Italien: Prozeß gegen Sud Ribelle

kh. 13.12.2004 04:28 Themen: Repression Soziale Kämpfe Weltweit
Im Kontext des G8-Gipfels von Genua und dem Sozialforum in Neapel läuft seit 2 Jahren eine juristische Untersuchung gegen das Netzwerk "Sud Ribelle" (Rebellischer Süden) in Kalabrien. Nach mehreren Vorverhandlungen begann am 2. Dez. 2004 in Cosenza der Prozeß gegen 13 Aktivisten; die Anklage lautet u.a. auf "Subversion", auf Bildung einer subversiven Vereinigung mit dem Ziel, die wirtschaftliche Ordnung des Staates gewaltsam umstürzen zu wollen.
Unterdessen kommen jetzt 28 Polizisten kommen vor Gericht, die während des G8-Gipfels in Genua an dem Überfall auf Diaz-Schule beteiligt waren (mehr).

[Indymedia Italien | sciroccorosso.org]
[Übersetzung mehrerer Artikel auf Indymedia Italien, mit leichten Kürzungen]

Update vom 25. Nov.
http://italy.indymedia.org/features/calabria/
[Also noch vor Beginn des Prozesses; neuere Updates mit Bericht über den ersten Verhandlungstag folgen am Schluß; d. Ü.]

Nach außerordentlichen Mobilisierungen und einer Reihe von Konflikten, die zwei Jahre lang die politische Landschaft gekennzeichnet haben, stehen wir nun kurz vor dem Beginn des Prozesses am 2. Dezember, bei dem 13 Aktivisten des Netzwerks "Sud Ribelle" (Rebellischer Süden) angeklagt sein werden, wegen politischer Verschwörung mit dem Ziel, die wirtschaftliche Ordnung des Staates umstürzen zu wollen.

Alles begann beim Weltsozialforum in Neapel und in den Tagen des G8 von Genua. Die Anklage lautet auf "Subversion". Um diese zu konstruieren, wurde das Gesetzeswerk des alten Codice Rocco benutzt, den Mussolini sich zurechtmachte, um seine politischen Gegner zu füsilieren oder ins Exil zu schicken. In der Folge gab es eine gerichtliche Untersuchung in mehreren Etappen.

Die kalabresische und allgemein die süditalienische Bewegung befindet sich derzeit im Zustand großer Unruhe, in Vorbereitung einer allgemeinen Mobilisierung, die am 27. November mit einer landesweiten Demonstration, einer Kundgebung am 28. Nov. und einem Massen-Sit-in vor dem Gerichtsgebäude am Prozeßtag Gestalt annehmen wird. Zur Unterstützung des Netzwerks Sud Ribelle haben sich bereits zahlreiche Vereinigungen, Parteien, Institutionen und Gewerkschaften im Bereich der Stadt zusammengefunden, am 5. November in den Räumen der Camera del Lavoro.* Ein Spektrum von Reaktionen, die sich zwar nicht ausschließlich zugunsten der Angeklagten aussprechen, die aber gemeinsam auf legitime und demokratische Art und Weise das Recht auf Dissens einfordern und dem von der derzeitigen Regierungspolitik immer mehr ins Abseits gedrängten Süden Italiens eine Stimme verleihen wollen.

Schon seit dem 23. Oktober, einem inzwischen berühmten Datum, auch wegen der Sache mit der versteckten Telekamera**, ist Cosenza voll von Versammlungen und Zusammenkünften, die von politischen und institutionellen Gruppen einberufen wurden, um die Öffentlichkeit zu sensibilisieren und sich auf dieses wichtige Ereignis vorzubereiten.

In Erinnerung an den 23. November 2002, als in der Stadt der Bruttier (Bruzi) über 100 000 Personen (siehe Foto) ihre Solidarität mit den verhafteten Aktivisten bekundeten, fröhlich Hymnen auf Freiheit und Gerechtigkeit sangen, vereint im Zorn der Zivilgesellschaft über das in diesen zwei Jahren von den Justizbeamten an den Tag gelegte repressive Verhalten, werden sie zusammen die richtige Triebkraft bilden, um am 27. November auf die Piazza zu gehen und wieder durch die Straßen Cosenzas zu marschieren, um nicht vor denen die Waffen zu strecken, die uns gern zum Schweigen bringen möchten.
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Anm. d. Ü. -

* Camera del Lavoro - "Arbeitskammer" - Einrichtung der italienischen Gewerkschaften, Ende d. 19. Jh's als Gegenstück zu den Handelskammern gegründet, zum Studium von Beschäftigungs- und Lohnverhältnissen, auch als Stellenvermittlung und -beratung. Unter dem faschistischen Regime aufgelöst, wurden sie nach der Neugründung 1945 zu offiziellen Zentren der CGIL (Gewerkschaftsverband der Arbeit) in den Provinzen.

** Beamte der Digos wollten Teilnehmer der Kundgebung am 23. Okt. mit einer Präzisionskamera vom Dach eines Hauses aus filmen, wurden aber entdeckt, worauf sie ihr Vorhaben aufgaben. Daraufhin gab es eine Anfrage im Parlament über das Motiv der Aktion.
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Der Prozeß gegen Sud Ribelle
http://italy.indymedia.org/archives/display_by_id.php?feature_id=2119

In der Nacht des 15. November 2002 inhaftieren auf Anweisung der Staatsanwaltschaft Cosenza Spezialeinheiten der ROS* und GOM**, dh. diejenigen, die die Verhaftungen in Aspromonte in Kalabrien ausführen und die in Sizilien Brusca verhafteten, 13 Aktivist/inn/en des Rete Meridionale del Sud Ribelle (Netzwerk des rebellischen Südens), weitere 5 werden unter Hausarrest gestellt [? sono lasciati ai domiciliari]. Im Ganzen werden Untersuchungsverfahren gegen 42 Beschuldigte eingeleitet; die Anklage, die ihnen im Zusammenhang mit den Vorfällen in Neapel und Genua zur Last gelegt wird, lautet auf "Politische Verschwörung vermittels einer Organisation, mit dem Ziel:

  • die Amtsausübung der Regierung zu stören,
  • subversive Propaganda zu betreiben,
  • die wirtschaftliche Ordnung des Staates gewaltsam umzustürzen."


Trotz der Ungläubigkeit der Öffentlichkeit ist sofort klar, worum es sich handelt: um Spezialeinheiten, die nachts in Häuser eindringen, in die Universität von Kalabrien - wo einige der Beschuldigten arbeiten - um Spezialgefängnisse, um Verbrechen des Regimes. Es handelt sich um schwere Anschuldigungen, um harte Haftbedingungen, um Kriminalisierung der gesamten Bewegung und nicht nur um die kleine Gruppe, die unter dem Namen Sud Ribelle bekannt ist. Wer hat aber eine solche Maßnahme angeordnet, und vor allem warum? Die Ermittlungen führten zur Abfassung eines Haftbefehls [mandato di cattura], der gut 357 Seiten umfaßte. Die gesammelten Beweise stützen sich hauptsächlich auf Abhörungen von Telefonen und Computern, die oft außerhalb der ermittelnden Staatsanwaltschaft vorgenommen wurden und daher mit breitem Ermessensspielraum für Polizei und Carabinieri.

Was tun? Das ist die Frage, auf die man in den darauffolgenden hektischen Tagen eine Antwort zu finden versucht. Es wird beschlossen, in derselben Stadt, von der die Untersuchung ausging, eine Demonstration auf die Beine zu stellen: in Cosenza.

Nach einigen Tagen, die sie in den Spezialgefängnissen von Trani, Latina und Viterbo zubringen mußten, werden die Inhaftierten freigelassen. Der Haftentlassungsbescheid datiert vom 2. Dezember 2002, aber eine Verfügung desselben Untersuchungsrichters, der den Haftbefehl vom 22. November 2002 unterschrieben hatte, also am Vorabend der Demonstration, ordnet für vier Personen Hausarrest an und läßt zwei von ihnen wieder frei mit der Begründung, daß sie abgeschworen hätten [con il pretesto dell'abiura]. Ein solcher Sprachgebrauch gibt viel zu denken, da die Gegenreformation in Cosenza, besonders unter dem napoletanischen Adligen Costanzo, Erzbischof der Stadt von 1591 bis 1617, damals entschieden die gleichen Formen angenommen hatte. Sollen wir wieder ein solches Klima erleben? Das können wir nicht glauben, da wir in einer demokratischen Gesellschaft leben, die sich der Gedanken- und Meinungsfreiheit verpflichtet fühlt.

Was geschieht nach der Demonstration? Nachdem das Echo der großem Mobilisierung abgeebbt ist, haben die Beteiligten noch immer mit der Justiz zu tun. Die Verfahrensdauer von Prozessen in Italien ist (wie man weiß) recht lang, zumal wenn man angeklagt ist, die wirtschaftliche Ordnung des Staates umstürzen zu wollen. Aus all diesen Etappen des Gerichtsverfahrens sticht besonders das Urteil des Kassationsgerichtshofs [Rom] vom 9. Mai 2003 hervor, mit dem der Berufung des Staatsanwalts von Cosenza gegen den Haftentlassungsbeschluß des Gerichts [tribunale della libertà - TDL] von Catanzaro vom 2. Dezember 2002 stattgegeben wird. Das Anklage-Plädoyer des Staatsanwalts Veneziani ..., der sich jedoch für die Ablehnung der Berufung ausspricht und die 6-stündige Beratung vor der Entscheidung bestärken das Gefühl starker Einflußnahme auf diesen Prozeß. Die Stellungnahmen von weiteren 40 Beschuldigten, von denen einige im November 2002 im Gefängnis gelandet waren, werden ad acta gelegt. Ein Vorgang, der wie andere Episoden, die im Hintergrund des ... Justizgeschehens geblieben sind, die Schwäche der Anklageerhebung zeigt. Natürlich gab es auch in den folgenden Etappen des Gerichtsverfahrens Solidaritätsbekundungen. Am 2. Dezember wird hier [in Cosenza] die Verhandlung stattfinden. Gegenwärtig ist mit Unterstützung zahlreicher Organisationen eine große für den 27. November vorgesehene landesweite Demonstration im Stadium der Vorbereitung, sowie eine Versammlung am 28. Nov., die um 10 Uhr im besetzten Hörsaal Zenith der Universität Kalabrien abgehalten werden soll.

Wozu hat dieses Gerichtsverfahren gedient? Was steckt dahinter? Einige Personen sind in Hochsicherheitsgefängnisse gewandert. Seit einem Jahr sind noch drei der 18 von diesem Gerichtsverfahren betroffenen Aktivisten der Meldepflicht [obbligo di firma]*** unterworfen. Man wollte die Organisation Sud Ribelle treffen, um der gesamten Bewegung einen Schlag zu versetzen. Eine ganze Stadt, Cosenza, ist als Stadt des Terrorismus bezichtigt worden.

Nähere Einzelheiten:
www.sciroccorosso.org
www.noglobal.org
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Anm. d. Ü. -

* ROS - Ragruppamento Operazioni Speciali - berüchtigte Sondereinheit der Carabinieri

** GOM - Gruppo Operativo Mobile - Bewegliche Einsatztruppe, eine ausgewählte Gruppe von Beamten der Polizia Penitenziaria, 1999 vom damaligen Justizminister Diliberto gegründet; spielte auch bei den Ausschreitungen beim G8-Gipfel von Genua 2001 eine Rolle.

*** Die Meldepflicht wurde erst jetzt, nach Beginn des Prozesses, wieder aufgehoben (siehe letzter Artikel).
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Erste Verhandlung im Prozeß gegen Sud Ribelle
http://italy.indymedia.org/features/calabria/#2100

Da sind wir. Der Prozeß gegen die 13 Aktivisten des Netzwerks Sud Ribelle hat, wie bereits zur Genüge angekündigt wurde, am Morgen des 2. Dezember 2004 gegen 10:30 vor dem Schwurgericht Cosenza begonnen.

Von den Ordnungskräften wurden dabei besondere Sicherheitsmaßnahmen ergriffen. Die Bürger, die dem Prozeß beiwohnen wollten, kamen nur nach einer vorherigen Prozedur zur Identifizierung durch die Sicherheitskräfte in den Gerichtssaal. Diese sah die Vorlage einer Fotokopie des Personalausweises vor, und die Besucher mußten sich einer Reihe peinlich genauer Durchsuchungen unterziehen. Nach den anfänglichen minutiösen Vorsichtsmaßnahmen konnte man im Laufe des Vormittags jedoch ohne Probleme den Gerichtssaal betreten und verlassen. Dies geschah, weil die Digos* zu einem früheren Zeitpunkt, vielleicht noch nicht zufrieden mit der großartigen "Leistung", die sie in den letzten Tagen vollbracht hatte, beabsichtigt hatte, auch der Presse und vor allem den Fernsehkameras den Zutritt zu verwehren. Erst nach einer Intervention durch den Vorsitzenden des Richterkollegiums willigte diese in die Zulassung der Fernsehanstalten ein.

Im Gerichtssaal waren fast alle 13 Aktivisten und die Staatsanwaltschaft [Avvocatura dello Stato] anwesend. Diese hatte in der Vorverhandlung eine Entschädigung von 5 Millionen Euro für Image-Schäden beantragt. Anwesend waren auch der Staatsanwalt (PM) und die Anwälte der Verteidigung, sowie Spartaco Mortola. Letzterer war auf Antrag einer der Rechtsanwälte vom Richter vorgeladen worden. Zusammen mit dem Chef der Digos von Cosenza, Alfredo Cantafora, mußte er sich dann aus dem Gerichtssaal entfernen, da beide Zeugen der Anklage und daher von der Verhandlung ausgeschlossen waren. Zur Person Spartaco Mortolas: er war der frühere Chef der Digos von Genua in den Tagen des G8. Gegen ihn wurde eine Untersuchung eingeleitet und ein Prozeß eröffnet wegen der Gewalttaten auf der Piazza, besonders wegen des Fußtritts gegen einen Jungen durch einen seiner Beamten (festgehalten auf einer Fotosequenz, die weite Verbreitung fand).

Speziell wurden vom Verteidigerkollegium, das eine einheitliche Linie verfolgten, drei Einwände vorgebracht:

  • Territoriale Nichtzuständigkeit. Die strittigen Tatbestände (Verhaltensweisen) können nicht dem Zuständigkeitsbereich der Staatsanwaltschaft Cosenza zugeordnet werden, sondern beziehen sich auf Fakten, die die Mobilisierungen in Neapel und Genua betreffen. Die territoriale Zuordnung auf [den Gerichtsort] Cosenza, so argumentiert einer der Verteidiger, wirft ein Licht auf den politischen Charakter dieser Maßnahme und erhärtet die These, nach der die ... ROS* von Staatsanwaltschaft zu Staatsanwaltschaft gegangen seien, bis sie in Cosenza landeten;
  • Nichtigkeit einiger Abhörmaßnahmen, die ohne Beteiligung der zuständigen Staatsanwaltschaft und daher ohne angemessene Garantien für die Beschuldigten vorgenommen wurden;
  • Unzulässige Einsetzung (?) der Zivilkläger - ein weiteres politisches Faktum, so argumentiert die Verteidigung weiter - angesichts mangelnder Begründungen, mit der der Vorsitzende des Ministerrats das Mandat für deren Einsetzung den Ministern für Verteidigung und des Innern eingeräumt hat.


Danach wurde die Frage der Unvereinbarkeit (des Staatsanwalts) Fiordalisi mit dem Gericht in Cosenza zur Sprache gebracht, wegen seiner Versetzung an die Staatsanwaltschaft von Paola und wegen der Unregelmäßigkeiten bei dem Vorgang(?), bei dem ihm die Zuständigkeit für diesen Prozeß übertragen wurde. Darüber hat sich das Schwurgericht jedoch bereits geäußert. Das Schwurgericht setzt sich außer einem Vorsitzenden und einem Richter noch aus 8 Geschworenen [giudici popolari] zusammen. Es hat sich die Entscheidung darüber für den 20. Dezember vorbehalten. Binnen drei Tagen wird es außerdem über den Antrag auf Rücknahme der Vorsichtsmaßnahmen gegen drei Aktivisten entscheiden, die seit über einem Jahr der Meldepflicht unterliegen.

Nähere Einzelheiten:
http://www.sciroccorosso.org/

Schwurgericht Cosenza nimmt Anordnung der Meldepflicht gegen Caruso, Cirillo und Santagata zurück
http://italy.indymedia.org/news/2004/12/691441.php

(ANSA) - Cosenza, 9. Dez. Das Schwurgericht Cosenza, an dem der Prozeß gegen die 13 wegen Bildung einer subversiven Organisation angeklagten Globalisierungsgegner verhandelt wird, hat die Anordnung der Meldepflicht gegen drei der Beschuldigten, Francesco Caruso, Francesco Cirillo und Michele Santagata zurückgenommen. Mit dieser Entscheidung akzeptierte das Gericht das Gesuch der Verteidiger der drei Angeklagten. Durch die ein Jahr andauernde Zwangsmaßnahme war den drei Aktivisten auferlegt worden, täglich in den Kasernen der Carabinieri ihre Unterschrift abzugeben. "Endlich", sagte Francesco Cirillo, "habe ich meine Bewegungsfreiheit wiederbekommen. Seit einem Jahr war ich gezwungen, zwischen 12 und 13 Uhr nach Diamante zurückzukehren, um in der Carabinieri-Kaserne meine Unterschrift abzugeben. Ein Jahr lang war ich meiner Freiheit beraubt, mich nach meinem Gusto bewegen zu können, sei es in meiner Arbeit als Journalist, die stark eingeschränkt wurde, oder in meiner Tätigkeit als militanter Aktivist. Ich halte die Rücknahme der Anordnung für einen ersten Schritt in Richtung Wahrheit, eine Wahrheit, die zwei Jahre lang verschwiegen wurde und nur in der Lesart der Staatsanwaltschaft und in den Berichten der ROS und Digos* vorkam. Jetzt endlich wird auch einmal eine andere Stimme zu hören sein, die unsere. In dem Prozeß, der am 20. Dezember weitergehen wird, werde ich weiter diese schwere Schikane anklagen, die gegen uns 13 militante Globalisierungsgegner mit unserer Verhaftung und den 18 Tagen verschärfter Haft und schließlich mit der Verhängung der Meldepflicht für mich, Caruso und Santagata verübt wurde."
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* DIGOS - Divisione Investigazioni Generali e Operazioni Speciali - Sonderabteilung des Staatsschutzes

Zur Vorgeschichte:

http://de.indymedia.org//2002/11/34449.shtml
http://de.indymedia.org//2002/11/34748.shtml
http://de.indymedia.org//2002/11/35100.shtml
http://de.indymedia.org//2002/11/35377.shtml
http://de.indymedia.org//2004/02/75187.shtml
http://de.indymedia.org//2004/02/75276.shtml

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Ergänzungen

Telepolis Artikel

verlinker 13.12.2004 - 08:23
Ein Artikel zum Auftakt des Verfahrens:

 http://www.heise.de/tp/r4/artikel/18/18911/1.html

Mortola

rf 13.12.2004 - 19:51
Spartaco Mortola wurde von der Sache mit dem Übergriff in der Via Barabino kürzlich freigesprochen. Ein anderer Polizist wurde zu 18 Monaten und einer Geldstrafe von 10000 Euro verurteilt, weitere 5 Beamte sollen noch vor Gericht, unter ihnen der berüchtigte Alessandro Perugini.
In Cosenza wurde Mortola auf Verlangen von einer Anwältin der Verteidigung aus dem Saal verbannt.

Zum TP-Artikel

rf 13.12.2004 - 20:28
Nach dem hier erneut auf den TP-Artikel verwiesen wird halte ich die eine oder andere Präzisierung zum Cosenza-Verfahren für notwendig. Möge Harald Neuber mir das nicht übel nehmen.

Zu den Aktionen in Supermärkten: Seit anderthalb Jahren kommt es immer wieder zu Aktionen in Supermärkten, wobei nur ein Teil tatsächlich unter dem Label "Disobbedienti" lief. Kürzlich wurden beispielsweise Menschen aus Mailand wegen einer Aktion mit Selbstaneignung angezeigt, die sich ausdrücklich verbitten, mit dem Stempel Disobbedienti versehen zu werden. Die meisten Aktionen in der Vergangenheit liefen allerdings anders ab als im besagten Artikel dargestellt. Gruppen von Aktivisten betraten Supermärkte, füllten die Einkaufswägen und machten dann in den meisten Fällen lediglich Kommunikationsguerilla an der Kasse. Manchmal wurde dabei ein Transparent entrollt, manchmal wurden Spuckis oder Flyer verteilt, in denen die Verschlechterung der Lebensbedingungen und die Geldknappheit durch prekäre Arbeitsverhältnisse und um sich greifende Entlassungswellen thematisiert wurden. Es wurde keineswegs geplündert, sondern diskutiert und verhandelt. An der Kasse, mit den Kassiererinnen, in der Warteschlage mit den Kunden und am Ende mit den Filialleitern, weil das Ziel der Aktionen zumeist war, auf dem Verhandlungsweg zehn bis fünfzehn Prozent „Sozialrabatt“ auf den Einkauf durchzusetzen. Mehrfach wurde der Rabatt auch gewährt. Mehrfach schlossen sich gewöhnliche Kunden an.

Parallel zu politischen Mobilisierungen zu sozialen Fragen wurden dann einige Blockaden von Supermärkten organisiert, auch hier mit dem primären Ziel der Kommunikation auf der Straße über soziale und politische Missstände. Die Sache ist als eine direkte Antwort auf die Frage zustande gekommen, wie denn in dieser Epoche sozialer Widerstand und Protest organisiert werden können, erst recht angesichts des Verschwindens der herkömmlichen Arbeiterklasse durch dem Vormarsch der Globalisierung und besonders der immateriellen Arbeit und der Flexibilisierung bis zur Entmenschlichung. Der Prozess fand durchaus auch als Abgrenzung von einer „Arbeiterklasse“ statt, die es als solche nicht mehr gibt, die vormals wohl in der Lage war durch massenhafte Niederlegung der Arbeit beträchtlichen Druck zu erzeugen, aber inzwischen selbst immer mehr in prekäre Verhältnisse hineinrutscht, die vieles nichtig machen, woraus sie ihre Stärke bezog. Die Betroffenen der Flexibilisierung haben beispielsweise u.a. keine Möglichkeit zu gewerkschaftlicher Organisation und fliegen einfach, wenn sie aufmucken. Sie sind ausgeschlossen von fundamentalen sozialen Sicherheiten und Arbeiterrechte sind ein Fremdwort.

Es ist jedenfalls wichtig festzuhalten, dass die ganze Sache keineswegs eine reine Disobbedienti-Geschichte ist. Diese waren sicher sowohl auf der Ebene der Analyse als auch in der Praxis auch dabei, aber es gibt Aktivisten, die im besagten Prozess eine sehr wichtige Rolle gespielt haben, die man mit der Bezeichnung Disobbedienti wirklich nur verärgert, vor allem die Erfinder von San Precario, dem heiligen Schutzpatron der prekären Arbeiter. Ihr Recht, mitsamt der ins Leben gerufenen Initiativen nicht immer zu Disobbedienti gemacht zu werden, sollte respektiert werden. Besonders zu erwähnen im Bereich der Massenmobilisierungen gehören auf dieser Ebene die mittlerweile vierte Ausgabe der Mayday vom vergangenen 1. 5. und die Demonstration gegen das Präkariat vom vergangenen 6. November.

In Mailand beteiligten sich am 1. Mai 2004 über 100.000 Menschen an diese noch relativ neue Form des Protestes und der Mobilisierung. Der kreative und kommunikative Faktor standen im Vordergrund, statt der „Festa dei lavoratori“ wurde eine gigantische „Festa degli invisibili“ (Fest der Unsichtbaren) gefeiert. In Deutschland heißt der 1. Mai Tag der Arbeit, in Italien heißt er hingegen Tag der Arbeiter. Die wachsende soziale Schicht der „Unsichtbaren“, die in prekären Verhältnissen in ständiger wirtschaftlicher Unsicherheit leben, hat eindeutig begonnen, sich auf breiter Basis als ein neues soziales Subjekt wahrzunehmen und zu artikulieren, das auf seine Probleme Bezug nimmt und entsprechend Forderungen entwickelt und auch Alternativen. Es ist jedenfalls alles andere als unerheblich, dass 100.000, die tanzend durch die Straßen ziehen, den immer noch mehrere Millionen Mitglieder starken Gewerkschaften und ihren längst hohl und träge gewordenen Veranstaltungen inhaltlich wie Zahlenmäßig ernsthaft Konkurrenz machen, und das auch noch tanzend.

Der soziale Erfolg der letzten Mayday Parade war jedenfalls schlicht überwältigend, und wenn´ s auch eigentlich nur eine Party war. Parallel zur Parade, die tanzend durch die Straßen Mailands zog und international besucht und angelegt war, wurden u.a. die Eingänge von mehreren Discountketten blockiert, wieder mit dem Ziel, mit den „Verbrauchern“, von denen viele das gleiche Elend erleben, zu kommunizieren und um das Unwesen der globalisierten Marktwirtschaft und der Flexibilisierung der Arbeit am leibhaftigen Beispiel anzuprangern und zum Thema zu machen. San Precario begann daraufhin überall im Land zu erscheinen. Wenn der Ungehorsam eine gute Intuition war (Zitat Casarini via Neuber), dann ist San Precario aber auch eine gesegnete Idee gewesen, die schwer geholfen hat, das Thema in die Gesellschaft hineinzutragen, was angesichts der informationellen Gleichschaltung im Lande überhaupt nicht einfach ist.

Zum 6. November wird dann eine landesweite Mobilisierung nach Rom angesetzt, an der 20.000 Menschen Teil nehmen. Es wird gegen das Präkariat demonstriert, und für Sozialhilfe, die es in Italien ja nicht gibt. Die Vorzeichen sind schwierig, die institutionelle Linke stiftet Verwirrung und erzeugt Spannung, in dem sie davon spricht, zum selben Tag den lange angekündigten Protest gegen die Finanzreform anzusetzen und auch intern wird heftig diskutiert. 20.000 sind im Licht der Rahmenbedingungen ein großer Erfolg. In der Woche darauf demonstrieren die Basisgewerkschaften gegen die Schulreform, die eine weitere sehr üble Ausgeburt der neoliberalen Umtriebe ist und 80 Prozent der Angestellten im Schulwesen machen mit. Auch hier ist das Präkariat ein vordergründiges Thema, ganz ungeachtet des Wirbels, den zwei Ereignisse am 6. November verursacht haben.

Am 6. November war es zu zwei Disobbedienti-geführten Fällen von „Selbstaneignung“ gekommen. Es sind wohl jene „Plünderungen“ auf die sich Neuber bezieht. In einem Kaufhaus werden zahlreiche Güter aus den Regalen genommen und auf der Straße verteilt, vom Edelschinken zum Computer. Dabei kommt es vereinzelt zu Auseinandersetzungen mit Angestellten. Wenig später wird die Buchhandlung Feltrinelli geentert und geistige Nahrung zum Nulltarif erworben. Der Innenminister und die Medien toben. Auf allen Kanälen wird das Gespenst der Spannung der siebziger Jahre heraufbeschworen, die Zeitungen und alle Medien sind voll davon. Binnen kurzer Zeit sind 82 Teilnehmer (also die meisten) per Bildauswertung identifiziert. Es hagelt Anzeigen.

Arbeiter, die seit drei Monaten keinen Lohn mehr bekommen und vor dem Verlust ihrer Arbeitsplätze stehen bringen mit einer recht überraschenden Aktion die politischen und medialen Wetterer wieder auf den Teppich. Sie ziehen wenige Tage nach der umstrittenen Disobbedienti-Aktion mit 500 Mann los und machen eine Demonstration in einem Megadiscountladen. Sie reden mit den Kunden und mit der Geschäftsleitung, schildern ihre Not, nehmen den gesamten Nudelnbestand mit und schenken demonstrativ die Hälfte der örtlichen Caritas, unter Hinweis darauf, dass es noch mehr Menschen gibt, denen es so schlecht wie ihnen oder sogar noch schlechter. Die Agitation aus dem Innenministerium und aus den Redaktionen der Massenmedien ist nach hinten los gegangen. Sie haben das Thema der Selbstaneignung als Verbrechen transportiert aber zumindest jene Arbeiter haben sich nicht lumpen lassen und die Selbstaneignung als Antwort auf die Not flugs neu behauptet. Die Geschäftsleitung macht daraufhin gute Miene zu bösem Spiel und erklärt die von den Arbeitern mitgenommene Ware zur Schenkung. Derweil schreiben verschiedene Verlage die Buchhandlung Feltrinelli an und machen die aus ihren Häusern stammenden entwendeten Bücher ebenfalls zu Geschenken. Ein Trittbrettfahrer macht aus der Sache einen Werbegag. Wer an dem und dem Tag zu der und der Zeit in einer Minute einsammelt, soviel er tragen kann und damit die Kasse passiert, darf die Ware behalten. Die Medien können noch so gleichgeschaltet den angeblichen Terror an die wand malen. Eine gesellschaftliche Verurteilung kann schließlich aber nicht wirklich durchgesetzt werden.

Von „Plünderungen von Kaufhäusern“ jedenfalls, kann auf keinen Fall die Rede sein. Zu viel unterscheidet die Aktionen von den legendären „Espropri proletari“ (Proletarische Enteignungen) der siebziger Jahre, die der Innenminister mit aller Gewalt wieder auf dem Vormarsch mutmaßen wollte. Das ihm dies nicht wirklich gelungen ist, ändert nichts daran, dass die Ordnungshüter in Folge der jüngsten Disobbedienti-Aktionen sehr wohl Befehl haben, bei künftigen Initiativen mit ähnlichem Ansatz an Ort und Stelle Verhaftungen wegen Diebstahl und Plünderung vorzunehmen und zügige Strafverfolgung einzuleiten.

Ob und in welchem Zusammenhang Casarini wirklich von „proletarischem Einkauf“ gesprochen hat weiß nur Neuber, der die Quelle kennt. Der Terminus jedenfalls ist nicht korrekt. Landauf landab wird vielmehr von „spesa sociale“ gesprochen, von sozialem Einkauf. Dahinter steckt der Gedanke, dass die Lebensverhältnisse immer mehr Menschen die Befriedigung der wichtigsten Bedürfnisse verunmöglichen und dass solche Aktionen der Geltendmachung von elementaren Rechten dienen, die von der Politik und von der Wirtschaft mit Füßen getreten werden. Die Bezeichnung „Robin-Hood Aktionen“ ist entsprechend ebenfalls mit Vorsicht zu genießen. Bei den Aktionen stehen der Kommunikationsfaktor im Vordergrund und das partizipative Prinzip. Die Aktionen sind als politische Aussagen und politische Handlungen gemeint. Die Vorstellung, dass Wenige Protagonisten eine passive Masse von Armutsgeplagten beschenken greift in jeder Hinsicht zu kurz, weil bei den wachsenden Bewegungen gegen die Flexibilisierung des Lebens und der Arbeit und die soziale Verelendung ganz klar der partizipative Ansatz eines Geistes dominiert, bei dem es darum geht, sich als ein aus lauter mit Bedürfnissen ausgestatteten Individualitäten, die sich auf Schritt und Tritt beschnitten sehen, als soziales Subjekt zu behaupten, das selbstbewusst auf das eigene Elend reagiert.

In einem weiteren Absatz des TP-Artikels werden Stimmen von Politikern der institutionellen Linken zitiert. Ergänzend zu den Zitaten kann vielleicht von Interesse sein, dass von großen Teilen der sozialen Bewegungen und von den meisten Betroffenen auf die erwähnte Solidarisierung mindestens kritisch, teils aber direkt konfrontativ reagiert wurde, war es doch gerade Bertinotti, der eine regelrechte Kampagne „gegen Gewalt“ führte, die durchaus mit zur Kriminalisierung von bestimmten Formen des Ungehorsams beitrug und bewegungs- wie parteiinterne Konflikte produzierte, nicht nur als er aus wahltaktischen Gründen und um seinen Platz im Eurobündnis der linken Parteien zu erobern für die gesamte Partei öffentlich der Gewalt abschwor, sondern auch anlässlich von unzähligen Initiativen der Bewegung. Casarini gab sich besonders hart: Er sagte sinngemäß, dass er die Solidarität derer, die nicht voll und ganz auf seiner Seite sind, nicht braucht und nicht will. Das Problem brachte er wie folgt auf den Punkt: „Die Bewegungen stellen Probleme zur Debatte, daher sage ich dem Parteiensystem: Entweder ihr setzt euch auch mit den Problemen auseinander, oder eure Solidarität ist nutzlos. Mir scheint so, um es in Anlehnung an ein Plakat von Alleanza Nazionale zu paraphrasieren, dass wir Verbündete sind, wenn gewählt wird und Gewalttäter, wenn wir kämpfen. Wir sind OK und kompatibel, wen man uns den Prozess macht, aber wenn wir das Recht auf Widerstand anwenden, sind wir Kriminelle“.

Eine recht grobe Ungenauigkeit hat sich dann im darauf folgenden Absatz eingeschlichen:
Die Zahl 7000 bezieht sich auf die Verfahren, die in Italien seit 1995 gegen Aktivisten aller Art eröffnet worden sind und nicht erst nach Genua. Der Unterschied ist in Hinblick auf eine korrekte Interpretation dessen, was vor sich geht, nicht unerheblich. Die operativen Anfänge der „neuen“ Repression, die eigentlich nur schleppend als solche erkannt und immer lauter beklagt werden, lassen sich bei genauer Betrachtung bis in jene Zeit zurückverfolgen. Konzeptionell arbeitete zwar schon seit den achtziger Jahren mancher Law-and-order Think-Tank an der Sache und sicher kam es zu einer Beschleunigung des Prozesses durch die Riots in Los Angeles nach der Ermordung Rodney Kings mit 56 Polizeiknüppelschlägen und zu einer Verschärfung gegen soziale Bewegungen im Besonderen nach Seattle. Gerade ab Mitte der 90er Jahre aber, besonders ab 96/97 geht es im europäischen Raum ganz nach Plan mit zunehmender repressiver Geschwindigkeit hart zur Sache. Polizeien werden umstrukturiert, strafrechtliche Ansätze werden umgekrempelt, Kompetenzen der Exekutive besorgniserregend erweitert.

Der Prozess in Cosenza spielt sich auch daher wirklich nur teilweise als ein Versuch ab, die miese Figur, welche die italienische Regierung und deren Repressionsapparat 2001 beim G8 und zuvor bei den OECD Protesten in Neapel machten auszugleichen. Es gibt zusätzlich ganz klar auch eine weitere Dimension, die anhand der Hintermänner der Aktion sichtbar wird und wiederum zur gleichen Zeit einen europäischen, einen nationalen und last not least einen lokalen Hintergrund hat.

Die Jahre von 96 an sind europaweit nicht zuletzt durch massive Propaganda rund um die so genante Bekämpfung der organisierten Kriminalität charakterisiert. In deren Schatten wird massiv und handfest umstrukturiert, der europäische Repressions- und Strafverfolgungsapparat wird mächtig ausgebaut und es passiert im Zuge dessen auch einiges bei den Polizeien der Mitgliedstaaten (diese Kontinuität scheinen viele durch Genua und den 11 September leider nachhaltig aus den Augen verloren zu haben). Cosenza ist dabei nicht zuletzt die Geschichte eines richtig großen Lauschangriffs, eine Sache, die in Italien nicht neu ist, aber in dem Fall durchaus im Schatten der Euromanöver stand (experimentelles Erproben von Email-Überwachung war Italien "zugeteilt") und genau so durchgeführt wurde und wird, wie sie mit dem Vorwand der Bekämpfung der organisierten Kriminalität in jenen Jahren gar schwerpunktmäßig ausgeweitet wurde, wobei sie in Cosenza im politischen Bereich stattfand, was zu der Zeit zumindest auf europäischer Ebene arg außerhalb des an sich schon umstrittenen rechtlichen Rahmens passierte. Über achtzehn Monate hinweg werden die Betroffenen beschattet und heimlich gefilmt, Telefone werden abgehört, Wohnungen, Autos und Treffpunkte bekommen manche Wanze ab, 60.000 Emails werden mitgelesen. Carlo Giuliani war da noch lange nicht tot, die Aktivitäten zur Zerschlagung der Welle, die mit Genua und den sozialen Bewegungen überhaupt gegen Globalisierung und Neoliberalismus aufzukommen schien, waren aber sehr wohl schon längst im Gange.

Hintermänner der Aktion im italienischen Süden waren und sind die Carabinieri der ROS, (Reparto operativo speciale) eine sehr berüchtigte Carabinieri-Spezialeinheit, die sonst noch - international - besonders im Drogenbereich von sich reden gemacht hat. Wie im Zuge der Reorganisation der Sicherheit in Europa gerade über die Drogenhandelbekämpfung entscheidende und hochproblematische polizeiliche Kompetenzerweiterungen vollzogen werden, haben gelegentlich kritische Anwälte und Bürgerrechtler beschrieben*. Interessanterweise geht es den ROS inzwischen gerade in Zusammenhang mit Drogengeschäften im großen Stil wegen krimineller Vereinigung an den Kragen: sie stehen derzeit wegen Geschäften vor Gericht, die sie bis 1997 nach einem Muster abgewickelt haben sollen, dessen Grundzüge erschreckende Ähnlichkeiten mit Vorgehensweisen und fragwürdigen Handlungsbefugnissen aufweist, an denen nicht viel später im Eurorahmen der Bekämpfung des organisierten Verbrechens eifrig gebastelt werden wird**. Kriminelle Vereinigung ist es nach Ansicht von ermittelnden Staatsanwälten, weil persönliche Bereicherung und Interessen hinter den Aktivitäten steckten. In Zusammenhang mit dem Verfahren in Cosenza stellt sich also auch die Frage des systematischen Amtsmissbrauchs, insbesondere innerhalb von polizeilichen Spezialeinheiten - Amtsmissbrauch, um sich schlicht und einfach einen Platz an der Sonne, Arbeit, die von ungemütlicheren Tätigkeiten abhält und verschiedene Vorteile zu sichern. Die Gefahren, die mit Polizeien, die nahezu keinerlei Kontrolle mehr unterliegen, einhergehen, werden dabei deutlich unterschätzt, so viel ist sicher.

Nicht nur der in Cosenza angeklagte Lehrer Claudio Dionesalvi bringt diesen Aspekt in Zusammenhang mit dem Verfahren zur Sprache: „das wirkliche Problem ist Folgendes: in Mailand läuft gerade wegen internationalem Drogenhandel und weil sie Ermittlungsverfahren kunstvoll inszeniert haben, die jenen Carabinieri die Möglichkeit bieten, zu arbeiten und neue Finanzmittel zu erbitten, ein Prozess gegen die ROS an... es ist nicht meine Aussage, es ist der Journalist D´Avanzo, der das sagt: eins der kunstvoll inszenierten Ermittlungsverfahren ist jenes gegen uns... wenn es eines Tages kein Problem mit dem politischen Dissens mehr geben sollte, dann hätten sie keinen Vorwand mehr, um jemanden in den Knast zu schicken... und das gilt auch für Herrn Cantafora, der in den letzten Jahren allein Dank unseren ganz und gar nicht heimlichen Aktivitäten die Antiterrorgruppe in Cosenza aufrecht erhält... die Funktionäre der Digos (politische Polizei) von Cosenza leben von unserem Unglück, wenn wir nichts anstellen, unternehmen eben sie etwas und entgehen so den Aktivitäten, denen sie nachgehen sollten (gemeint ist u.a. die Bekämpfung der Mafia, d.Ü.)“.

Es ist wichtig festzuhalten, dass in Cosenza u.a. Menschen unter Anklage stehen, die, oft mit journalistischen Mitteln und sonst mit Protestaktionen entschlossen Initiative gegen zahlreiche Untaten von lokalen Machtinhabern und Kriminellen ergriffen haben. Ursprünglich waren u.a. auch Basisgewerkschafter und Medienaktivisten aus dem relativ nahe gelegenen Taranto mitangeklagt, gegen die nun gesondert vorgegangen wird. Einige von ihnen setzten sich nicht zuletzt stark gegen den dortigen Stützpunkt der Nato ein und für sehr engagierte Gegenöffentlichkeit nach Genua. Zwei der verbliebenen Angeklagten in Cosenza waren Polizisten auf die Schliche gekommen, die Schmiergelder von Migranten verlangten, andere hatten ökologische Schwerverbrechen aufgedeckt usw. Das 2001 zur regionalen Vernetzung der unterschiedlichen lokalen Kämpfe gegründete Netzwerk des Sud Ribelle, das von den Ermittlern der ROS zum Muttergestein der angeblichen subversiven Vereinigung erklärt wurde, wegen der jetzt das Verfahren läuft, besetzte und blockierte eine Zeit lang viel und sehr entschlossen. Besonders starke globalisierungskritische Aufmerksamkeit widmete es mit Aktionen und Besetzungen den Zeitarbeitagenturen in der Region und einigen McDonalds Filialen. Alle haben sich also bestenfalls an absolut öffentlichen sozialen Kämpfen in ihrer Region beteiligt, die gar nicht Gegenstand des Verfahrens sind und natürlich auch die großen Termine in Neapel und Genua wahrgenommen.

Fakt ist, die Mehrzahl von ihnen hat, wenn überhaupt, vor Allem lokal, in der eigenen Umgebung, "gestört", und zwar besonders die Herren der süditalienischen Provinz-Potentate und die NATO-Herren. Vorgeworfen wird den Aktivisten aber die konspirative Vorbereitung der Unruhen in Neapel und Genua. Die Nachweise: ein Kartenhaus. Emails und Telefonate, in einer aktionsreichen Zeit, bei denen mancher sporadisch zu laut dachte. Große neue Themen und Konzepte, die nur zu logisch im Mittelpunkt eines massenhaften kollektiven Definitionsprozess von neuer Kritik und neuer Praxis waren. Am Horizont, der G8 Gipfel in Genua. Die Lauscher destillieren aus vielen Tausend Abhör- und Überwachungsprotokollen einige wenige verbale Aussagen und machen Sie zu Indizien, die jetzt vor Gericht die konspirative Absicht, in Neapel und Genua die herrschende Ordnung zu kippen nachweisen sollen. Im Vorfeld von Genua und während des G8 selbst aber nahm das Netzwerk, wie viele andere Gruppen und Netzwerke auch, bloß an der politischen Diskussion und dann an den Protesten Teil. In Neapel brachte sich das Netzwerk als Teil der lokalen Zusammenhänge äußerst logisch intensiv ein, mehr aber auch nicht. Dem martialischen Aufgebot zum Schutz des OECD-Gipfels, das die Prügelorgien von Genua einen bis heute anhaltenden Schock hinterlassend vorweg nahm, trat es jedenfalls allein mit Gemüse Bewaffnet entgegen.

Die ROS wanderten entsprechend lange Zeit erfolglos mit ihren ungeheuer voluminösen Ermittlungsakten von Staatsanwaltschaft zu Staatsanwaltschaft. Niemand nahm sie und ihre abenteuerlichen Konstrukte für voll, sie ernteten eine Abfuhr nach der anderen. Dass sie in Cosenza endlich die richtigen Partner fanden, ist auch aus den oben angführten Gründen kein Zufall. Der Staatsanwalt, der meint, mit den schrägen Ermittlungsergebnissen der ROS 300%ig etwas anfangen zu können, gehört selbst zur Kaste, die örtlich alle Macht besitzt. Die ROS selbst haben nach wie vor ihre ganz eigenen Gründe, den bunten Haufen ins Kittchen befördern zu wollen. Mit der Verhaftungswelle von 2002 wird endlich zugeschlagen, deoch das ganze Land erhebt sich. Die Leute kommen bald frei. Das ganze Verfahren wird später auch noch richterlich abgeschmettert. Der anklagende Staatsanwalt aber drängte mit aller Gewalt auf Revision und Wiederaufnahme und setzte sich in 12 Fällen plus einen (Luca Casarini, der ursprünglich nicht angeklagt war und nur wegen Genua, aber nicht wegen Neapel – die Disobbedienti nahmen an den OECD-Gipfelprotesten schließlich nicht Teil ) durch.

Bis auf Casarini stammen die Betroffenen aus dem tiefen Süden. Vor diesem Hintergrund ist es um so wichtiger, von der Lesart „Prozess gegen die Disobbedienti“ Abstand zu nehmen. Wenn überhaupt, bleibt es der Prozess gegen das Netzwerk Sud Ribelle und/oder gegen globalisierungskritische Aktivisten der sozialen Bewegungen. Der Prozess bleibt dabei, wie alle Welt sagt, nichts als ein extrem schräges Konstrukt. Caruso ist dabei mit Casarini der einzige Disobbediente. 2001 war er eine Galionsfigur des Netzwerks, das wiederum Teil des größeren Netzwerks Rete No Global war, das vornehmlich im Süden verankert war. Casarini wiederum war Sprecher und Galionsfigur der Tute Bianche aus Nord- und Mittelitalien, die sich nach Genua auflösten und in den Disobbedienti aufgingen. Zahlreiche Angeklagte kannten die beiden Frontmänner von jenen besonders starken und aktiven Gruppen, die sich mit jeweils eigenen Konzepten für radikalen Ungehorsam aussprachen, gar nicht persönlich. Nur weil Caruso dabei ist und Casarini noch dazu gepackt wurde von einem Prozess gegen die Disobbedienti zu sprechen, ist daher nicht korrekt und gewissermaßen auch unfair, abgesehen davon, dass so nichts als die staatliche Lesart übernommen wird, was von den staatlichen und medialen Desinformationskanälen auch klar gewollt ist.

Auf keinen Fall ist nämlich die Behauptung zulässig, dass es sich bei dem Verfahren um ein Verfahren gegen die Disobbedienti handelt und schon gar nicht ist es angebracht, den Focus auf die bekannte Gestalt Luca Casarini und eventuell auf den ebenfalls sehr bekannten Caruso zu richten. Damit wird nur eine gekünstelte behördliche Lesart übernommen, die nichts Gutes im Sinn hat. Die anderen und damit die Breite des Widerstands und des sozialen Protestes werden weggeschwiegen, die Disobbedienti zum gefährlichen Element stilisiert und alles, was bei breiten Mobilisierungen passiert und nicht gerade Bankautomaten und Schaufenster smashen ist, wird meistens pauschal auf ihr Konto geschrieben und Kraft des Klischees a priori kriminalisiert, wenigstens grob gesagt. kleine Notiz am Rande sei auch die Tatsache erwähnt, dass die Disobbedienti aus dem Nordosten zur Zeit des OECD Gipfels nur so auf Abstand vom Sud Ribelle gingen und gar nicht erst an den Protesten in Neapel Teil nahmen.

Klar handelt es sich um ein Angriff auf die sozialen Bewegungen und um eine Abrechnung wegen Genua und vor Allem um ein Verfahren, das darauf abzielt, nicht zuletzt den Ungehorsam als Gesinnungstat zu bestrafen. Die Disobbedienti sind aber nicht der eigentliche Mittelpunkt. Wenn es eine Zielscheibe gibt, dann ist es genau das, was das breite Spektrum mit seinem Gesamtpotenzial bildet. Der Prozess zielt auf die Gesinnung ab. Die Anklage will nachweisen, dass die Unruhen in Neapel und Genua konspirativ geplant wurden, um die wirtschaftliche und staatliche Ordnung zu kippen. Da steckt mehr dahinter, als der blanke Versuch, peinliches Polizeiversagen in Genua zu verschleiern. Käme es zu einer Verurteilung, so würde bald ziemlich jeder selbst organisierte Protest Vorwände bieten, Aktivisten gleich für viele Jahre allein aufgrund von ihrer Dissidenz aus dem Verkehr zu ziehen. Die drohenden Strafen sind nämlich empfindlich hoch.

Auch handelt es sich beim Prozess in Cosenza nicht um ein neues Verfahren. Es ist immer noch das gleiche Verfahren, das 2002 gegen Aktivisten des Netzwerkes Rete del Sud Ribelle angestrengt wurde, welches beinahe zeitgleich mit der Verfolgung der 25 Teilnehmern an den Anti-g8 Protesten 2001 in Genua per Verhaftungswelle die Bewegungen einholte. Wie gesagt, war das Verfahren zuerst abgeschmettert und dann wiederaufgenommen worden. Die Zahl der ursprünglich Angeklagten sank auf 12 und der Disobbedienti-Frontmann aus dem fernen Nordosten Luca Casarini wurde zweckmäßig zum 13. Mann gemacht. Ihm und Caruso unterstellt man, vor Genua per Telefon schon über „Treffen“ im Carlini-Stadion, dem Lager der Tute Bianche gesprochen zu haben und dann in den Souterains des Stadions mit Schwarzerblock-Angehörigen aus dem Norden zusammengekommen zu sein um „etwas gemeinsames auf der Ebene des Ungehorsams zu organisieren“.



* Ein interessanter Überblick über europäische Sicherheit von 1993  http://www.rav.de/kongress/

** Grenzüberschreitende verdeckte Ermittlungen  http://www.rav.de/download/rav_3_europol.pdf

ooops! link falsch datiert

rf 16.12.2004 - 16:57
2003. Die rav-Texte sind von 2003. Sorry.