Wie wollen wir uns entscheiden?

Ein Appell zur Diskussion über die Wege der Entscheidungungsfindung. Seit einiger Zeit findet in der radikalen Linken eine Diskussion über neue Wege der Organisierung und eine Debatte über das Thema "neue Klassenpolitik" statt. Es lohnt sich dabei einen Blick auf Art und Formen der Organisierung und Bewegungen zu werfen.

 

Seit wenigen Jahren reift innerhalb der radikalen Linken die Erkenntnis, dass es neue Wege der Organisierung innerhalb der Gesellschaft geben muss. Dies wurde flankiert von Debatten rund um das Thema "neue Klassenpolitik" und der Frage ob die Linke die Verbindung zu den ArbeiterInnen verloren hat. Gleichzeitig lösten sich in den letzten Jahren tragende klandestine Gruppen aus verschiedensten Gründen auf. Gruppen, die sich seit Jahren auf das Konsens- und Vetoprinzip, sowie dem Konzept der militanten Politik stützen, widmen sich mehr und mehr der Stadtteilarbeit, Gewerkschaftsstrukturen, rätekommunistischen oder kommunalen basisdemokratischen Organisierungen. Ich bin seit 16 Jahren organisiert und in mir reift die Erkenntnis das es starke Unsicherheiten in Bezug auf die Form der Organisierung, bezüglich der Öffnung zu breiteren Kreisen der Gesellschaft und der Entscheidungsfindung dabei und dahin, gibt. Es gibt eine starke Fokussierung auf das Konsensprinzip. Ob wohl es Vielen klar ist, das diese Form des Diskutierens und Entscheidens bei einen Personenkreis von über 30 Leuten Zeit und Nerven kostet.

 

Wir können, wenn wir die eigene linke Geschichte betrachten auf einen unglaublichen Erfahrungsschatz bezüglich dieser Thematik zurück greifen. Anlässlich des Themenschwerpunkts dieses Heftes möchte ich den Blick auf die Entscheidungsfindungen und Versuche der gesellschaftlichen Organisierung auf die linke DDR-Opposition richten. Ihre Ideen und Hoffnungen für eine Transformation des poststalinistischen SED-Systems im Herbst 1989, hin zu einem wirklichen und wahrhaftigen Sozialismus und einem eigenständigen und freiheitlichen dritten Weg zur Demokratie, scheiterten an einen gesammtgesellschaftlichen politischen Aufbruch an dessen Ende die propagierte, mehrheitlich gewollte und vollzogene Transformation in das kapitalistische System der BRD stand und mit der so genannten Widervereinigung mit der BRD am 3.Oktober 1990 fußte. Der so genannte linke Flügel der DDR- Opposition spielte hier nur eine marginale und gesammtgesellschaftlich irrelevante Rolle.

Trotz allem soll die Frage gestellt werden, wie die Oppositionellen Gruppen der DDR und im besonderen der linke Flügel in ihrer Vielschichtigkeit organisiert waren und wie sie funktionierte.

Die linke DDR-Opposition war eine vielfältige Assoziation von kleinen Gruppen mit Themen wie Frieden, Ökologie, Frauen, Antifaschismus, Betriebsräte usw.. Sie einte das Ziel der Überwindung des SED-Regimes und der Transformation des Sozialismus. Diese Zirkel waren lose vernetzt, informell, oder programmatisch; so zum Beispiel die Böhlener Plattform. Dieses, von einigen Marxistinnen innerhalb der DDR-Opposition entwickelte Grundsatzpapier1 legte den inhaltliche Grundstein zur Gründung einer Initiative für eine Vereinigte Linke (IVL) im Herbst/Winter 1989, die sich anlässlich der letzten Volkskammerwahl am 18. März 1990 mit der Gruppe „Die Nelken“ zum Wahlbündnis Vereinigte Linke (VL) zusammenschloss. Ab hier wurde der Name VL gewohnheitsmäßig auch für die politische Organisation übernommen. Genau wie die meisten anderen, ab Sommer/ Herbst 1989 neu gegründeten Organisationen/ Parteien der DDR-Oppositionsbewegung beteiligte sich auch die IVL/ VL an allenparlamentarischen, gesellschaftlichen und transformatorischen Prozessen in der DDR zwischen Oktober 1989 und Oktober 1990, seien es Runde Tische, Wahlen (später auch als freie Kandidaten für PDS und neues Forum) bis hin zum Fehler einer kurzfristigen Beteiligung in der Regierung Modrow, als „Minister ohne Geschäftsbereich“. Im Nachhinein muss man aber feststellen das das Engagement der AktivistInnen der IVL/VL und die Beteiligung an den scheinbar demokratischen Prozessen der so genannten „Wende/Nachwende“, ohne die von Ihnen angestrebten Ziele und der Idee eines reformierten, freien und demokratischen Sozialismus in der DDR keine Wiederhall fand und spätestens nach der Wahl zur letzten Volkskammer am 18. März 1990 als gescheitert angesehen werden muss.

Innerhalb der VL gab es Gruppen die rätedemokratische Strukturen forderten: "Organisatorisch halten wir sowohl die Vollversammlung als auch ein Räte-System mit Rotationsprinzip der Gewählten für geeignet, die Interessen aller Arbeitenden zu wahren"2.

Dieses Papier mit dem eben zitierten Satz wurde von der "13. Autonomen Gruppe" in den Gründungs-Kongress der IVL am 25./26.11.1989 eingebracht und auch diskutiert. Auf dem Abschlussplenum wurde die Idee einer Rätedemokratie grundsätzlich wohlwollend aufgenommen und befürwortet. Letztendlich war dort aber eine Mehrheit der Meinung, dass das realpolitisch in den gegebenen Umständen und Entwicklungen in der DDR, illusorisch und nicht umsetzbar sei. Ein beharren darauf wurde als sektiererisch abgekanzelt:
"Wir halten es für eine gefährliche Illusion, bei den in unserem Lande gegenwärtig bestehenden politischen, sozialen und vor allen auch historischen Bedingungen und Voraussetzungen davon auszugehen, man könne jetzt zur Installation einer "reinen" Rätemacht übergehen.
Wir haben zur Kenntnis zu nehmen, dass bestimmt durch die konkreten Bedingungen der Entwicklung diesen Landen sowie durch das politische Kräfteverhältnis, die Hauptform der sich entwickelnden Demokratie der Parlamentarismus sein wird. Wer nicht bereit ist diese politische Tatsache anzuerkennen, verurteilt sich, selbst letztlich zum politischen Sektierertum“3.

Stattdessen priorisierte man die Teilnahme am bürgerlichen Wahl- und Parteienprinzip und beteiligte sich, ohne Aussicht auf Erfolg an der Volkskammerwahl am 18. März 1990, mit dem bekannten und noch schlimmer als erwarteten Desaster für das Wahlbündnis der VL (0,3%).

Wie war die VL organisiert?

Über die Entscheidungsfindung innerhalb der autonomen und antifaschistischen Gruppen Berlins habe ich mit einem Redakteur des telegraphs gesprochen. Im Prinzip wurde das Konsensprinzip angewendet, ohne Vorstand oder Vorsitzende. Die Gefahr das sich irgendwelche "Gurus" durchsetzen, oder mehr Macht entwickeln durch größeren Arbeitseifer oder umfassenden Redeverhalten gab es auch damals. Wichtig waren die Vollversammlungen, bei denen in offenen Diskussionen nach dem Konsens gesucht wurde. Kamen die Versammlungen zu keinem Ergebnis wurde öffentlich, per Handzeichen abgestimmt. Veto's mussten immer ausführlich begründet werden. Es wurde diskutiert, was ein Vetoprinzip bedeutet, wann es eingesetzt wird und wie es zu begründen ist. In den Gruppen durfte es nur bei plausibler Begründung verwendet werden. Man hatte die Mitmenschen mit zu nehmen.

Aus den Gesprächen mit weiteren Oppositionellen weiß ich, dass es vielfältige Versuche gab weitere Modelle auszuprobieren. Bis hin zu Volksversammlungen im Lustgarten Berlin ähnlich dem Prinzip der Speakers Corner.

Letztendlich hat es die linke Opposition geschaft mehrere Programmatiken zu entwickeln. Wie zum Beispiel die bereits oben erwähnte Böhlener Plattform, die aus einem Treffen von rund 400 Menschen aus einem kleinen Kreis der linken Oppositionellen in Berlin hervor ging. In den Vollversammlungen wurde sich viel Zeit für Diskussionen genommen, um sich gegenseitig zu überzeugen aber auch zu widersprechen und bei nicht weiter Abstimmungen vorzunehmen. Es bestand der Anspruch mit verschiedensten Menschen unterschiedlichster Auffassung Ideen zu entwickeln, wie es mit der DDR weiter gehen sollte, egal ob ChristInnen, AnarchistInnen, ReformkommunistInnen, TrotzkistInnen, MarxistInnen, linke ReformerInnen, RätekommunistInnen, Eine-Welt-Gruppen, UmweltschützInnen usw. usf..

Wichtig zur Einordnung der IVL/VL ist zu erwähnen das sie nur einen kleinen Teil der DDR-Opposition darstellte. Organisationen wie das neue Forum hatten weitaus mehr Mitglieder (100000).

Wir können noch weiter zurück in die linksradikale Geschichte gehen und Entscheidungsprozesse in revolutionären Umbrüchen betrachten: beispielweise während der spanischen Revolution oder zu Zeiten der Gründung der bayrischen Räterepubik.

Wie funktionierte die Entscheidungsfindung in den emanzipatorischen Gruppierungen während der spanischen Revolution?4

Basis der spanischen Revolution waren die im 19. Jahrhundert gegründeten Regionalföderationen, welche von 150 Gruppen in 36 Orten gegründet wurden. Diese basierten auf einem Deligiertenprinzip mit dem Ziel: Anarchie und Kollektivierungen in der Wirtschaft. Bereits 1872 umfasste die Internationale Arbeiterassoziation 361 Einzelgewerkschaften in 149 Lokalföderationen. Orte der politischen Organisierung und Bildung waren innerhalb der Föderationen ArbeiterInnenzirkel, Kulturzentren ("Ateneos"), sowie BauerInnenassoziationen. Bekannteste Gewerkschaften waren die 1910 gegründete CNT ("Confederacion Nacional del Trabajo") und die 1927 von AnarchistInnen aus Furcht, die CNT ginge einen reformistischen Weg, gegründete FAI ("Federacion Anarchista Iberica").

Orte und Strukturen der Entscheidungsfindungen

Bedeutend für den Weg der CNT war 1936 das Nationalplenum in Zaragoza. Die CNT hatte da bereits 2 Millionen Mitglieder. Dort setzte sich die Entscheidung für den anarchistischen Weg zum freiheitlichen Kommunismus mehrheitlich durch.

Motor für die soziale Revolution sollte die Ersetzung des Heeres durch Milizen und die Föderationen von neu gegründeten Industrie- und Landwirtschaftkollektiven, sein.

Landwirtschaftskollektive entschieden bspw. jeden morgen im von den BauerInnen gewählten Dorfkommitee welche Arbeiten zu verrichten seien, welches Gerät benötigt wurde, wie Waren verteilt wurden und wer mit Coupons entlohnt wurde usw..

Die Industriekollektive waren in Syndikate eingeteilt, welche nach Produktionszweigen aufgeteilt und örtlich zusammengefasst in den Lokalföderationen waren. Diese waren autonom und die Sektionen, Berufe und Betriebe in Selbstverwaltung. Deligierte der Gewerkschaften jeder Ortschaft trafen sich zwei Mal im Monat um in Abteilungen (Betrieb, Handel, Elektrizität, Buchführung und Finanzen, Beförderung, Versorgung, Gesundheitsdienste, Gleise und Anlagen, Rechtsabteilung, Kontrolle und Statistiken) zu planen und entscheiden.

Während des spanischen Bürgerkriegs fand eine schleichende Hierarchisierung und Selbstzerstörung der revolutionären Gerwerkschaftstrukturen statt. Durch Bürokratisierung, Hunger nach Machtposten in der gebildeten Volksfrontregierung, sowie Kriegszwänge- und Niederlagen verlor die Basis in den Kollektiven und Syndikaten die Kontrolle über die Politik.

Eine Errungenschaft der spanischen Revolution bleibt das Aufzeigen der Möglichkeit von Landkollektivierung und das Führen von Betrieben in Selbstverwaltung. Über 11000 Betriebe wurden in Selbstverwaltung kollektiviert. Das gesamte Wirtschaftsleben wurde koordiniert mit dem Ziel der vollen Vergesellschaftung. In Kommitees, Versammlungen und Kulturzentren entschieden die Menschen selber über ihre Belange.

Organisieren und Entscheiden in der Bayrischen/ Münchner Räterepublik5

Ein weiterer beachtlicher Entwurf abseits vom Konsensprinzip war der Versuch eine sozialistische Republik nach rätedemokratischen Vorbild in Bayern aufzubauen. Im November 1918 ensteht die Münchner, bzw. Bayrische Räterepublik. Ab 1916 kommt es zu Hungerdemonstrationen und gewalttätigen Ausschreitungen im gesamten deutschen Kaiserreich. Bis 1918 schaffen es KriegsgegnerInnen den Zorn auf den Obrigkeitsstaat zu lenken und die Massen zum Streik und zu Massenversammlungen zu bewegen, an denen Hunderttausende ArbeiterInnen teilnahmen. Der Streik wird von Polizei und Militär niedergeschlagen: die revolutionären Strukturen der Selbstorganisation bleiben aber: revolutionäre Obleute und erste ArbeiterInnenräte. Die nächste Stufe der Selbstorganisation wird erreicht, als sich SoldatInnen den RevolutionärInnen anschließen, so dass eine Friedensdemonstration am 7. November 1918 nicht niergeschlagen wird, sondern die mit dem Sturz der Wittelsbacher Monarchie in Bayern endet. In der selben Nacht bilden sich ArbeiterInnen- und Soldatenräte. Sie wählen Kurt Eisner zum Ministerpräsidenten. Daraufhin wird der Fokus auf die Organisation der Bauernschaft gerichtet. Aus dem bayrischen Bauernbund geht der Bauernrat hervor.

Durch die Ankündigung eines Generalstreiks und massiven Demonstrationen erzwingen die RevolutionärInnen die Ausrufung der Räterepublik am 7. April 1919.

Zusammengefasst sollte das Modell der Räterepublik dem Modell des "Parteiführertums" entgegengestellt werden. ProletarierInnen, Soldaten und Bauern sollten an ihren jeweiligen Arbeitsorten Deligierte wählen die sie persönlich kennen. Diese haben ein imperatives Mandat inne, sind daher jederzeit abberufbar, wenn sie sich von der Basis entfremden oder ihre Macht missbrauchen. Diese wiederum deligieren nach demselben Prinzip Beauftrage in höhere Räte zu spezifischen Angelegenheiten und Aufgabenbereichen. Die Art und Weise wie die Deligierten gewählt wurden blieb den lokalen Räten überlassen. Dieses Prinzip kam beim Reichskongress der ArbeiterInnen- und Soldatenräte vom 16. bis 21. Dezember 1918 in Berlin zur Anwendung. Um sich das in konkreten Zahlen vorzustellen sollte beispielsweise 100000 Militärangehörige einen Deligierten stellen usw..

Die gewählten Deligierten sind der Wählerschaft voll verantwortlich und strikt an den Wählerauftrag gebunden. Durch permanente Rechenschaftsberichte in den Basiseinheiten und der Möglichkeit der sofortigen Abberufung sollte eine dauerhafte Kontrolle gewährleistet sein. Die Funktionsträger sollten ehrenamtlich tätig sein. Weiterhin wurde Ämterrotation gefordert um Wiederwahl und damit eine mögliche Machtanhäufung und Korruption zu vermeiden.

Leider waren die Mehrheit der Deligierten Sozialdemokraten. Der gewählte Zentralrat blieb bei der sukzessiven Zerschlagung der Rätestrukturen weitestgehend inaktiv. Er erhob keinerlei Einspruch und übergab seine nominelle Macht am 4. Februar 1919 der Weimaer Nationalversammlung und wurde damit aufgelöst. Somit existierten in Bayern cirka ein halbes Jahr lang funktionierende Rätestrukturen an der Basis.

Trotz all den Beispielen der Organisierung in unserer Geschichte werden heute immer noch Fehler gemacht oder wiederholt. Entscheidungsfindung wird nicht diskutiert, Prozesse Rund um das Thema Ziele und wie diese angegangen werden, werden meist erst hinterher beleuchtet.

Die Erkenntnis reift, dass die Politik der ersten Person, welche eine Abwehr der Stellvertreterpolitik war, überholt ist. Wir können damit nicht die breite Gesellschaft organisieren und aus der derzeitigen marginalen Lage innerhalb dieser Gesellschaft den Kapitalismus nicht ansatzweise Etwas entgegen setzen. Egoismus und das Prinzip die eigene Meinung durchzusetzen, die eigenen Erkenntnisse und Wissensmacht in den Vordergrund zu stellen, herrschen vor. Dagegen stellen sich Diskurse rund um Genossenschaftlichkeit und Aufbau von Gemeinschaft, bei gleichzeitigen Abbau von Wissenshierarchien. Wie bilden wir Versammlungen oder Räte? Wie bestimmen wir Menschen die stellvertretend für uns sprechen und entscheiden dürfen? Wir kontrollieren wir diese?

Mittlerweile 16 Jahre Organisierung in Antifa-, Geschichtsaufarbeitungs- und internationalistischen Gruppen haben mich desillusioniert. Gleichzeitig ist mein Grad der Zynik ins unermessliche gestiegen, wenn es um den Aufbau von Organisierung und den damit einhergehenden Gruppenprozessen geht. Große Schuld daran ist der fehlende Wille über Entscheidungsfindung zu debattieren. Gruppen verschwenden immense Zeit damit Woche für Woche über ihre identitätsstiftenden Nischenthemen zu diskutieren und gleichzeitig ein Selbstverständnis zu entwickeln, mit dem Fokus, was sie gesellschaftlich nicht wollen. Die Entwicklung einer Programmatik bleibt oft auf der Strecke. Ausgeblendet wird meist eine Debatte über die Entscheidungsfindung und welche Möglichkeiten es dazu gibt. Fast schon ungeschriebenes Gesetz ist das Konsensprinzip, mit inflationär benutzten Vetorecht, je nach Machtstellung der Gruppenmitglieder, je nachdem welche Unterdrückungsverhältniskarte gezogen werden kann, wie lange die Mitgliedeschaft in der Gruppe besteht oder Freundschaftsnetzwerke in die Gruppe hinein wirken. Eine Demokratisierung und Transparenz in der Entscheidungsfindung wird schlicht nicht angestrebt: Wie wird abgestimmt? Was wenn nicht alle Mitglieder da sind? usw.usf.. Auf die Spitze getrieben wird das Ganze, wenn Woche für Woche wegen neuen Konstellationen immer wieder die selben Themen besprochen werden. Arbeit wird in Onlineforen und Emaillisten outgesourct, wo keine Abstimmungsmöglichkeiten genutzt werden, sondern nur das Prinzip: wer schnell antwortet kann noch Etwas ändern, bzw. "retten". Manchmal drehen sich dadurch Debatten im Kreis oder es entstehen keine Debatten sondern endlose Monologe. Zermürbende Debatten die eigentlich nur der Selbstbespaßung dienen werden auf die Spitze getrieben durch Versuche abseits von Moderation, Genderquotierung und Zeitbeauftragte: zum Beispiel durch die Einführung von Wohlfühlbeauftragten. Aufgabe dieses Amtes ist, das Wohlbefinden der Diskutierenden und Nichttdiskutierenden zu beobachten, und bei "Nichtwohlfühlen" Debatten zu unterbrechen und zu beenden. Alles andere sei ableistisch. Oder Diskutierende meinen in Diskussionen selber, es ginge nicht mehr, sie fühlen sich nicht wohl, ohne dies zu begründen und ohne Reflektion, ob nicht das Schneiden von Diskussionen ebenfalls gewaltvoll wäre. Oder es kommt nach inhaltlichen Debatten der Vorwurf, es hätten wieder nur cis-Männer geredet, ohne gemeinsam Möglichkeiten zu besprechen wie das geändert werden kann und ohne zu überlegen das Frauenstimmen- und unabhängige Frauenorganisierung, welche die Meinung von Genossinnen einbringt die Diskussion und Emanzipation der Gruppe/ Versammlung voran bringt. Es wird eben nur angemerkt: die Debatte wird dadurch geschnitten und abgewertet (dies kann erweitert werden, bspw. die Debatte sei zu gefühlskalt und unherzlich oder man wäre zu moralisierend, als wäre Moral und Ethik schlecht weil unwissenschaftlich usw.).

Das alles mündet darin das Diskussionen verdammt oft nicht in Ergebnissen münden. Bei Ideen und Handlungsmöglichkeiten wird sich einfach in die Arbeit gestürzt: wer mit macht, macht mit. Der Rest moniert später wie schlecht die Arbeit war. Natürlich erst wenn Ergebnisse und Tatsachen geschaffen wurden. Totschlagargument zum Nachtreten: die Kritik, warum man nicht beteiligt wurde, obwohl Woche für Woche Diskussionen statt finden.

Diese zynische Aufzählung wiederholter Erfahrungen dient der Verdeutlichung des Problems:

Es werden demokratische Entscheidungsprozesse ausgeblendet und nicht festgelegt. Hier spielen sinnlose linke Glaubenssätze, wie beispielsweise, ich möchte keine Regeln befolgen, frei entscheiden und mich keiner Mehrheitsmeinung unterordnen, eine Rolle. In der Realität ist dies aber Quatsch. So funktioniert gemeinsames Entscheiden über unsere Belange und Dinge die gesellschaftlich geändert werden müssen nicht. Es müssen Wege gefunden werden, wie entschieden oder abgestimmt wird, damit die gesamte Gemeinschaft Inhalte trägt, vertritt und wie Minderheitenmeinungen in den Entscheidungen sichtbar werden und damit mitbestimmend sind. Machtverhätnisse müssen innerhalb der Strukturen sichtbar sein und abwählbar werden. Wir dürfen nicht so tun, als gäbe es diese nicht in den Strukuren. Kritik an politischen MandatsträgerInnen darf nicht nur im luftleeren Raum stehen, sondern die Menschen, denen wir Vertrauen schenken, können andere Aufgaben zugeteilt werden, sie sind abwählbar usw.usf..

Ich möchte nach dem Blick in die Geschichte und meinen persönlichen Erfahrungen ein aktuelles vitales Beispiel für Organisierung betrachten. Auf den Gebiet der autonomen Föderation Nord- und Ostsyrien entsteht seit Jahren eine neue Gesellschaft nach basisdemokratischen Prinzipien mit dem Fokus auf Frauenbefreiung und Ökologie. Den meisten hier bekannt unter dem Begriff Rojava, welcher nur ein kleiner Teil des Gebiets der kurdischen Revoultion ausmacht. Ideengeber der kurdischen Bewegung und Mitbegründer A. Öcalan orientierte sich beim demokratischen Paradigmenwechsel vom stalinistischen Kommunismus hin zum basisdemokratischen Konföderalismus bezüglich demokratischer Entscheidungsprozesse an den Ideen von Murray Bookchin.

Er inspirierte Öcalan in seinen revolutionär demokratischen Manifesten als Ideengeber zum Aufbau des demokratischen Konföderalismus mit seinen Ansätzen zum ökologischen und sozialistischen Kommunalismus. Sein Programm war der “libertarian municipalism”. Die kurdische Bewegung bezieht sich direkt auf den leider 2006 verstorbenen Bookchin. Um ihn zu ehren verfasste sie anlässlich seines Todes folgendes Statement: “Er hat uns an die Idee der sozialen Ökologie herangeführt und uns bei der Weiterentwicklung sozialistischer Theorie geholfen, um sie auf festerem Fundament vorantreiben zu können. Abdullah Öcalan hat einen Vorschlag des demokratischen Konföderalismus, ein Modell, das er für kreativ und realisierbar hält, gemacht. Der Kampf der PKK geht weiter. Bookchins Thesen behalten ihre Gültigkeit. Wir werden das Versprechen eines demokratischen Sozialismus in die Tat umsetzen. Anstelle der heutigen Gesellschaft wird es den demokratischen Konföderalismus geben”6.

Was sind Bookchins Thesen beim Thema gesellschaftliche Entscheidungsfindung?

Nach Bookchin haben AnarchistInnen, MarxistInnen und SyndikalistInnen eine irreführende Auffassung von Politik: er versteht sie als Ort und Einrichtung für BürgerInnen, wo sie ihre gemeinsamen Angelegenheiten regeln. Linke verwechseln den Begriff Politik mit der Verwaltung von Menschen und/ oder Staatsführung.

Für ihn ist Politik stattdessen die "aktive Beteiligung freier Bürger_innen bei der Regelung ihrer kommunalen Angelegenheiten und so die Verteidigung der Freiheit"7.

Im Kommunalismus bilden sich freie Gemeinschaften oder Gemeinden, diese bilden Gremien innerhalb der Gemeindeversammlungen/-räte.

Gemeinderäte mobilisieren sich untereinander um Gemeindemitglieder an Wahlen zu beteiligen und Nachbarschaftsversammlungen aufzubauen die gesetzgeberischen Einfluss erreichen um so staatliche Organe zu deligitimieren und abzusetzen. Sobald eine gewisse Zahl von Gemeinden dies erreicht, können die sich zu Konföderationen zusammenschließen: dort werden Volksräte und Konföderationsräte gebildet und damit die Kontrolle über Ökonomie und Politik übernommen.

Gemeindeversammlungen haben dabei eine doppelte Funktion: einerseits sind sie vitaler Ort des bürgerlichen Lebens und der Beschlussfassung, andererseits Knotenpunkte um die undurchsichtige Welt der Wirtschaftslogik der Allgemeinheit zu erörtern, sie zu enmystifizieren und der Überprüfung der gesamten BürgerInnenschaft zugänglich zu machen.

Bookchin versteht die Versammlungen im Kommunalismus nicht nur als Entscheidungsfindungen der ArbeiterInnen in ihren jeweiligen Rollen! TeilnehmerInnen sind alle BürgerInnen deren vorrangiges Anliegen das Regeln der Bedürfnisse ihrer Gesellschaft ist. Diese Versammlungen sind Orte der Bildung und Weiterbildung und Eingliederung neuer und junger Menschen in die Gemeinschaft. Also Orte die nicht nur institutionell Entscheidungen finden sondern BürgerInnen befähigen komplizierte Angelegenheiten zu verstehen und mit zu entscheiden durch gemeinsame Bildung.

Nach Bookchin unterscheidet sich der Kommunalismus durch Beschlussfassungen durch Mehrheitsabstimmungen zum Anarchismus. Dies sei die einzig faire Möglichkeit viele Menschen zu befähigen Entscheidungen zu treffen. AnarchistInnen erheben den Vorwurf, dass die Beherrschung der Minderheit durch die Mehrheit, autoritär sei. Stattdessen legen sie das Prinzip der allgemeinen Konsensentscheidung zur Entscheidungsfindung nahe. Bookchin meint das der Einspruch Einzelner bei Mehrheitsentscheidungen die Gefahr birgt die Gesellschaft als solche abzuschaffen. Er begründet dies damit das die Mitglieder einer Gesellschaft nicht in einem Zustand ohne Erinnerungen, Versuchungen oder Erkentnisse leben. Die Menschheit als solche hat sich weiter entwickelt und steckt damit voller Geschichte und Erfahrungen. "In einem gelebten Zustand der Freiheit werden - entgegen bloßen Stammtischgerede - die Rechte von Minderheiten, abweichende Ansichten äußern zu dürfen, stets genauso geschützt wie Mehrheitsrechte. Jede Einschränkung dieser Rechte würde sofort von der Gemeinschaft korrigiert werden - am besten schonend, wenn unvermeidbar aber mit Gewalt -, damit das soziale Leben nicht in völligen Chaos versinkt"8. Dabei werden Minderheitenmeinungen gewertschätzt indem sie als Ursprung neuer Erkenntnise und neuer Wahrheiten begriffen und gesammelt werden. Seiner Meinungen nach wird durch Unterdrückung der Minderheitenmeinungen die Quellen für Kreativität und Fortschritt versiegt. Somit unterstehen sie besonderem Schutz.

Das kurdische Nationalparlament Kongreya Neteweyî ya Kurdistanê

(KNK) ist ein gutes Beispiel für die Umsetzung solcher Prinzipien. Jegliche Minderheit kann eigene Kommissionen und Räte gründen und damit Sitz im KNK erlangen. Dadurch wächst das Parlament stetig, gleichzeitig erlangen Minderheiten Mitsprache- und Entscheidungsrechte auf Augenhöhe mit Mehrheitsgruppen. Bezüglich der Kritik an AnarchistInnen gehe ich davon aus, dass Bookchin sich auf IndividualanarchistInnen bezieht: später im Text geht es noch um die Organisierung von AnarchistInnen in Spanien, welche zum Ziel hatten die gesamte Gesellschaft zu organisieren und diese bei der Kollektivierung von Eigentum in die Pflicht zu nehmen.

Zur Frage der Führungspersonen solcher Zusammenschlüsse äußert er sich meiner Meinung nach sehr allgemein, revolutionäre kurdische Strukturen haben dies ausgebaut, mit Regeln der paritätischen Besetzung von Führungsgremien, regelmäßige Aufgabenrotation und zeitlicher Begrenzung usw. usf.:

Die Betrachtungsweise von Führungspersonen sollte die Tatsache anerkennen, dass diese entscheidende Bedeutung für revolutionäre Praxis haben und fokussieren das es formale Strukturen und Regulierungen bedarf um diese effektiv zu kontrollieren. Führungspersonen müssen veränderbar bzw. abberufbar sein und müssen den Menschen, die sie bestimmen Rechenschaft ablegen9.

Wir können aus den im Text gebrachten Beispielen Vieles lernen. Wollen wir nicht mehr zersplitterte Linke in Kleinstgruppen mit radikalen Ansätzen sein, kommen wir nicht um die Diskussion der Entscheidungsfindung herum. Noch konkreter, ohne die Festlegung und Regelung der Entscheidungsfindung zerbricht jeder Zusammenschluss an verschiedensten Symptomen der Gruppenprozesse. Die hier gemachten Vorschläge von Bookchin, die Lehren aus der linken DDR-Opposition, die spanische Republik, die Münchner Räterepublik und das vitale Beispiel der weiter stattfindenden kurdischen Revolution in Nord-und Ostsyrien können Beispiele für das Treffen von Entscheidungen sein. Vor allem vor dem Hintergrund des Ziels wieder gesellschaftlich relevant und handlungsfähig zu werden. Letztlich muss gemeinsam entschieden werden nach welchem Prinzip, wann und in welchem Fall beschlossen wird. Es gibt kein vorgefertigtes Schema F..

 

Janosh

 

  • seit Jahren in diversen antifaschistischen und/ oder internationalistischen Gruppen und Gedenkinitiativen

 

 

 

1 https://www.ddr89.de/vl/appell.html

 

2 https://www.ddr89.de/vl/VL61.html

 

3 https://www.ddr89.de/vl/VL19.html

 

4 aus "Tragödie der Freiheit. Revolution und Krieg in Spanien (1936-1939). Fragmente; telegraph Sondernummer; 2017

 

5 aus https://www.grin.com/document/169388; https://www.graswurzel.net/gwr/2018/12/100-jahre-raeterepublik/

 

6 http://civaka-azad.org/vom-marxismus-zu-kommunalismus-und-konfoederalism...

 

7 Murray Bookchin: Die nächste Revolution. Libertärer Kommunalismus und die Zukunft der Linken. Unrast Verlag, Münster, 2015; Seite 31

 

8 Murray Bookchin: Die nächste Revolution. Libertärer Kommunalismus und die Zukunft der Linken. Unrast Verlag, Münster, 2015; Seite 45

 

9 Murray Bookchin: Die nächste Revolution. Libertärer Kommunalismus und die Zukunft der Linken. Unrast Verlag, Münster, 2015; Seite 45

 

aus Telegraph Sondernummer #135/ 136_2019/ 2020 - Sondernummer Herbst'89

www.telegraph.cc

 

 

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Ergänzungen

Das Konsensprinzip begünstigt Opferautoritarismus und vernebelt Machtstrukturen. Aber der libertärer Munizipalismus Bookchins verklärt nicht nur Elektoralismus und das Majoritätsprinzip, sondern fällt in dieselbe Fallen. Wie werden Minderheitsstrukturen anerkannt? Letztendlich führt das ewige Splittern in Minderheitsräte zu einem politischen Markt, wo diejenigen profitieren, die sich professionell organisieren oder diskriminiert inszenieren können. Wie ist eine Trennung von Mandatstragenden zu ihren Kontrollinstanzen zu gewährleisten? Sei er dem Namen nach noch so auf "Koordination und Verwaltung" beschränkt, wie ist ein Konföderalismus vom zentralistischem Momentun der Macht zu schützen? In der Tat ist der demokratische Konföderalismus kein Schema F, sondern ein politisches System, um die Region des Mittleren und Nahen Ostens zu befrieden. Schreibt zumindest Öcalan. Bookchin bleibt reduktionisch, wenn mensch die beiden Prinzipien als einzigen zu erwägenden Alternativen betrachtet. Wahl ist nicht gleich Mehrheitswahl durch Zustimmung. Wahl durch Ablehnung, Bewertungswahl, Rangfolgewahl, Wahl durch das Los, Akzess, Listenwahl mit Kumulieren und Panaschieren, Personenwahl mit übertragbarer Einzelstimmgebung und mehr.

Anstatt eine Methode ideologisch zu bevorzugen, sollten Entscheidungsfindungen gemäß der Bedingungen gewählt werden. Um diese zu berücksichtigen, fehlt es jedoch oft an Zeit und Wissen. Weder dem Konsens- noch dem Mehrheitsprinzip kommen deliberative Elemente hinreichend zu. Technologie-Freund Bookchin wäre sicherlich nicht von kybernetischen Lösungen abgeneigt gewesen. Mensch stelle sich einen Free-Open-Source-Algorithmus vor, der anhand verschiedener Parameter, die die Kollektangehörigen entsprechend ihrer Überzeugung, was für das Allgemeinwohl gut sei, eingeben, eine passende Entscheidung vorschlägt und Pro und Contra auflistet. Eine wesentlich primitivere Lösung wäre das des noch nicht widerlegten Arguments. Für den seltenen Fall, dass ein Vorschlag kein haltbares Gegenargument erhält, wird er provisorisch angenommen. Entscheidungungsfindungen werden häufig emotional unterlaufen, ob nun durch bewusste Rhetorik oder unbewusste Sympathiestimuli. Ansätze der rationalen Entscheidungen haben den Vorteil sich und fordern Transparenz von Informationshierarchien.

Nicht zu vergessen ist, dass das Konsensprinzip andere Organisationsformen an der Basis ergänzen sollte. Bezugsgruppen und Kleingruppen verfahren oft danach, wählen Deligierte, die wiederum ein Imperativmandat für übergeordnete Plena bekommen. Ähnlich verfahren die Zapatistas mit ihrer junta de buen gobierno, ein weiteres Beispiel sozialökologischer Praxis. Das radikalindividualistische Credo "Jedes Wesen nach seinen Fähigkeiten, jedes Wesen nach seinen Bedürfnissen" bedeutet auch, dass sich nicht alle Menschen an Entscheidungsfindungen beteiligen, aber dennoch Rollen ausführen wollen. Wie ist das möglichst gerecht zu bewerkstelligen? Zudem sind einige Entscheidungsfindungen sind in der Vollversammlung unnötig und können eher selbstorganisiert oder in Arbeitsgruppen gelöst werden. Noch eins: Vor allem machtintensive Rollen, insbesondere die, die Informationshierarchien aufbauen, und unerfreuliche Rollen sollten dem Rotationsprinzip unterworfen sein.