Vorläufige Thesen zum Ausnahmezustand

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1. Vieles von dem, was in diesen Tagen verordnet wird, besitzt rationale Elemente. Um die Ausbreitung des Corona-Virus zu verlangsamen, machen gewisse Einschränkungen des öffentlichen Lebens Sinn. (Unabhängig von der Frage, wieweit nicht eher ein Fokus auf die Abschirmung von Risiko-Gruppen gelegt werden sollte.) In einer idealen (Welt-)Gesellschaft würde dies durch die rationale Einsicht mündiger Individuen geschehen. In der bestehenden schlechten Gesellschaftsordnung tritt der Staat an diese Stelle und verordnet entsprechende Maßnahmen. Eine Kritik an ihnen läuft daher Gefahr, sich in persönlicher Empörung oder irrationalem Geraune zu verlieren, bleibt aber dennoch die Aufgabe einer linken Bewegung.

 

2. In einem seit mindestens vier Jahrzehnten beispiellosen Tempo werden in diesen Tagen Grundrechte beschnitten und öffentliche Räume begrenzt. Es zeigt sich, wie fragil jener historische Prozess ist, der den potentiell immer machtvolleren modernen Staat zunehmend als Garanten individueller Freiheitsrechte in die Pflicht nimmt. Ist die Integrität seiner Bevölkerung, die Volkswirtschaft oder die Staatlichkeit selbst bedroht (und alles drei greift schnell ineinander), regiert der Ausnahmezustand und alle die staatliche Machtfülle begrenzenden Freiheitsrechte sind mit einem Federstreich auszuhebeln. In der aktuellen Aussetzung von Bewegungsfreiheit, Versammlungsfreiheit, Religionsausübung etc entlarvt sich der Staat als in letzter Instanz autoritär – wird dabei aber von seiner Bevölkerung als Stimme der Vernunft und Beschützer erlebt.

 

 

 

3. Von den teilweise vernünftigen Zielsetzungen dieser Maßnahmen abgesehen, ist ein weiterer Grund für die grassierende Obrigkeitsgläubigkeit das allerorten beschworene Wir-Gefühl. Es entsteht das Bild der deutschen Bevölkerung als ein gleichermaßen betroffenes Kollektiv, dass die selben Interessen verfolgt, sich schützend vor seine Schwachen stellt und dabei von seinem Staat angeleitet wird. Eine solche Gemeinschaftsfiktion ist immer bedrohlich, sie ist aber auch schlicht falsch. Wenn in Berlin die Tafeln geschlossen werden trifft das einige sehr hart und andere nicht. Die Situation von solchen Lohnabhängigen, die sich selbst als Angehörige von Risiko-Gruppen allmorgendlich in Bus und Bahnen zwängen müssen, ist anders als die Doppelbelastung jener, die Home Office und Kinderbetreuung verbinden sollen und unterscheidet sie von den Besserverdienenden, die eine private Kinderbetreuung zahlen können. Diese unterschiedlichen Perspektiven und Betroffenheiten von staatlichen Maßnahmen kommen momentan sowohl im institutionalisierten Politikbetrieb als auch im Großteil der Massenmedien nicht vor.

 

 

 

4. Und hier liegt ein weiterer Grund für die positive Wahrnehmung der staatlichen Verordnungen: In der deutschen Presse indet Dissens fast nicht mehr statt, herrscht nahezu völlig Einigkeit in der Beschreibung des Problems und der vermeintlich richtigen Lösungen. (Einige wenige, schon eher linksradikalen Medien mal ausgenommen.) Dies erinnert ein wenig an die Stimmungsmache mit der seinerzeit die Austeritäts-Maßnahmen gegen Griechenland hierzulande befeuert wurden, geht aber über die damalige Homogenisierung der öffentlichen Meinung noch hinaus. Von den Verfechtern der bürgerlichen Demokratie, die gerne betonen, dass jedem Eingriff in Grundrechte eine Güterabwägung und öffentliche Diskussion der Angemessenheit vorausgehen muss, ist momentan nichts zu hören. Wenn es darum geht, staatliche Handlungsfähigkeit zu demonstrieren, "gibt es keine Parteien mehr sondern nur noch Deutsche", wie die ganz große Koalition von Linkspartei bis AfD bei der Annahme des Gesetzes zur Kurzarbeit in Rekordtempo gezeigt hat. Mit den in diesen Tagen erlassenen wirtschaftlichen Sofortmaßnahmen dürften bereits erste Weichen gestellt werden, wie die Kosten der Krise verteilt werden sollen – ohne störende Debatten.

 

 

 

5. Die Beseitigung von Freiheitsrechten, die Beschwörung eines nationalen "Wir" und die Homogenisierung der öffentlichen Debatte – all das sind Elemente einer faschistischen Formierung der Gesellschaft. Es macht aber keinen Sinn, die Entwicklung der letzten Tage als faschistisch zu beschreiben (unter anderem fehlt eine faschistische Bewegung die sie trägt und vorantreibt). Dennoch demonstriert die akutelle Entwicklung, wie schwach die gesellschaftlichen Kräfte sind, die eine faschistische Entwicklung im Ernstfall im Schach halten würden. Die gegenwärtige Ergebenheit in den Ausnahmezustand mag auch mit rationaler Einsicht in die Notwendigkeit gewisser Einschränkungen zusammenhängen, zwei andere Momente dürften aber weit bedeutsamer sein: Zum einen das Auftreten von Expert*innen, die die Notwendigkeit der ergriffenen Maßnahmen unterstreichen und die Maßnahmen selbst – frei nach dem Motto, wenn der Staat einen solch hohen Aufwand betreibt, muss es sich um ein ernstes Problem handeln. Beides wäre auch zu haben, wenn der Anlass nicht rational sondern in hohem Maße inhuman wäre. Und schließlich herrscht momentan das perfekte Klima für Tabubrüche. Sei es der Einsatz der Bundeswehr im Inneren oder bei weiter andauernder Eskalation vielleicht sogar die erstmalige Anwendung der Notstandsgesetze. Grundsätzlich gilt: Alles was jetzt schon einmal stattfindet, ist in der nächsten Ausnahmesituation mit deutlich geringeren politischen Kosten zu haben.

 

 

 

6. Es ist davon auszugehen, dass der gegenwärtige Ausnahmezustand mit Bezug auf den Corona-Virus ein paar Wochen oder auch einige Monate andauern wird. Er ist zugleich die erste Phase einer globalen Verwertungskrise des Kapitalismus, die vermutlich mehrere Jahre andauern und die vorherige Krise (Lehmann-Brothers, Euro-Krise...) an Schwere übertreffen wird. Dies liegt teils an den durch Virus und Quarantäne global unterbrochenen physischen Wertschöpfungsketten, in hohen Maße aber auch am Platzen der an den Finanzmärkten entstandenen Spekulationsblasen, die nach der unzureichenden Überwindung der letzten Krise unweigerlich entstehen mussten. Gerade für eine antikapitalistische Linke könnte es sich als fatal erweisen, dass der Auftakt einer neuen Krise mit der Verhängung des politischen Ausnahmezustands zusammen fällt. Erinnert sei an die Klimaverhandlungen Ende 2015 in Paris: Damals wurden Proteste größten Teils verhindert – auf Basis von Notstandsgesetzen, die aufgrund eines islamistischen Terroranschlages erlassen worden waren. Es besteht die Gefahr, dass sich dieses Muster in diversen Staaten, auch in Deutschland, wiederholt. Helfen könnte eine wachsame Linke, die rechtzeitig mit gesellschaftlichen Interventionen beginnt.

 

 

 

7. Hier als Einzelperson eine umfassende Agenda für die radikale Linke aufzustellen wäre vermessen, dennoch lassen sich einige Punkte benennen: Es ist gerade in Zeiten von Versammlungsverboten, Absagen von Kongressen und der Schließung von Veranstaltungsorten sehr wichtig, eine linke Debatte fortzuführen, eine Kritik des Ausnahmezustands zu erarbeiten und in die Öffentlichkeit zu tragen. Auch über eine emanzipatorische, antikapitalistische Strategie in der heraufziehenden Krise sollte schon jetzt nachgedacht werden. In dem Maße, wie Mobilisierungen wegen dem Versammlungsverbot entfallen (etwa die große Mietendemo in Berlin), sollte über alternative (und nicht nur digitale!) Aktionsformen nachgedacht werden. Es scheint vernünftig, hierbei für ein paar Wochen auf große Versammlungen zu verzichten und mit verschiedensten Kleingruppenaktionen politische Statements zu setzen. Von allerhöchster Dringlichkeit ist nun aber die Forderung, die Geflüchteten-Lager auf den griechischen Inseln zu schließen und den Menschen dort den Zugang in die europäischen Kernländer zu ermöglichen. Mit jeder Stunde, in der dort weiterhin große Gruppen geschwächter Menschen unter hygienisch katastrophalen Zuständen zusammengepfercht werden, steigt die Gefahr eines Seuchenausbruchs von albtraumhaften Dimensionen.

 

 

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Ergänzungen

Hier gibt einen weiteren Beitrag und Ergänzungen auf Indymedia Deutschland über die aktuellen Beschränkungen, insb am Beispiel Italien: https://de.indymedia.org/node/71886

Danke für diesen Text.

Der Zeitpunkt, gegen den Ausnahmezustand einzugreifen, ist im Stadtstaat Hamburg bereits eingetreten. Politische Versammlungen unter freiem Himmel wurden per Allgemeinverfügung untersagt - unabhängig von Teilnehmerzahl oder Charakter der Veranstaltung. Dies hat gestern schon bereits geplante Kundegebungen vor den Gerichtssälen getroffen - die Verhandlungen im Gerichtssaal fanden natürlich statt! - oder das als Dauerkundgebung angemeldete "Lampedusa in Hamburg"-Zelt am Hauptbahnhof. Bei diesen Kundgebungen handelte es sich um Versammlungen mit 10 - 20 Leuten unter freiem Himmel, wo eine Wahrung des gegebenen Abstands problemlos möglich wäre! Das Recht auf Versammlungsfreiheit wird hier bei einer Infektionszahl von <200 Leuten (Stand Sonntag Abend als die Allgemeinverfügung erlassen wurde) als nicht unbedingt wichtig für das öffentliche Leben eingestuft. Hier zeigt sich bereits, wie die aktuelle Situation ein Einfallstor für autoritäre Politiken darstellt. Angesichts dieser Situation ist es unverständlich, dass sich der Begriff der "Solidarität" auch in der (radikalen) Linken auf Einkaufstüten tragen und zuhause bleiben, also nichtstun beschränkt. Natürlich haben wir eine Verantwortung, die Ausbreitung des Virus zu verlangsamen - der erste Schritt wäre hier, sich verdammt nochmal krankschreiben zu lassen bei der Lohnarbeit und nicht jeden Tag ins Großraumbüro, in die Werkhalle oder auf den Bau zu fahren. Die gewonnen Zeit können wir dann nutzen um dafür zu kämpfen, dass Grundrechte nicht einfach wahllos beschnitten werden, nur weil gerade alle den Kopf verlieren.

danke für diese dringende Analyse. ich wollte anbieten diesen Text ins Englische zu übersetzen, um ihn weiter verbreiten zu können.

Einerseits: Ja, wir müssen wachsam bleiben. Jetzt, und später, nach der "Corona-Krise" erst recht. Andererseits zählt bei sich schnell ausbreitenden Infektionskrankheiten jeder Tag und jede Stunde - 

"Von den Verfechtern der bürgerlichen Demokratie, die gerne betonen, dass jedem Eingriff in Grundrechte eine Güterabwägung und öffentliche Diskussion der Angemessenheit vorausgehen muss, ist momentan nichts zu hören." - und während öffentlich diskutiert und abgewogen wird, stecken sich nicht hunderte, sondern tausende Menschen an. Das schnelle Handeln des Staates auf Faschismus zurückzuführen, greift m.E. deutlich zu kurz. 

Es wird höchste Zeit, dass über die geschürte Krisenstimmung und die Verantwortlichkeiten diskutiert und sich kritisch geäußert wird. Schon deshalb: Danke nach Berlin! Die radikale Linke - so sie sich äußert - scheint völlig unkritisch auf staatliche Vorgaben einzuschwenken: Mit sehr dürftigen Erklärungen wurden in vorauseilendem Gehorsam noch vor Erlass der Allgemeinverfügung Demos, Veranstaltungen usw. abgesagt. Die Zettel am Infoladen bieten nachbarschaftliches Einkaufen für oder tägliche Anrufe bei Zwangsisolierten usw. an, aber keine Einladung zur Diskussionsrunde. Am meisten nervt hier die Entmündigung: Ich kann selbst entscheiden, ob ich mich irgendwelchen Bazillen und Viren aussetzen möchte. Und das sogar, obwohl ich schon 60 & Raucher bin. Um es nochmal ganz deutlich zu machen: ich brauche keine 30-Jährigen, die mir erklären, dass ich geschützt werden muss, danke schön! Alle, die es wollen, sollten auch die Möglichkeit haben, sich zusammen und auseinander zu setzen. Neben den schon erwähnten Themen (weitere Institutionalisierung des Repressionsstaates) geht es z. B. darum, die Globalisierungsdebatte neu zu führen, aber auch schon heute zu überlegen, ob und wie mit den psychologischen Auswirkungen z. B. für die eingesperrten Kids & Jugendliche  umzugehen sein wird. 

Vielen Dank für diesen Text. Ich möchte kurz auf einige unter (5) aufgestellte Thesen eingehen und dabei eine andere Perspektive skizzieren.

 

1. "Die Beseitigung von Freiheitsrechten, die Beschwörung eines nationalen "Wir" und die Homogenisierung der öffentlichen Debatte – all das sind Elemente einer faschistischen Formierung der Gesellschaft. Es macht aber keinen Sinn, die Entwicklung der letzten Tage als faschistisch zu beschreiben"

 

Tatsächlich würde ich zustimmen, das macht keinen Sinn. Allerdings mit einem anderen Argument als das, was folgt: Es ist schlicht viel zu früh auf die historisch neue Situation solche Großkategorien anzuwenden. Was der Charakter der momentan sich umformierenden Gesellschaft ist, ist schlicht im Moment offen. Die Praxis ist voller Widersprüche. Einerseits werden rationale Maßnahmen nicht eingehalten, andererseits bilden sich flächendeckend große Solidaritätskomitees. Linke Theorie leidet seit langem darunter, dass sie tendenziell paranoid ist. Damit übersieht sie mögliche Handlungs- und Interventionsmöglichkeiten. Diese paranoide Tendenz linker Theorie könnte sich ungünstig mit ohnehin schon paranoiden gesellschaftlichen, pandemischen Tendenzen verknüpfen. Eine Alternative skizziert folgender Text: https://www.versobooks.com/blogs/4597-paranoia-and-the-coronavirus-how-e....

 

 

2. "Dennoch demonstriert die akutelle Entwicklung, wie schwach die gesellschaftlichen Kräfte sind, die eine faschistische Entwicklung im Ernstfall im Schach halten würden. Die gegenwärtige Ergebenheit in den Ausnahmezustand mag auch mit rationaler Einsicht in die Notwendigkeit gewisser Einschränkungen zusammenhängen, zwei andere Momente dürften aber weit bedeutsamer sein"

 

Warum? Wie belegst Du das? Ich erlebe eine weitgehend sich informierende Öffentlichkeit. Popstar der Stunde ist dieser NDR-Virologe Drosten, der nüchtern aufklärt. Mir scheint es sinniger, hier analytisch von einer Art technokratischer Herrschaft zu sprechen, die sich in einem nationalen Rahmen organisiert, um ihre Souvernätit zu behaupten. Du eröffnest deinen Artikel ja damit darauf hinzuweisen, dass einige Maßnahmen (und, wie es mir scheint: die allermeisten, irrational ist eher, was nicht passiert: weitlegende Arbeitspause) durchaus rational sind. Das wirft für mich die Frage auf, ob es der richtige Rahmen einer Analyse sein kann,  (allein) nach dem Ausnahmezustand zu fragen. Oder ob hier nicht eher gilt (http://criticallegalthinking.com/2020/03/14/against-agamben-is-a-democra...):

One might say that contra Agamben, ‘naked life’ would be closer to the pensioner on a waiting list for a respirator or an ICU bed, because of a collapsed health system, than the intellectual having to do with the practicalities of quarantine measures. In light of the above I would like to suggest a different return to Foucault. I think that sometimes we forget that Foucault had a highly relational conception of power practices. In this sense, it is legitimate to pose a question whether a democratic or even communist biopolitics is possible. To put this question in a different way: Is it possible to have collective practices that actually help the health of populations, including large-scale behaviour modifications, without a parallel expansion of forms of coercion and surveillance?

 

 

3. "Grundsätzlich gilt: Alles was jetzt schon einmal stattfindet, ist in der nächsten Ausnahmesituation mit deutlich geringeren politischen Kosten zu haben."

 

So richtg das ist, verspielt diese Perspektive auf ein Danach doch die Möglichkeit, das Jetzt richtig zu verstehen und einzuordnen. Dazu ist eine eindimensionale Einordnung des jetzigen Zustands als "Ausnahmezustand" nur teilweise hilfreich. Besser wäre es, von der realen Widersprüchlichkeit auszugehen und sich den in dieser historischen Situation, das heißt einer solchen, in der "Gesellschaft" als formbar erfahren wird, in der soziale Beziehungen weniger als verdinglicht sichtbar werden als als flüssig, stellenden Fragen zu stellen. In diese Richtung weisen m.E. etwa die "pandemic demands" von Plan C (https://www.weareplanc.org/blog/pandemic-demands-and-mutual-aid/).

 

 

 

4. Andere Perspektiven

 

Es gibt durchaus Hinweise in den letzten Jahren, dass ausgehend von der Verletzlichkeit der Körper die praktische Begründung eines neuen Gemeinsamen möglich ist, etwas, das die etwas hohl gewordene (wiewohl analytisch ohne Frage wichtige) Kategorie der Klasse beerben könnte. Das haben zum Beispiel die (im Vergleich zu sonst ziemlich jedem linken Praxisfeld) erfolgreichen feministischen Kämpfe gezeigt.  Das bestärkt meine Perspektive, dass Konzentrationen auf so etwas wie "mutual aid" mehr als üblicher linker Selbstorganisationsfetisch sein könnte.

wo sieht sich der Autor denn selbst wenn er kritisiert das alle Parteien von Linkspartei bis AfD die Maßnahmen in seltener Einigkeit befürworten?