Dissimuliert Abgeordnetenwatch Völkermord?

Irma Kreiten 24.08.2013 22:48 Themen: Antirassismus Medien Repression Soziale Kämpfe Weltweit
Abgeordnetenwatch schaltet unter fadenscheiniger Begründung Anfrage zum Völkermord an den Tscherkessen und Sochi 2014/den Protesten dagegen nicht frei.
Gestern hatte ich über Abgeordnetenwatch eine kleine Anfrageaktion gestartet zum Stattfinden der Olympischen Winterspiele 2014 in Sochi und den Tscherkessen als davon betroffener „Minderheit“ (eigentlich mag ich das Wort „Minderheit“ in diesem Zusammenhang überhaupt nicht, denn es handelt sich bei den Tscherkessen um die angestammte Bevölkerung der Region, aber nun gut, so ist momentan der Sprachgebrauch). Die Veranstaltung der Olympischen Spiele ausgerechnet in Sochi ist im Kaukasus selbst wie auch in den tscherkessischen Diasporagemeinden deswegenn heiß umstritten, weil es sich bei der Gegend um Sochi um eine Region mit einer besonders tragischen Geschichte handelt. Sochi war im 19. Jahrhundert Schauplatz des letzten Stand Offs zwischen Tscherkessen und russischen Trupen gewesen und läutete damit das blutige Finale des kolonialen Eroberungskriegs ein, in dessen Folge geschätzte 1-2 Millionen Tscherkessen umkamen oder aus ihrer Heimat deportiert wurden.

Ungeachtet der Tragik dieser Situation hatte ich meine Anfrage, wie denn die Haltung der Bundestagsandidaten zum Abhalten der Olympischen Spiele auf derart blutgetränktem und umstrittenen Boden aussehe, in höflichem Ton und möglichst offen-neutral formuliert, um sie dann an Abgeordnete verschiedener Parteien zu versenden - nicht aber ohne zuvor, da ich bei dieser heiklen Thematik eher häufiger als selten böse Überraschungen erlebe, genauestens die Nutzungsbedingungen bzw. den Moderations-Codex studiert und mich daran gehalten zu haben.

Gestern Abend erhalte ich dann eine Nachricht von Abgeordnetenwatch, es sei nicht möglich, meine Anfrage freizuschalten, „da sie Tatsachenbehauptungen, statistische Daten oder Zitate enthält, die Sie nicht belegen.” Bemängelt wurden namentlich folgende zwei Passagen aus meiner Anfrage:
„- "daß es im Westkaukasus während des 19. Jahrhunderts zu Massakern und
Deportationen kam, die bereits damals als „Säuberungen“ bezeichnet
wurden"
- "Nordkaukasischen Berichten zufolge wurden im Zuge der Bauarbeiten auch
tscherkessische Massengräber entdeckt und stillschweigend
beiseitegeschafft."“

Freundlicherweise tröstet man mich gleich darauf über diese Einwände hinweg mit dem Hinweis, daß es „[a]uch bei allgemein bekannten Angelegenheiten“ wichtig sei, „die Quellen im Fragetext anzugeben. So können die Leserinnen und Leser des Portals die beschriebene Tatsache ohne größeren Aufwand nachvollziehen.“ Man will wohl sagen, ich solle es nicht krumm nehmen, dies sei nicht persönlich gemeint und man wolle mir auch keineswegs den Eindruck vermitteln, an meinem Thema und den von mir benannten historischen Tatsachen zu zweifeln – oder doch?

Ein Vergleich mit Anfragen auf demselben Portal zu den Themen türkisch-armenische Vergangenheitsbewältigung und deutsche Kolonialgeschichte in Namibia zeigt, daß andere Fragesteller in diesen beiden Fällen keineswegs ein Blatt vor den Mund genommen hatten, explizit von „Genozid“ sprachen und gar energisch auf dessen jeweilige Anerkennung drangen. Hier scheint nicht gestört zu haben, daß keine historischen Argumentation mit Quellen, Fakten und Literaturangaben mitgeliefert wurde, die Freischaltung wurde anscheinend anstandslos bewilligt.

Mein Problem ist durchaus nicht, daß ich meine Behauptungen nicht belegen könnte, sondern daß diese Belege und Quellen den eng vorgegebenen Rahmen sprengen würden – es bliebe dann schlicht und einfach kein Platz mehr für die Anfrage selbst. Ich kommuniziere gerne mit einem gemischten Publikum, das aus Laien und Kollegen des gleichen oder anderer Fachbereiche bestehen kann, und bilde mir mittlerweile auch einiges auf meine Übung darin ein. Trotzdem kann ich mir beim besten Willen nicht vorstellen, wie es gehen soll, in einer 2000-Zeichen-Vignette eine wissenschaftlich beleg- und haltbare Argumentation zu vollziehen, die es gleichzeitig auch noch einer allgemeinen Leserschaft ermöglichen soll „die beschriebene Tatsache ohne größeren Aufwand [!] nachvollziehen“. Um einen genozidalen Akt mit Quellen und in all seinen Finessen schlüssig zu belegen, Skeptikern ein für allemal das Wasser abzugraben und sämtliche Apologeten das Fürchten zu lehren – für derartige Unterfangen bediene ich mich für gewöhnlich, wie andere Historiker-Kollegen auch, geeigneterer Medien und Kommunikationswege.

Zweck meiner Anfrage war es gerade gewesen, die Diskussion zu einem bisherigen Tabuthema in Gang zu bringen und Menschen dazu zu bewegen, sich endlich mit den bereits bekannten Fakten und deren Interpretationen auseinanderzusetzen. Leider scheint auch Abgeordnetenwatch die paradoxe, aber weitverbreitete Haltung zu teilen, daß nur bereits bekannte Themen es verdient haben, öffentlich gemacht zu werden. Hier hilft dann auch nicht mehr wirklich weiter, daß mir ebenfalls mitgeteilt wird, meine Anfrage werde zwar nicht veröffentlicht, aber immerhin „zur Kenntnisnahme“ an die entsprechenden Kandidaten weitergeleitet. Allerdings, und hier kommt dann gleich ein weiterer Pferdefuß zum Tragen, aus, man höre, „Datenschutzgründen ohne Ihre email-Adresse“. Zur Kenntnisnahme also, nicht etwa als Ausgangspunkt für einen möglichen Dialog oder gar einen öffentlichen Diskurs. Kurz und gut, hier scheint mir jemand gleich auf mehreren Füßen zu hinken. Tragbar? - Ich finde nicht.

Ich habe Abgeordnetenwatch auf die Unstimmigkeiten im Umgang mit meiner Anfrage hingewiesen und um Stellungnahme gebeten, bisher aber noch keine Antwort erhalten.
Meine Anfragetexte, die Reaktion von Abgeordnetenwatch sowie meine beiden Rückfragen hierauf sind nachzulesen unter  http://sochi2014-nachgefragt.blogspot.com/ .

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