Umgang mit Corona-Demos am Beispiel Tübingen

Bild von der Kundgebung gegen die Coronanaßnahmen in Tübingen

Die Pandemie stellt eine relativ neue Situation dar, deren politische Folgen auch für die meisten Linken erstmal zu vielen Fragezeichen führt. Inzwischen scheint sich der Konsens, eher gegen die Corona-Demos zu demonstrieren, als zu versuchen, dort Einfluss zu gewinnen, anzudeuten. Mit einem Blick auf die Tübinger Demo gegen die Corona-Maßnahmen, auf die Interventionsversuche von Genoss*innen aus Dortmund und die Dynamiken der Proteste gegen Stuttgart21 oder der Gelbwesten in Frankreich, halten wir diesen Konsens aber für fragwürdig. Wir werden hier begründen warum und hoffen auf eine produktive Diskussion.

Am vergangenen Samstag (30.5.) fand in Tübingen die erste Querdenken7071-Kundgebung (Live-Blog im Schwäbischen Tagblatt) statt. Die Organisatoren sahen sich als offizielle Ableger der Querdenken711, die Veranstaler*innen der großen Demos im 50min/13,50Euro (Bahn) entferten Stuttgart, wo bis zu 15.000 Menschen an den Demos gegen die Corona-Maßnahmen teilnahmen. Kurz zuvor war in der benachbarten Großstadt Reutlingen eine 'Corona-Demo' von der AfD angemeldet worden, die aber mangels Teilnahme für die Rechten ein ziemlicher Flop war.
In Tübingen hatte das OTFR (offenen Treffen gegen Faschismus und Rassismus) hatte im Vorfeld auf die Querdenken7071-Veranstaltung aufmerksam gemacht und war auch vor Ort mit Flyern anwesend. Allerdings - auf der Wiese ein Bereich für die Kundgebung abgegrenzt in dem die Teilnehmenden saßen - standen das OTFR und andere (auch antideutsche) Antifas außerhalb dieses Bereiches, beflyerten die Passant*innen und fotographierten. Durch die räumliche Trennung, das Stehen, teilweise die schwarze Kleidung, die konsequente Nutzung von Masken durch Antifas und konsequente Verweigerung dieser durch die Tielnehmenden, zeigten sich Linke deutlich als abgegrenzt, distanziert.

Die Veranstaltung fand im Tübinger Anlagenpark statt, die Teilnehmer*innen konnten sich auf eine Wiese setzen, es gab Seifenblasen, einige hatten Schilder und es wirkte wie ein teilweise ziemlich unpolitisches  Zusammensitzen. Die Schilder hatten teils christliche Inhalte ("Es brökelt... Schon mal an Jesus gedacht?"), großteils relativ bürgerliche Forderungen ("Freiheitsrechte erhalten"). Es waren keinerlei rechte Inhalte oder Symbole sichtbar, jedoch hatten anwesende Antifas 3-5 Neonazis im hinteren Bereich am Rand der Kundgebung gesehen. Dann begannen die Beiträge mit einem recht christlichen Lied (vom verstorbenen lokal bekannten Theologen Dietrich Bonhoeffer), gefolgt vom ersten Redebeitrag. Erst begann der Beitrag noch recht sympathisch mit einem Willkommenheißen aller Menschen "mit jeder Hautfarbe und Kultur". Der Beitrag fokussierte- genau wie die verteilten Flyer- sehr auf die Einhaltung der Grundrechte und feierte "die Mütter und Väter" des Grundgesetzes als Bringer "unserer Freiheit". Kritisiert wurden die staatlichen Maßnahmen, aber auch die Medien, die die Demonstranden als "Aluhütte" bezeichneten. Eingegangen wurde auch auf den Vorwurf der Medien, die Corona-Maßnahmen-Demos seien rechtsoffen. Wörtlich wurde unter Beifall postuliert "wir sind nicht rechtsoffen, wir sind nicht linksoffen, wir menschen-offen!". Die anwesende Polizei wurde dagegen als "Freund" bezeichnet und es wurde sich bei ihnen bedankt. Spannend war, dass abgesehen von der Forderung der Einhaltung der Grundrechte, die einzige Forderung war, im Herbst 2020 Neuwahlen durchzuführen.
Der zweite Redebeitrag war spirituell beeinflusst, aber als er das Thema Flucht streifte, sprach er wohlwollend von Geflüchteten und erwähnte auch eine Mitverantwortung von "uns" (Europäern, Deutschen?) für die Fluchtursachen. Weitere Redebeiträge wurden teilweise von Betroffenen gehalten und hatten teilweise workshopartige Elemente ("...über diese Fragen könnt ihr jetzt mit euren Nachbarn diskutieren...").

Im Gespräch mit einigen Teilnehmenden haben wir ganz andere Forderungen und Stimmen gehört. So gab es durchaus antikapitalistische Stimmen, Sorge um die nachfolgenden Generationen angesichts des Klimawandels, aber auch eine massive Kritik am staatlichen Handeln. Auch eine Enttäuschung über die Abgrenzung von Linken wurde ausgedrückt bzw. ein Unverständnis formuliert, da der OTFR-Flyer durchaus die Folgen aufgrund der Maßnahmen thematisiert hatte. Insgesamt viel uns der hippiesque Charakter vieler Aussagen auf ("ich bin nicht gegen etwas, ich bin für etwas"). Wir sind uns bewusst, dass der Charakter der Proteste in einer universitäre Mittelstadt wie Tübingen sich anders ausdrückt als in Großstädten, aber denken dass doch vieles auch dort sehr ähnlich sein wird, zumal die Videos das nahe legen.

Proteste an die Rechten verschenken?

Auch wir denken, dass es wichtig ist, als Linke auch auf der Straße Protest gegen die derzeitige Politik und zwar auch die Krisenpolitik der letzten Monate zu formulieren. Durch Corona wurde zementiert und offengelegt wie zerstörerisch und unsozial der Kapitalismus ist. Dies zeigt sich am schlimmsten in den Unterkünften von Geflüchteten oder Gefängnissen. Aber es zeigt sich auch in den Krankenhäusern und in den Familien oder bei Kulturschaffenden.

Die Proteste entzünden sich an einem gesellschaftlichen Widerspruch, nämlich die ungewöhnlich rigoros per Dekret durchgesetzen Maßnahmen gegen Corona, die (wenn auch in weiten Teilen vielleicht sinnvoll und akzeptiert) zu Teilen wenig nachvollziehbar sind, ungleichmäßig die Schwächeren treffen wohingegen Konzerne und Shareholder besonders durch staatliche Maßnahmen geschützt werden und eine geselleschaftliche Debatte um die Maßnahmen nicht in außreichendem Maße stattfand.
Einem Widerspruch also, der eigentlich wie andere Widersprüche (Arbeitkämpfe, Wohnkämpfe, Feminismus, Umweltschutz, Repression, Rassismus, usw.) von Linken aufgegriffen werden müsste, um ihn mit anderen sozialen Bewegungen zu verbinden, ein Ausspielen der Betroffenen gegeneinander zu verhindern und emanzipatorische Vorschläge einzubringen. Optimalerweise initiieren linke Betroffene den Protest selbst, aber meistens kommen Linke einfach in einer frühen Phase dazu, stärken den Protest durch ihr Erfahrung in und Infrastruktur für den Protest und gestalten dadurch auch organisch an den Inhalten mit. So gab es riesige Proteste, die erst als potentiell rechte Proteste oder Proteste mit starker rechter Teilnahme gesehen wurden, und die u.a. durch aktive linke Teilnahme zu emanzipatorischen Protesen wurden, bzw. dies zumindest zeitweise waren. Der größte dieser Art dürften die Gillet Jaunes in Frankreich sein, welche sich vorerst gegen die CO2-Steuer für einzelne Verbraucher richtete, also durchaus rechte, anti-ökologische Anschlusspunkte hatte und wo der extremrechte Front National auch versuchte einen Fuß in die Tür zu bekommen, so änderte sich dies innerhalb weniger Wochen, u.a. durch die Teilnahme aktiver klassenkämpferischer auch anarchistischer Organisationen wie der anarcho-kommunistischen Alternative Libertaire oder den linken Gewerkschaften.

Viel weniger radikal aber für das Umfeld doch ähnlich waren aus unserer Sicht die Proteste gegen das Bahnhofsprojekt Stuttgart21. Während viele Linke in Tübingen diesem mit einer nachvollziehbaren aber wenig hilfreichen Verbitterung (wenn es um etwas anderes geht bleiben die Stuttgarter zuhause, aber für den verkackten Bahnhof gehen sie auf die Straße) die häufig zu einer Arroganz wurde, so war der Protest doch für junge und alte Aktivisties der linken Szene ein dankbares Aktionsfeld. Anarchist*innen begannen die Proteste zu bekochen und erarbeiteten Sich Einfluss, verteilten von Anfang an linkes Infomaterial, welches vor allem die Einsparungen im sozialen Bereich mit den horrenden Ausgaben für ein dysfunktionales Prestigeobjekt in Relation setzten. Nazis wurden von Anfang an relativ konsequent von den Demos geworfen.
Die Demos wurden in Anschluss an die bis dato wöchentlichen Anti-HarzIV-Demonstrationen, die ebenfalls gegen soziale Kürzungen im Zuge der HartzIV-Einführung bekämpfen wollten, am Montag ritualisiert, und wuchsen vor allem nach gewaltätigen Angriffen der Polizei auf bis zu 100.000 Teilnehmenden an. Da der Protest durch die hinterhältige Politik der Grünen, heuchlerische "Runde Tische" und letztlich einer landesweiten Volksabstimmung "ob man jetzt noch aus den Verträgen die für Stuttgart 21 geschlossen wurden, und die Millionen von Euro gekostet haben, aussteigen solle" befriedet.
Dennoch ist Stuttgart seither nicht mehr wie davor: Die 60jähre Mehrheit der CDU ist in Baden-Württemberg gebrochen, Zehntausende von bis dato unpolitischen Bürgern waren erstmals demonstrieren, haben erstmals intensiv von Polizeigewalt mitbekommen und erstmals Korruption und Fremdbestimmung auch in der eigenen Stadt kritisiert. Durch die Proteste gegen Stuttgart21 und die aktive Teilnahme von gemäßigten bis radikalen Linken an den Protesten ist Stuttgart ein Stückchen nach links gerückt. Linksalternative Medien wie Beobachter-News und die Wochenzeitung Kontexte sind entstanden; Teile des Protests leben in dauerinfoständen und wöchentlichen Protesten, die sich mit anderen linken Themen verknüpfen, weiter.

 

Interventionsmöglichkeiten bei Corona-Demos?

Könnten und sollten nicht Linke auch in den Corona-Protesten aktiv teilnehmen? Warum lässt sich die Linke auf ihre Rolle als Zeigefinger-Antifa, oder schlimmer als "Moral-Polizei", reduzieren? Durch unsere Gespräche mit den Teilnehmenden haben wir das Gefühl, die Linke läuft Gefahr als externe, selbsternannte moralische Kontrollinstanz wahrgenommen zu werden, und ihr ganzes Potential als kritische, rebellische Kraft zu verspielen, die eigentlich ein wichtiger Teil des Antifaschismus ist: Wir wollen NICHT den Status Quo erhalten, wir wollen dass es besser wird! Und das wird es nur ohne Nazis und im Kampf gegen Rassismus, Sexismus und Kapitalismus.

Wir halten den Querfront-Diskurs für nicht ungefährlich: Natürlich sollten wir nicht zusammen mit Nazis demonstrieren. Aber von gesellschaftlich relevanten Demos fern zu bleiben, weil auch Nazis dort sind, ist auch keine Option. Dann könnten die Nazis durch pure Anwesenheit uns Linke davon abhalten, handlungsfähig zu sein und in Protesten mitzumischen (wenn wir sie nicht direkt von der Demo werfen können, und vielerorts ist das nicht so leicht möglich).
Es muss Möglichkeiten geben auf Demos teilzunehmen, dort gegen Nazis vorzugehen (sei es argumentativ, körperlich oder sonstwie) und für ein linkeres Klima zu sorgen!
Es scheint wohl die Zeit zu kommen, wo es nicht mehr nur linke und rechte Demos gibt, sondern auch bürgerliche, die leider noch nicht den Konsens 'Nazis werden von Demos verwiesen' anhängen. Sollen wir von all diesen Demos ablassen, nicht teilnehmen, und die Teilnehmer*innen mit den Nazis auf der Demo lassen, wärend wir protestierend daneben stehen?
Diskussion bitte in den Kommentaren.

Ein Lichtblick für uns sind die Interventionsversuche der anarcha-kommunistischen Plattform Ruhr. Von ihnen inspiriert haben wir auch in Tübingen ihren Flyer verteilt und sind in Diskussion mit den Teilnehmenden gegangen.

Was gut lief in Tübingen, war dass genug Antifas da waren, um die 3-5 anwesenden Neonazis zu indentifizieren (keine bekannteren rechten Codes wurden verwendet, jedoch ein T-Shirt konnte der rechten youtube-Szene zugeordnet werden), sie im Auge zu behalten und ihnen zu vermitteln, nicht handlungsfähig zu sein.

Auf der Demo gäbe es, abseits der fehlenden Ausgrenzung von Nazis, was Linke einbringen könnten und somit den Protest auch stärken könnten, was linke Beteiligung auch für die Organisatoren von solchen Demonstrationen attraktiv machen könnte:

Der Fokus der Kritik von Querdenken 7071 richtete sich auf die Einhaltung des Grundgesetzes, inbesondere da der Flyer den Eindruck vermittelt, die derzeitige Einschränkung der Grundrechte sei grundgesetzwidrig. Das wird u.a. dadurch suggeriert, dass auf dem Flyer nur die Grundrechte genannt werden, nicht wann, wie und für wen sie gelten. So gibt es zwar Artikel 11 der Freizügigkeit, aber schon Absatz 2 zeigt zahlreiche Möglichkeiten auf, diese einzuschränken. So wie der Protest zur Zeit geführt wird (siehe Protest-Zeitung "Demokratischer Widerstand") kann er zu nicht viel führen. Wenn nicht Linke Einfluss auf ihn nehmen, ist es nicht unwahrscheinlich, dass Rechte diese Leerstelle ausfüllen, was die verschwörungstheoretische Rechte bereits angefangen hat.

Bilder: 
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Ergänzungen

Mit Hintergrundwisssen könnte ein  ein Satz, wie "Wir sind uns bewusst, dass der Charakter der Proteste in einer universitäre Mittelstadt wie Tübingen sich anders ausdrückt als in Großstädten, aber denken dass doch vieles auch dort sehr ähnlich sein wird, zumal die Videos das nahe legen" niemals einem Kontext fallen, der den Protest als Beginn eines "Sozialen Aufstands" verklärt.

Befasst euch doch endlich mal mit den Inhalten dort und mit den Personen, die für sie eintreten. Ich jedenfalls habe viele der dort "von Menschen" gedrehten  Videos  gesehen und ziehe meine Schlüsse. Zu diskutieren gibt es da für mich einfach nichts, weil es genau der Charakter dieser Demos ist, der mich erschaudern lässt.

Tübingens Oberbürgermeister Boris Palmer ließ wegen der Corona-Pandemie einen privaten Sicherheitsdienst durch Tübingen patrouillieren; die Privaten sollten nicht nur nachts Einbrüche in Ladengeschäfte verhindern, sondern auch Kontaktbeschränkungen im öffentlichen Raum durchsetzen.

Kann hierzu jemand über Erfahrungen mit dem eingesetzten privaten Sicherheitsdienst berichten, etwa ob dieser Personalien aufgenommen und Anzeigen (für behördliche Bußgeldverfahren) geschrieben hat?

Siehe hierzu auch:

 

https://www.cilip.de/2020/05/19/kommentar-der-zweck-heiligt-eben-nicht-d...

 

Höchste Zeit zu Handeln! Einschätzung und Vorschläge zum Umgang mit den Corona-Demos

Seit einigen Wochen formiert sich, angetrieben vom Unmut über die Einschränkungen zur Eindämmung der Corona-Pandemie, in vielen Städten der Bundesrepublik eine neue politische Bewegung. Sie nennen sich „Hygiene-Demo“, „Widerstand2020“, „Corona-Rebellen“ oder „Querdenken“. Nicht alle Gruppen sind vernetzt oder beziehen sich aufeinander, dennoch teilen sie mehr als den diffusen Unmut. Es sind vor allem das von Abstiegsängsten geplagte Kleinbürgertum und (kulturell) abgehängte Teile der Unterschicht, die sich hier mit allerhand reaktionären politischen Randgruppen auf der Straße treffen.

 

Die Bewegung ist gerade alles andere als homogen. Unter den TeilnehmerInnen finden sich VertreterInnen aller möglichen Verschwörungstheorien. Neu sind diese Phänomene nicht. Von ImpfgegenerInnen, rechte EsoterikerInnen über christliche FundamentalistInnen, bis hin zur Reichsbürgerbewegung tummeln sie sich schon seit einigen Jahren am rechten Rand und konnten vom weltweiten Rechtsruck ebenfalls profitieren. Da sie sich in der Corona-Pandemie nun alle in ihren Theorien bestätigt sehen, wird ihre gänzliche Dimension sichtbar.

 

Neben ihnen auf der Straße findet sich aber auch ein großer Teil, der sich vorher kein bisschen politisch betätigt hat. Menschen aus dem abgehängten Kleinbürgertum, die durch den Lockdown von Abstieg bedroht sind oder bereits vor dem wirtschaftlichen Ruin stehen. Zu ihnen gesellen sich noch Angehörige der reichen Mittelschicht, die sich in ihrer Konsumfreiheit eingeschränkt sehen.
Den geringsten, aber medial am meisten hervorgehoben Teil stellen liberale GrundgesetzanbeterInnen und Personen da, die sich von der etablierten Politik nicht mehr vertreten fühlen und deshalb auf der Suche nach politischer Orientierung sind.

 

Ihre zentrale Forderung lautet sämtliche Maßnahmen zum Infektionsschutz sofort zu beenden. Als Begründung dafür müssen wahlweise krude Verschwörungstheorien, das Grundgesetz, die Folgen für die Wirschtschaft oder die schlichte Behauptung, die Pandemie existiere überhaupt nicht, herhalten. Vielerorts wird die Forderung nach dem „zurück zur Normalität“ gebetsmühlenartig wiederholt. Wirklich belastbare Vorschläge zum Umgang mit der Pandemie gibt es nicht.

 

Die Bewegung gegen die Corona-Einschränkungen versucht sich überparteilich zu geben, immer wieder wird betont man sei weder links noch rechts und es ginge lediglich um die Grundrechte. Alle sollten in dieser Situation zusammenstehen. Doch wer hinschaut erkennt schnell, dass sowohl inhaltlich als auch personell die politische Türe nach rechtsaußen sperrangelweit offen steht, während man von linken klassenkämpferischen Positionen oder auch nur einem Hauch Kapitalismuskritik nichts wissen will.

 

Diese Potential haben längst auch die verschiedenen Spektren der organisierten Rechten entdeckt. Je nach lokaler Stärke finden sich der „III. Weg“, die „AfD“, die „Identitäre Bewegung“ oder rechte Burschenschaftler auf den Demonstrationen wieder. Derzeit handeln sie allerdings weder einheitlich noch sind sie der bestimmende Teil der Bewegung.

 

Bei den „Corona-Demos“ trifft kleinbürgerlicher Individualismus auf die Interessen den Kapitals. Während die einen sich beim Tragen eines Mund-Nase-Schutzes zum Einkaufen in ihren persönlichen Freiheiten eingeschränkt sehen, sehen andere durch die Wirtschaftskrise vor allem ihre Profite gefährdet. Schuld haben wahlweise Merkel, „dunkle Mächte“ oder die World Health Organization (WHO).

 

Trotz teilweiser absurd anmutender Argumentationsketten erhalten die Kundgebungen einen Zuspruch auch über die genannten Kreise hinaus. Es wäre in unserer Augen vermessen und falsch die Ansammlungen als einen Haufen Spinner abzutun und ihnen keine Beideutung bezumessen. Genauso falsch wäre es die Kundgebungen als klassisch rechte Veranstaltung zu behandeln und nach Schema F dagegen vorzugehen. Vielmehr bedarf es einer differenzierten Herangehensweise die an mehreren Stellen gleichzeitig ansetzt.

 

Gerade zu Beginn sollte Recherche und Aufklärungsarbeit ein besonderer Augenmerk beigemessen werden. Wir müssen diese Veranstaltungen genau beobachten, die Teilnahme von bekannten Rechten dokumentieren, öffentlich thematisieren und den Schulterschluss politisch skandalisieren. Gleichzeitig erachten wir es als notwendige Aufgabe antifaschistischen Selbstschutz zu organisieren. (Groß-) Veranstaltungen auf denen sich Nazis aus „Identitärer Bewegung“, „Blood & Honour“, Kameradschaften oder anderen Gruppen ungestört sammeln, können immer auch Ausgangspunkt von Übergriffen sein und eine reale Bedrohung darstellen. Nicht nur deswegen tut die antifaschistische Bewegung gut daran auf bewährte Methoden zurückzugreifen: Direkte Konfrontation und Einschüchterung haben schon immer einen Teil dazu beitragen, dass sich Rechte schwerer tun im öffentlichen Raum Fuß zu fassen.

 

Parallel gilt es für den kleinen Teil der TeilnehmerInnen an den Corona-Demos, die politische Orientierung zu suchen und potentiell auch für linke Themen ansprechbar sind, aber auch für andere Teile der Gesellschaft sichtbare Alternativen anzubieten. Schließlich ist nicht nur die Pandemie, sondern auch die Wirtschaftskrise real und das Krisenmanagement der Herrschenden nicht darauf ausgelegt im Sinne der Beschäftigten zu handeln. Die großen Unternehmen werden subventioniert, nicht die prekär beschäftigten Reinigungskräfte. Gerade deswegen ist es notwendig nicht bei der Arbeit gegen Rechts stehen zu bleiben, sondern auch als antifaschistische Bewegung unseren Teil zu linken Krisenantworten beizusteuern. Jetzt sind klare antikapitalistische Agitation und Praxis gefragt. Als Gegenpol zu den „Corona-Demos“ aber auch weit darüber hinaus. Erste Beispiele für linke Krisenmobilisierungen gibt es bereits in einigen Städten.

 

Welche Gefahren tatsächlich von der „Corona-Demo-Bewegung“ ausgehen werden, hängt sehr stark von ihrer weiteren Entwicklung ab. Vor allem die AfD versucht zunehmend in bekannter populistischer Manier auf den Zug aufzuspringen. Sie beteiligen sich teils offen, teils unerkannt an den Kundgebungen oder versuchen auch vereinzelt eigene zu organisieren. Während die RechtspopulistInnen zu Beginn der Corona-Krise noch vergeblich versuchten mit „Antichinesischem-Rassismus“ zu punkten und einen noch schnelleren Lockdown zu fordern, war es inmitten des gesellschaftlichen Stillstands ruhig um die Rechten geworden.
Die nun vollzogene politische 180-Grad-Drehung, also die Forderung nach der sofortigen Aufhebung aller Maßnahmen erscheint im ersten Moment zwar unlogisch, ist aber folgerichtig. Sie dient der AfD einerseits dazu in der aufkommenden politischen Bewegung Fuß zu fassen und sich andererseits als deren legitimer politischer Arm zu präsentieren und somit verlorenen Boden wieder gut zu machen. Die Forderungen nach einem Ende des Lockdowns erfüllen im Übrigen die Wünsche der Wirtschaft, die nur zu gerne ohne Rücksicht auf den Gesundheitsschutz der Beschäftigten weiter produzieren, transportieren und verkaufen wollen.

 

Sollte es der organisierten Rechten gelingen sich an die Spitze dieser Bewegung zu setzen, oder zumindest diese Bewegung soweit zu beeinflussen, um mit Blick auf die nächsten Wahlen Unterstützung zu erhalten, könnte dies zu einer weiteren Verschärfung des Rechtsrucks beitragen. Der AfD könnte es damit gelingen sich auch in wirtschaftlichen Fragestellungen als „Anwalt des kleinen Mannes“ zu inszenieren. So würden die RechtspopulistInnen in bekannter faschistischer Tradition zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen: In der Krise die Klasse spalten und gleichzeitig den Interessen des Kapitals Vorschub leisten. Genau das zu verhindern erachten wir als die Aufgabe der antifaschistischen Bewegung.

 

Mai 2020

 

Antifaschistische Aktion Karlsruhe
Antifaschistische Aktion Südliche Weinstraße
Antifaschistische Aktion (Aufbau) Mannheim
Antifaschistische Aktion (Aufbau) Stuttgart
Antifaschistische Aktion [Aufbau] Tübingen
Antifaschistische Aktion [O] Villingen-Schwenningen
Antifaschistische Perspektive Ludwigsburg Rems-Murr
Antifaschistischer Aufbau München

 

Der Kommentar oben ist ein Aufruf: Anarchissmo ist streng dafür sich von den Corona-Protesten fernzuhalten, weil dort Rechte ihr Unwesen treiben. Wenn eine Demonstration eine reine "Ich unterstütze die Veranstalter*innen und alle anderen die dahingehen"-Bekundung wäre, würde ich dem zustimmen. Ich glaube in der Einschätzung was es heißt auf eine Demonstration zu gehen, liegt der Streitpunkt.
Dass auf den Querdenken-Demos jede Menge Verschwörungstheoretiker*innen unterwegs sind, teilweise auch auf der Bühne, und leider auch Nazis daran teilnehmen ist unumstritten.
Die Frage ist aber, was das für linke Aktivisties bedeutet. Genoss*innen von der anarcho-kommunistischen Plattform sehen das wohl auch eher wie ich, dass diese Demonstrationen ein sozialer Raum sind, der hauptsächlich von bis dato unpolitischen Leuten besucht wird, und wo verschiedenen Seiten versuchen die Teilnehmer*innen zu politisieren und die Richtung des Protests mitzubestimmen.

Wenn Demonstrationen als solchen Raum aufgefasst werden, dann ist es wichtig dort zu intervenieren. Wir rufen nicht auf, einfach an den Protesten teilzunehmen! Nazis werden versuchen die Demonstrationen zu beeinflussen und die Menschen dort nach rechts zu politisieren. Solange sie in der Demo jedoch nicht hegemonial sind, kann und muss um diesen Raum gekämpft werden.
Zwar stimmt es, dass Veschwörungtheoretiker (offenbar v.a. ein Männerproblem, daher hier nicht gegendert) hier einen gewissen Vorsprung haben, weil der Unmut über die Maßnahmen an ihre Verschwörungtheorien direkt Anschluss findet, und dass unter diesen Verschwörungtheoretikern rechte Positionen ziemlich verbreitet sind.
Dennoch haben auch Rechte es teilweise nicht leicht auf den Demos, die AfD scheitert regelmäßig mit der Veranstaltung eigener Corona-Demos, Widerstand2020 läuft der AfD den Rang ab, und hat bei weitem (zumindest zur Zeit noch) weniger rechte Positionen. Das Pochen auf die Verfassung (Homepage Querdenken711) passt gar nicht in die Erzählung der Rechten und noch weniger der Reichsbürger, das Willkommenheißen aller Religionen, Kulturen und Hautfarben (Erfahrungsbericht Tübingen) und die tatsächlich nicht geringe Beteiligung von Menschen mit Migrationshintergrund (Erfahrungsbericht Stuttgart) machen es für sie nicht besser.

Also gerade WEIL die Demos von Rechten frequentiert werden und trotzdem ein Ventil für die Nöte vieler auch dezidiert nicht-rechter Bürger*innen sind, sollten radikale Linke dort hingehen.
Radikal-linke Politik ist eben kein Ponnyhof, wo mensch sich nur mit 100% Gleichdenkenden trifft, um mal schwarz vermummt zu Hundert "Staat, Nation, Kapital, Schweiße" zu rufen. Wer es ernst meint hat sich auch mit Konzepten befasst die mit dem Umstand umgehen, dass die Revolution die Aktivität der Mehrheit benötigt. Wer dann diese Konzepte (seien es Klassenkampf, Multitude oder andere) anwenden möchte, der muss dich doch schon die Frage stellen, ob sie*er es mit Aufgaben der Proteste und sich Dagegenstellen nicht zu einfach macht.
Mal abgesehen davon, dass es auch für nicht-revolutionäre Antifaschist*innen viel effektiver einen noch nicht von Nazis eroberten Raum zu erkämpfen, als den ganzen Raum zur Nazi-Zone zu erklären, ihn also den Nazis quasi zu schenken, und sich von Anfang an dagegen zu stellen!

Ob die Intervention auf diesen Protesten oder das anregen und organisieren neuer Proteste oder ganz andere Optionen das Richtige sind, können wir diskutieren, wenn wir uns mal wenigsten darüber einig sind, dass wir für eine bessere Gesellschaft kämpfen wollen, und nicht für die eigene Reinheit der Identität.
Von den Aufbau-Antifas erwarte und erlebe ich da mehr strategisches Feingefühl, und in Tübingen hat das OTFR auch eine sinnvolleren Aktionsvorschlag vorgelebt, der m.E. aber noch nicht weit genug ging.

Die in Stuttgart auch stattfindenden Proteste von Gewerkschaften zu besuchen und dazu aufzurufen, empfinde ich auf jeden Fall als eine richtige Option, ist aber unabhängig von der Aktion/Intervention auf Querdenken-Demos.

P.S.: Von sozialem Aufstand haben wir nie geschrieben.