonsten – andere Beziehungsweisen zu schaffen, die etwas von einer anderen Gesellschaft antizipieren, etwas von den anderen Möglichkeiten der Mitbestimmung und der sozialen Absicherung vorwegnehmen, während sie gleichzeitig auf eine andere Welt hindrängen. Das kritische Potential, das solche Beziehungsweisen beinhalten, wird jedoch kassiert, wenn man dann doch ständig den Staat anruft bzw. sich diese Beziehungsweisen durch den Staat vermittelt denkt. Es geht also z.B. darum, sich in Netzwerken, Bezugsgruppen und Communities zusammenzuschließen, die – so weit das unter diesen Verhältnissen geht – sich unterstützen und gemeinsam über ihre Risiken und ihr Vorgehen entscheiden, es geht darum sich durch wechselseitige Hilfe gegenseitig zu unterstützen, es geht darum durch Streiks und Krankfeiern sich der Arbeit zu entziehen, es geht darum, sich die Mittel zur Bekämpfung der Pandemie wie beispielsweise FFP2-Masken anzueignen, es geht darum durch Besetzungen den beengten Wohnraum zu erweitern oder überhaupt erst zu verschaffen, es geht darum, durch Betriebsbesetzungen die Produktion auf die – gerade im Rahmen der Corona-Pandemie – benötigten Güter umzustellen.
Klar ist natürlich, dass solche Aktionen umso erfolgreicher sind, je mehr Menschen sich daran beteiligen, dass es dafür eine Menge an Leuten braucht, die vielleicht gerade nicht in Sicht ist. Allerdings bräuchte es genauso eine solche Massenbewegung, um die realpolitischen Forderungen umzusetzen. Vor diesem Hintergrund zeigt sich der Einwand, dass das alles nicht machbar ist, als bloßer Hemmschuh, der verdeckt, dass das vermeintlich Einfache genauso wenig machbar ist. Oder andersrum: Wenn die Realpolitik machbar sein soll, ist es die Revolution auch!
Es bleibt also dabei: Wir wollen nicht (bloß) ZeroCovid, wir wollen alles!
[1] https://twitter.com/m_redical/status/1350728489792634880?s=20
[2] Vgl. z.B. hier: https://www.republik.ch/2020/12/23/covid-19-ist-erst-der-anfang
[3] https://de.crimethinc.com/2020/03/18/das-virus-uberleben-ein-anarchistischer-leitfaden-kapitalismus-in-der-krise-aufkommender-totalitarismus-strategien-des-widerstands
[4] Siehe hierzu den sehr lesenswerten Text: https://www.rosalux.de/publikation/id/43536/in-der-pandemie-nichts-neues. Dieser argumentiert im Grunde zwar ebenfalls sozialdemokratisch, macht aber einige Punkte, die durchaus auch aus einer linksradikalen Perspektive aufzugreifen wäre.
[5] https://www.youtube.com/watch?v=KCJN0KxRwGQ
[6] Vgl. dafür z.B. auch hier: https://kosmoprolet.org/de/thesen-zur-krise
Ergänzungen
@ZeroCovid ftw
@ZeroCovid ftw
Danke für deine Perspektive. Ich hoffe, Menschen hören hier zu und neben das wahr und ernst. Es ist beschissen, dass die Perspektive und die Stimmen derer, die von Covid direkt bedroht sind (und das sind so viele) unter Organisierungs-Phrasen verschüttet werden. ZeroCovid ist eine gute und realistische linke Intervention in die ganz konkrete Situation dieser und der kommenden Wochen, in denen eh keine Autonome Massenmobilisierung zustande kommen wird. Von daher ist die Gegenüberstellung wenig sinnvoll.
@HintenimBus Merkst du eigentlich, was du da schreibst? Wie du Menschen ihre Position absprichst, ihre Selbstbestimmung, ja quasi das Lebensrecht absprichst mit wichtig klingendem Geschwätz. Was bildest du dir ein, anderen vorzuschreiben, wie sie sich mit ihrer Sterblichkeit auseinandersetzen sollen?
Das ist zum kotzen und ich sammele lieber Material für die barrierefreie Seite der Barrikade.
@Haltestelle
Nein, das mache ich nicht. Dein Vorwurf ist falsch. Ich spreche kein Selbstbestimmungsrecht ab, im Gegenteil. Jede Selbstbestimmung ist damit konfrontiert, dass sie auf Kollisionskurs mit anderen den Selbstbestimmungen der anderen liegt. Als Anarchist:innen haben wir die Wahl, aus diesem Kollisionskurs einen Synergie-kurs zu machen, sprich: Statt das "Freiheiten begrenzen sich gegenseitig" der bürgerlichen gesellschaft zu reproduzieren, können wir es schaffen, dass unsere Freiheiten sich gegenseitig potenzieren und wir mehr werden als die Summe versprengter atomisierter Individuen. Ergo --> Wenn jetzt der moralisch aufgeladene und identitär verpackte Maßstab einer angeborenen oder erworbenen Immunschwächekrankheit als Maßstab politischer Interaktion gesetzt wird, wird im bürgerlichen Sprech meine Freiheit nicht nur von anderen Freiheiten begrenzt, sondern potentiell werden alle Freiheiten aller anderen für mich als tödlich wahrgenommen, woraus dann das Recht nach "Schutz" abgeleitet wird. Zu Gunsten von mir, zu Ungunsten aller anderen. Das hat nichts mehr Progressives an sich.
Was ich hier schreibe ist eine Relativierung, ein Ins-Verhältnis-setzen. Dass das nicht verstanden wird ist schade. Eine Relativierung heißt auch nicht das Gegenteil, sprich: Ich vertrete keine laizzes faire Position, habe ich auch nicht so geschrieben. Solidarisches aufeinander beziehen heißt explizit, dass nach Möglichkeit dafür gesorgt werden muss, dass die Menschen, welche es selbst nicht können, vor den Folgeschäden gesellschaftlicher Interaktion bewahrt werden sollen. Aber genau das heißt NICHT, dass der generelle Maßstab jeder Interaktion von den maximalen Ängsten jener bestimmt werden darf, für welche jede Interaktion mit anderen potentiell tödlich wäre. Gesamtgesellschaftliche Einsperrung ist nicht die Lösung.
Ich habe nicht geschrieben, wie die Auseinandersetzung mit der eigenen Sterblichkeit stattfinden soll. Aber DASS sie stattfinden soll, ist unabdingbar. Wir sind endlich, unsere Wirkmächtigkeit begrenzt. Unsere eigene Sterblichkeit anzunehmen heißt, die Unmöglichkeit des abstrakten Lebens anzuerkennen. Es geht immer nur um uns als Gewordene und Werdende. Die Möglichkeit der Utopie ist hier an die Bedingung des Realismus geknüpft, sprich: Ohne die eigene Endlichkeit zu aktzeptieren, führt mich der abstrakte Lebensschutz nur in das Lager der Reaktion, finden sich dort schließlich die Positionen des Transhumanismus, der schulmedizinische Zugriff auf Körper, die Position der Humangenetik, generell: Das Versprechen, dass der Mensch technisch seines "Leidens" enthoben werden kann. Grade die Krüppelbewegung hat hier schon vor Jahrzehnten den Zusammenhang von Herrschaft, (prä/post)faschistischer Hygienepolitik und "Behinderten"politik erkannt. Unter Covid19 verfallen leider viele mit ihrer Angst wieder in voraufklärerische Zeiten.
Das mit der barrierefreien Barrikade war unnötig polemisch, tut mir leid. Der Kern der Aussage leider nicht. "Da nur mit Gewalt diese tötende Welt zu ändern ist"... Transformation, an welche moralisch appeliert wird, ist immer nur Makulatur. Gesellschaftliche Veränderung wird nicht stattgegeben, sondern wird erkämpft werden müssen. Und der Gegenseite ist es verdammt scheißegal, ob ein mensch eine chronisch respiratorische Insuffizienz hat und 24/7 beatmet werden muss, dieser Mensch wird bei einer zivilen Räumung genauso das Pfefferspray in die Fresse bekommen (wie schon passiert). Der:die Soldatin tritt den Rollstuhl samt Fahrer:in einfach die Treppe runter, wenn der Befehl kommt. Barrierefreiheit ist schlicht kein Maßstab für radikale politische Auseinandersetzung, so traurig und scheiße, wie das nunmal ist. Und btw: Hongkong, Chile, Guatemala, Frankreich, Belorussia, Georg Flyod-USA, jetzt Tunesien, etcetcetc: hätten sich diese Aufstände den Maßstab der Barrierefreiheit genommen, würden sie nicht stattfinden. Sind sie also moralisch verwerflich?
Covid19 offenbart schon seid langem die Unfähigkeit deutschsprachiger Linker, sich selbst global in ein Verhältnis zu den weltweiten Ausständen zu stellen, und seien sie im Nachbarland Frankreich. Dass in diesem Zuge Forderungen nach Totaleinsperrung lautwerden ist befremdlich und es ist umso befremdlicher, dass sie von Menschen kommen, welche nicht sehen, dass politisches Handeln per se unmöglich wird, würde sich an ihnen generell orientiert.
Pest oder Corona?
Der Aufruf ZeroCovid hat in der linken Zivilgesellschaft eine Debatte über Grundrechte, Demokratie und globale Corona-Politiken eröffnet. Diese Debatte müssen wir fortsetzen – allerdings ohne falsche Vereinfachungen.
ZeroCovid hat in vielerlei Hinsicht recht: Es ist höchste Zeit, nicht nur Bildung, Kultur und Freizeit, sondern auch Fabriken, Büros und Baustellen bei Maßnahmen gegen die Pandemie stärker in den Blick zu nehmen. Gut auch, dass Menschen mit niedrigen Einkommen, in beengten Wohnverhältnissen, in einem gewalttätigen Umfeld, Obdachlose und Geflüchtete erwähnt werden sowie diejenigen, die besonders viel Betreuungs- und Sorgearbeit leisten. Auch dass die Privatisierungen im Gesundheitsbereich zurückgenommen und Impfstoffe global gerecht zugänglich gemacht werden müssen, sind unterstützenswerte Forderungen des Aufrufs.
Diese größtenteils sozialpolitischen Richtungsforderungen werden von ZeroCovid allerdings mit einem konkreten Appell zu »einem radikalen Strategiewechsel« in der europäischen Infektionsschutzpolitik verknüpft. Null Corona-Neuinfektionen sind das Ziel, das im Titel der Initiative und prominent direkt zu Beginn ausgegeben wird und zu dessen Erreichung das Beispiel anderer Regierungen empfohlen wird. »Das entschlossene Handeln etlicher Länder hat gezeigt, dass es möglich ist, die Verbreitung des Virus zu beenden«, wird behauptet, und zum Beleg dafür werden in der Debatte um den Aufruf häufig China, Neuseeland und Australien als Vorbilder herangezogen.
Der Preis dieser »Entschlossenheit«, ihre nationale Begrenzung sowie ihre Konsequenzen werden dabei nicht erwähnt, sondern mit einer zwar wünschenswerten, aber empirisch kaum haltbaren Behauptung überspielt: »Es gibt keinen Gegensatz zwischen Gesundheitsschutz und Pandemiebekämpfung einerseits und der Verteidigung demokratischer Rechte und des Rechtsstaats andererseits.«
Der Aufruf versucht so, zwei sehr unterschiedliche Ebenen miteinander zu fusionieren: Einen weitreichenden sozialpolitischen Forderungskatalog mit einer sofort zu realisierenden Infektionsschutz-Strategie, die sich an den erwähnten Vorbildern ausrichten soll. Die Verbindung dieser zwei Ebenen basiert auf der Grundthese des Aufrufs: dass der zentrale Konflikt in der Pandemie zwischen der »Wirtschaft« einerseits und einer staatlich durchzusetzenden »Gesundheit« andererseits bestehe und dass »etliche Länder« diesen Konflikt bereits konsequenter und erfolgreicher gelöst hätten als Deutschland und Europa.
Doch die behauptete Einheit von staatlichem Infektionsschutz, Gesundheit, Demokratie und sozialer Gerechtigkeit geht an der Realität der tatsächlich umgesetzten Corona-Politiken vorbei. Sie sind selbst dort, wo es eine relativ erfolgreiche Virus-Eindämmung gibt, von massiven Widersprüchen durchzogen, die bestehende Ungleichheiten eher verstärken, Ausschlüsse verdoppeln und Grundrechte beschränken. Die zentrale Forderung nach einem harten und baldigen Shutdown birgt daher die Gefahr, massive staatliche Durchgriffe zu stützen und zu idealisieren, ohne dass es zu den erhofften sozial- oder demokratiepolitischen Effekten kommt – sondern eher zu ihrem Gegenteil.
Der »Krieg« gegen das Virus: Gesundheitssicherheit und Kapitalismus
Eine florierende Wirtschaft und weitreichende Gesundheitsschutzmaßnahmen (im Sinne von Pandemiebekämpfung) müssen – anders als es der Aufruf nahelegt – keine Gegensätze sein. Rigide Lockdowns können sogar erfolgreiche Strategien kapitalistischer Stabilisierung sein: China mit seinen drastischen Maßnahmen zur Corona-Eindämmung hat beispielsweise als einzige Wirtschaftsnation der Welt 2020 Wachstum verzeichnen können. Und die viel zitierten Staaten Australien, Neuseeland, Vietnam, Südkorea und Japan haben sich vor wenigen Monaten mit China zur größten Freihandelszone der Welt zusammengeschlossen, während sie sich in der Eindämmung von Corona durch rigide Mobilitäts- und Migrationskontrolle auszeichnen.
Gerade am Beispiel Chinas und Wuhans zeigt sich jedoch die begrenzte Aussagekraft von Corona-Statistiken, wenn es um Gesundheit in einem weiteren Sinne geht. Die Luftverschmutzung in Wuhan ist beispielsweise im weltweiten Vergleich sehr hoch, wodurch die Wahrscheinlichkeit enorm steigt, in der Elf-Millionen-Metropole an Herz-Lungenkrankheiten zu sterben. Das ist keine Ausnahme: Das Gesundheitssystem im ganzen Land hinkt der Urbanisierung genauso hinterher wie auch die Hygienestandards, während allein während der Amtszeit von Xi Jinping die Anzahl der Überwachungskameras von etwa einer Million auf über 500 Millionen gestiegen ist. Dementsprechend sieht auch die Bekämpfung der Pandemie in China aus: Sie basiert auf massiven polizeilichen Maßnahmen des Infektionsschutzes und nicht auf einer fürsorglichen Gesundheitspolitik.
Auch in Deutschland und Europa bestimmt das Narrativ vom »Krieg« oder »Kampf« gegen Corona den politischen Diskurs und das staatliche Handeln seit dem Ausbruch der Covid-19-Pandemie im Januar letzten Jahres. Gesundheit wird darin zum Gegenstand von Infektionsschutz- und Sicherheitspolitik.
Der Aufruf setzt dem im Grunde nichts entgegen. Vor die Kritik gesellschaftlicher Verhältnisse drängt sich auch hier das Dispositiv der Gesundheitssicherheit, die von starken Regierungen herzustellen ist. Grenzschließungen, Mobilitätskontrollen, die Ausweitung polizeilicher Befugnisse und die Nationalisierung der Pandemie-Politik erscheinen dann auf einmal als Positivbeispiele der Gesundheitspolitik und die Einschränkung von Grundrechten als ihre unhintergehbare Bedingung. Anstatt auf Basis der vielen richtigen Forderungen den herrschenden Sicherheitsdiskurs zu kritisieren, versuchen die ZeroCovid-Initiator*innen, ihn mit linker Sozialpolitik zu fusionieren. Doch wenn sich neurechte Querdenker*innen in Deutschland gegen Infektionsschutzmaßnahmen auflehnen und damit zu Verteidiger*innen von Freiheit und Grundrechten stilisieren, während von Regierungen die nationale Gesundheitssicherheit mit polizeilichen Maßnahmen, der Anrufung zur »Selbstverantwortung« und mit verstärktem Grenzschutz durchgesetzt wird, ist eine linke Option gefordert, die beide Logiken zurückweist. Nur dann ist es möglich, Gesundheit und Demokratie nicht gegeneinander auszuspielen.
Natürlich wissen wir alle: Die Krise ist jetzt da, und es braucht jetzt Antworten auf das tägliche Sterben. Doch sie ist nicht vom Himmel gefallen und wird sich nicht mit nationalen Alleingängen beenden lassen. Es braucht globale Lösungen. Politische Antworten sollten sich daher auch mit den Ursachen der schwachen globalen Krisenreaktion beschäftigen. Dazu gehört nicht zuletzt die Unterfinanzierung der WHO. Ihre politische Marginalisierung durch parallel entstandene Public-Private-Partnerships, die Nicht-Einhaltung von Pandemieplänen, der allgemein desaströse Zustand der globalen Gesundheitspolitik und der nationalen Gesundheitssysteme: All das wurde jahrelang hingenommen, obwohl die drohenden Gefahren offensichtlich waren. Genau hier sollten Forderungen einer linken Gesundheitspolitik ansetzen, anstatt die Versicherheitlichung von Gesundheit einzufordern. Denn wenn wir denken, dass nur noch starke Staaten und polizeiliche Maßnahmen Schutz bieten können und nicht eine demokratische, präventive und global ausgerichtete Gesundheitspolitik, bereiten wir schon jetzt die nächste Krise mit vor.
Niemand bleibt auf der Strecke?
Die Welt ist nicht erst seit Corona krank. Jedes Jahr sterben tausende Menschen an den »großen drei« behandelbaren Krankheiten Tuberkulose, Malaria und HIV – im Corona-Jahr 2020 zusammengenommen sogar mehr als an Covid-19 –, um nur bei dem zu bleiben, was sich statistisch messen lässt. Viele andere Krankheiten, darunter Krebs, wurden nicht oder zu spät behandelt, weil die Gesundheitssysteme mit Covid-19-Patient*innen ausgelastet waren. Hinzu kommen die gesundheitlichen Folgen der Lockdowns. Sowohl die Pandemie selbst als auch die Maßnahmen zu ihrer Eindämmung treffen diejenigen mit den wenigsten Ressourcen am härtesten. Global betrachtet sind das ganz sicher keine vernachlässigbaren Kollateralschäden. Nicht ohne Grund spricht man mittlerweile vielerorts von der »Polypandemie«.
Deshalb würden wir gerne festhalten: Wer die Forderung nach »entschlossenem« Handeln nicht vollumfänglich unterstützt, muss kein*e Zyniker*in sein, die über Leichen geht. Wer einem harten Lockdown kritisch gegenüber steht, denkt womöglich nicht nur über die vom Robert-Koch-Institut veröffentlichten Todeszahlen nach, sondern auch über die ungezählten Toten, Verarmten und Vereinsamten, die Lockdowns diesseits und jenseits der europäischen Grenzen mit sich bringen und schon gebracht haben. Wer sich jahrelang gegen die Militarisierung von Grenzen und die Erfassung von Bewegungsdaten ausgesprochen hat, mag sich fragen, was unter den Bedingungen eines harten Lockdowns aus diesen Forderungen würde.
Skeptisch gegenüber einem harten Lockdown wie in Australien und Neuseeland macht auch, dass diese Länder nicht erst jetzt wegen ihrer gelungenen Pandemie-Eindämmung von Europas Regierungen gelobt werden, sondern schon lange auch wegen der sogenannten »pazifischen Lösung« im Umgang mit Boatpeople: einem extrem harten, Menschenrechte missachtenden Kurs der Abwehr und Internierung von Schutzsuchenden in Elendslagern auf weit entfernten Pazifikinseln, mit dem die Voraussetzungen und Techniken für rigide Grenzschließungen erprobt wurden.
In beiden Inselstaaten zahlten Menschen ohne australischen bzw. neuseeländischen Pass einen höheren Preis für den Lockdown als andere und bekamen – mit zum Teil dramatischen Konsequenzen – deutlich zu spüren, dass sie nicht länger erwünscht waren. Und nicht nur Down Under war das so. Kurz nachdem die indische Regierung am 24. März 2020 für 21 Tage einen landesweiten Lockdown verhängt hatte, der auch Fabrikhallen, Baustellen und Transportmittel betraf, schrieb Arundaty Roy (übersetzt aus dem Englischen von R.L.): »Die Abriegelung wirkte wie ein chemisches Experiment, das plötzlich verborgene Dinge ans Licht brachte. Als Geschäfte, Restaurants, Fabriken und die Bauindustrie schlossen, als die Wohlhabenden und die Mittelschicht sich in Gated Colonies zurückzogen, begannen unsere Städte und Megastädte ihre Arbeiter*innenschaft – ihre Wanderarbeiter*innen – wie einen unerwünschten Haufen auszustoßen. Viele, die von ihren Arbeitgeber*innen und Vermieter*innen vertrieben worden waren, Millionen von verarmten, hungrigen, durstigen Menschen, junge und alte, Männer, Frauen, Kinder, Kranke, Blinde, Behinderte, die nirgendwo anders hin konnten, begannen einen langen Marsch nach Hause in ihre Dörfer. Öffentliche Verkehrsmittel standen ihnen nicht zur Verfügung. So liefen sie tagelang. Einige starben auf dem Weg.«
Ähnliche Berichte kommen auch aus anderen Regionen der Welt: Im Libanon wurden die migrantischen Hausangestellten auf die Straße gesetzt und konnten nicht ausreisen, während die Gesundheitspolitik gleichzeitig brutal militarisiert wird. In Marokko fürchteten Migrant*innen ohne legalen Aufenthaltsstatus, infolge der Ausgangssperre in ihren Unterkünften zu verhungern. Im Niger wurden unliebsame Menschenrechtsaktivist*innen unter dem Vorwand inhaftiert, sich nicht an Corona-Regeln gehalten zu halten. Gleichzeitig saßen tausende Flüchtlinge und Migrant*innen unter extremsten Bedingungen fest, weil sie weder ihre Reise fortsetzen noch in ihre Herkunftsländer zurückkehren konnten. Und wie immer, wenn sichere und legale Wege verschlossen sind, begeben sich Menschen auf gefährliche und illegale Routen, auf denen viele von ihnen ihr Leben lassen. Das ist auch dann nicht anders, wenn der Grund für die Grenzschließung die Eindämmung einer Pandemie ist und sie von der EU beschlossen wird.
ZeroCovid möchte, dass in Deutschland niemand mehr an Corona sterben muss. Da der geforderte Shutdown angesichts der Pandemieentwicklung jedoch im Grunde sofort verhängt werden müsste, ist es eher unwahrscheinlich, dass die sozialpolitischen Forderungen der Initiative gleich mit verwirklicht würden. Man müsste also Abstriche machen und sich eingestehen, dass nationaler Infektionsschutz nicht automatisch globale Gerechtigkeit schafft. Dabei kann man zu dem Schluss kommen, einiges – auch Vereinsamung, Verarmung und Sterben aus anderen Gründen – sind im Zuge eines weitgehenden Shutdown in Kauf zu nehmen, wenn dafür bald Vielen wieder ein gutes Leben ermöglicht werden kann.
Wir denken: Ein Gegenentwurf zum weltweiten Corona-Management sollte in der Lage sein, über diese gefährliche Kosten-Nutzen-Abwägung hinaus politische Alternativen aufzuzeigen. Er muss so aussehen, dass Menschenrechte, Demokratie und Gesundheit auch in Krisensituationen nicht gegeneinander ausgespielt werden. Sonst verlieren am Ende wieder die, die immer verlieren.