Debattenangst beim Spiegel

Irma Kreiten 06.09.2013 18:00 Themen: Antirassismus Blogwire Medien Militarismus Repression Weltweit
Nicht im Hauptteil, nicht am Rande. Wo findet beim Spiegel eine kritische Auseinandersetzung mit den Olympischen Spielen 2014 in Sochi statt, wo mit deren symbolischer Funktion zur Verleugnung tscherkessischer Geschichte und Kultur?
Deutsche Mainstream-Medien berichten selten zum Nordkaukasus. Umso mehr habe ich mich gefreut, heute auf Spiegel Online ein kritisches Interview mit der russischen Menschenrechterin Swetlana Gannuschkina zur russischen Tschetschenienpolitik zu lesen, die momentan neue tschetschenische Flüchtlingsströme nach Europa treibt. In der Kommentarleiste entwickelte sich bald eine lebhafte Diskussion, die zwar durchaus kontrovers war, aber doch – zumindest aus meiner Sicht – im Rahmen eines zivilen Austauschs von Meinungen blieb und auch angesichts der blinden Flecke in der deutschen Debattenkultur dringend notwendig gewesen wäre.

Da ich als marginalisierte Wissenschaftlerin (siehe  http://de.indymedia.org/2013/03/342204.shtml) wenig Möglichkeiten habe, mich über den Nordkaukasus öffentlich zu äußern und gegen grob verzerrendes und oft genug auch rassistisches Scheinwissen vorzugehen, habe auch ich die Gelegenheit beim Schopfe ergriffen und Kommentare verfaßt. Diese erschienen auch alle anstandslos und zeitnah – bis auf einen! In diesem einen nicht erschienenen Kommentar hatte ich mir erlaubt, darauf hinzuweisen, daß es nicht nur im Ost- sondern auch im Westkaukasus – gerade auch im Zusammenhang mit den Olympischen Winterspielen in Sochi 2014 - zu Repressionen wie auch einem Verschweigen derselben kommt. Auch hatte ich geschrieben, daß die westeuropäische Öffentlichkeit leider über die Situation im Westkaukasus noch schlechter informiert ist als über die im Osten des Kaukasus und dabei auch auf meinen blog verwiesen, in dem ich dieses Defizit thematisiere. Nachdem der Kommentar anschließend weder auf der Webseite noch meinem Benutzerkonto zu finden war, habe ich ihn ein weiteres Mal aus dem Gedächtnis heraus verfaßt und mit Hinweis auf eventuelle technische Probleme die Redaktion höflich um Freischaltung gebeten. Dieser zweite Kommentar erschien ebenfalls nicht, statt dessen wurde wenige Minuten nach seinem Absenden die Kommentarfunktion des Artikels ganz abgeschaltet.

Nun ist ein einzelner nicht freigeschalteter Leser-Kommentar noch kein Weltuntergang. Der Vorgang fügt sich jedoch ein in eine Medienpolitik, in der tscherkessische Belange wie auch schlicht und einfach das Wort „Tscherkessen“ im Zusammenhang mit Sochi 2014 keinen Platz zu haben scheinen. Eine Suche im Spiegel-Archiv fördert so auch nicht nur einen einzigen Artikel zu den bevorstehenden Olympischen Spielen in Sochi zum Vorschein, in denen die Tscherkessen auch nur namentlich erwähnt wären ( http://www.spiegel.de/suche/index.html?suchbegriff=tscherkessen). Vor diesem Hintergrund bedeutet ein nichtfreigeschalteter Kommentar, daß auch eine aufmerksame Leserschaft, die die "Fußnoten" studiert, nichts über die tscherkessischen Aspekte von Sochi 2014 erfährt.

Es kommt hinzu, daß ich zuvor bereits ganz ähnlich geartete Erfahrungen mit der Webseite Abgeordnetenwatch gemacht hatte: Abgeordnetenwatch hatte es abgelehnt, Anfragen zum Thema Sochi 2014 und den Tscherkessen bzw. einer ausbleibenden Vergangenheitsbewältigung und zu einer fehlenden internationalen Debatte freizuschalten. Im Anschluß daran hatte sie aus meiner Sicht nicht erfüllbare Auflagen gestellt, die sonst offenbar bei keinem anderen Thema zum Einsatz kommen und auch nicht im Moderationscodex erwähnt werden. Ich hatte hier auf indymedia( http://de.indymedia.org/2013/08/347902.shtml) sowie anschließend, samt der Antwortschreiben von Abgeordnetenwatch, auf meinem blog darüber berichtet ( http://sochi2014-nachgefragt.blogspot.com/2013/08/ausweichende-antworten-von.html)

Für mich bestätigt sich hier somit leider ein weiteres Mal das Bild, daß das „gute“ Verhältnis zum russischen Partner wie auch eigene Machtinteressen im Kaukasus hier zu einer unguten Einflußnahme auf die deutsche Medienlandschaft führen. Meinen Beobachtungen nach erwirken diese, daß kritische Debatten über Kolonialverbrechen im Westkaukasus und eine fortgesetzt repressive Politik Rußlands auch gegenüber ethnischen Minderheiten auch von deutscher Seite unerwünscht sind. Wenn die Lage im Ostkaukasus nach zwei brutalen Kriegen in der jüngsten Vergangenheit nun wohl (mehr oder weniger zwangsweise?) zumindest in Ansätzen in der westlichen Öffentlichkeit behandelt wird, so scheinen sich doch die verschiedenen am Kaukasus interessierten Großmächte einig zu sein, daß in Bezug auf den "ruhigen" Westkaukasus und seine koloniale Vergangenheit der Schleier des Vergessens besser nicht gelüftet werden sollte. Die öffentliche Wahrnehmung eines weiteren, in seinen Rechten verletzten und dadurch auch in seiner Existenz bedrohten Volkes scheint da, wo Öl zu haben ist und neoimperiale Interessen durchgesetzt werden möchten, nur hinderlich zu sein - ausgenommen natürlich die Phasen, in denen die CIA den "Freiheitskampf" der Nordkaukasier oder alternativ dazu "islamistischen Terrorismus" für eigene Belange instrumentalisiert und als Stoßbock gegen den russischen Rivalen benutzt.

Der Spiegel hat mit einem offenen Brief von mir die Möglichkeiten zu einer Stellungnahme erhalten - sowohl zum gegenwärtigen Vorgehen wie auch allgemein zu seiner Berichterstattung zu Sochi 2014 (eigentlich sollte es „Nicht-Berichterstattung“ heißen). Eine etwaige Antwort von Chefredakteur Rüdiger Ditz wird auf meinem blog unter  http://sochi2014-nachgefragt.blogspot.com/ nachzulesen sein.

Schlagworte: #Sotschi #Sochi2014 #Tscherkessen #Zensur #Nordkaukasuspolitik #NoSochi
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Ergänzungen