Nach Dörr-Absetzung: Carsten Hütter geht an die Saar

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Josef Dörr

Zum zweiten Mal hat der AfD-Bundesvorstand die Spitze der saarländischen Landespartei entmachtet, die Vorwürfe gegen den bisherigen Führungskreis um Josef Dörr wiegen schwer. An seiner Stelle wird ein „Notvorstand“ einspringen. Auch der sächsische Landtagsabgeordnete Carsten Hütter soll ihm angehören. Im Freistaat spielt er derzeit kaum noch eine Rolle.

Erneut hat der Bundesvorstand der AfD durchgegriffen. Nach dem Beschluss, den verfassungsfeindlichen Flügel aufzulösen, entschied das Leitungsgremium gestern Vormittag, dass der gesamte Vorstand des saarländischen Landesverbandes mit sofortiger Wirkung „wegen schwerwiegender Verstöße gegen die Grundsätze oder Ordnung der Partei seines Amtes enthoben“ wird. Damit verlieren auf einen Schlag 16 Funktionäre, allesamt Männer, ihre Posten.

Vorwürfe waren seit Jahren bekannt

Die Entscheidung wendet sich vor allem gegen den langjährigen Landesvorsitzenden Josef Dörr. Der 81-Jährige stand seit 2015 an der Spitze der Saar-AfD. Es handelt sich mit rund 500 Mitgliedern um den zweitkleinsten Landesverband nach Bremen. Zuletzt wurde Dörr Anfang 2019 als Vorsitzender bestätigt. Als er erstmals in diese Funktion gekommen war, hatte er sich bei einem Parteitag durchgesetzt mit einer Bewerbungsrede, in der er einen „Feuersturm“ ankündigte – dieser werde „alles hinwegfegen und vernichten, was schlecht ist.“

Einer der Gratulanten nach der Wahl war Björn Höcke, der damals gerade die Erfurter Resolution lanciert hatte, das Gründungsdokument des völkisch-nationalistischen Flügels. Dörr hatte dazu erklärt, es stünden in dem Papier „viele Dinge drin, die in Ordnung sind“. Doch hinter dem aktuellen Vorgehen gegen ihn und seine Kollegen verbirgt sich eine ganz eigene Problemgeschichte.

So steht gegen den bisherigen Vorsitzenden bereits seit Jahren der Vorwurf der Vetternwirtschaft im Raum, von sektenartigen Zuständen mit einigen braunen Einschlägen ist die Rede. Dörr soll sich mit einem Netz aus Vertrauten, teils auch Verwandten, ja sogar Nachbar*innen umgeben, sie mit Posten versorgt und als Delegierte eingesetzt haben, um die eigene Position abzusichern. Hinzu kamen frühe Versuche, die saarländische AfD für eine Zusammenarbeit mit Neonazis zu öffnen.

Dörr öffnete die AfD für Neonazis

Der Hauptvorwurf: Dörr soll gemeinsam mit einem weiteren damaligen Landesfunktionär den Kontakt mit der extrem rechten Kleinpartei „Freie Bürger Union“ (FBU) gesucht und eine Zusammenarbeit ausgelotet haben. Mitglieder der FBU, aber auch Anhänger*innen der NPD sollen animiert worden sein, der Partei beizutreten, und taten das teilweise auch. Erste Details wurden Anfang 2016 durch Medienrecherchen bekannt.

Dörr kündigte daraufhin an, seine Parteiämter ruhen zu lassen. Doch schon wenige Tage danach nahm er die Amtsgeschäfte wieder auf und erklärte alle Vorwürfe für „kalten Kaffee“. Der damalige AfD-Bundesvorstand unter Frauke Petry und Jörg Meuthen sah das anders und beschloss im Frühjahr 2016 schon einmal, Dörrs Vorstand abzusetzen. Damals sollte nach dem Willen der Parteiführung gleich der gesamte Landesverband aufgelöst und später neu gegründet werden.

Es war das erste Mal, dass die AfD in großem Still gegen allzu rechte Umtriebe in den eigenen Reihen vorgehen wollte. Beobachter*innen brachten das in Verbindung mit frühen Forderungen, die AfD durch Verfassungsschutzbehörden beobachten zu lassen, sowie mit vertraulichen Gesprächen zwischen Petry und Hans-Georg Maaßen, dem damaligen Präsidenten des Bundesamtes für Verfassungsschutz (BfV).

Ausschlussverfahren ist versandet

Petry schien sich zunächst durchzusetzen. Mit knapper Mehrheit bestätigte ein Bundesparteitag die Entscheidung, gegen den Verband einzuschreiten. Doch Dörr rief das Bundesschiedsgericht an, das die Entscheidung wieder kassierte. So wurde aus dem Versuch, durchzugreifen, eine schwere Niederlage Petrys im innerparteilichen Machtkampf. Ein damals eingeleitetes Ausschlussverfahren gegen Dörr ist zwar bis heute anhängig, doch Fortschritte gab es seit langem nicht.

Vielmehr setze der betagte Dörr die Parteikarriere ungebrochen fort. Unter seiner Leitung zog die AfD 2017 in den saarländischen Landtag ein, holte 6,2 Prozent der Stimmen und erlangte so drei Sitze. Dörr gehört einer davon, er leitet die Miniatur-Fraktion als Vorsitzender. Die Querelen schienen bereinigt zu sein.

Doch das Parteigericht, das damals zugunsten Dörrs entschieden hat, wies auch auf Missstände hin, die er zu verantworten hat, auf Probleme, die offenbar nicht beseitigt wurden. Die Parteispitze kam darauf zurück, nachdem das BfV Anfang 2019 die Gesamtpartei als sogenannten Prüffall eingestuft hat. Der Bundesvorstand – längst ohne Petry, aber immer noch mit Meuthen als Bundessprecher – drohte, nochmals einzuschreiten. Die Rede war von „vielfältigen und langjährigen Beschwerden aus dem Landesverband“.

Alte und neue Kritik am „System Dörr“

Aufgearbeitet wurden sie in einem Gutachten, das der Parteispitze seit November 2019 vorliegt. Darin werden mehr als ein Dutzend Einzelvorwürfe gegen Dörr und einige seiner Gefolgsleute aufgearbeitet und als „hinreichend nachweisbar“ bewertet, manche davon könnten sogar strafrechtlich relevant sein. Unter anderem soll Dörr die Aufstellung von Delegierten manipuliert, gegnerische Personalvorschläge unterdrückt und Kritiker*innen zum Austritt aufgefordert haben.

Die Aufnahme neuer, ungenehmer Mitglieder sei verzögert oder gar verhindert worden. Kreisvorstände sollen bei Entscheidungsprozessen übergangen, Weisungen der Parteigerichte ignoriert, dorthin gerichtete Beschwerden abgefangen worden sein. Von eigenmächtigen und rechtswidrigen Satzungsänderungen ist die Rede und davon, dass aus der Parteikasse private Kosten beglichen worden seien. Die extrem rechten Verbindungen spielen nur noch am Rande einer Rolle: So soll Dörr neue Mitglieder aus extrem rechten Kreisen in die Partei geschleust haben, für einen vergünstigen Mitgliedsbeitrag von 2,50 Euro pro Monat.

Das alles, so das Ergebnis des Gutachtens, habe der AfD erheblich geschadet. In dem Papier wurde eine Amtsenthebung des Landesvorstandes daher als „angemessene“ Reaktion empfohlen. Als das bekannt wurde, bezeichnete Dörr die Vorwürfe als „haltlos“ und „aus den Fingern gesogen“. Er musste in einer Sitzung des Bundesvorstands vorsprechen, machte dort aber keine gute Figur. Im Februar wurde schließlich ein Antrag eingebracht, dem Gutachten zu folgen und das „System Dörr“ zu beenden.

Klare Entscheidung

In einer Telefonkonferenz stimmte der Bundesvorstand gestern Vormittag das weitere Vorgehen ab. Nach Informationen von tagesschau.de soll die Absetzung des Landesvorstandes weitgehend Konsens gewesen und mit zehn Ja-Stimmen sowie drei Enthaltungen beschlossen worden sein. Dörr, der von seiner Absetzung aus dem Radio erfuhr, erklärte gegenüber der Deutschen Presse-Agentur, dass sämtliche Vorwürfe „an den Haaren herbeigezogen“ und längst widerlegt seien. Der Saarbrücker Zeitung sagte er, dass sich sein Saar-Vorstand nichts haben zuschulden kommen lassen – und kündigte an, vor ein staatliches Gericht zu ziehen.

Der Bundesvorstand hat unterdessen beim Bundesschiedsgericht beantragt, einen sogenannten Notvorstand einzusetzen, so sieht es die Satzung vor. Dieses kommissarische Gremium soll den Landesverband verwalten, bis ein regulärer Parteitag wieder einen ordentlichen Vorstand wählt. Aufgrund der Pandemiekrise könnte es bis dahin noch dauern. Für den Fall, dass Dörr erneut kandidiert, behält sich der Bundesvorstand einen noch weitergehenden Schritt vor: die Auflösung und Neugründung des Landesverbandes, dem der alte Vorsitzende dann nicht mehr angehören würde.

Denkbar ist, dass stattdessen Dörrs Gegenspieler zum Zuge kämen, das sind vor allem der Bundestagsabgeordnete Christian Wirth und der saarländische Landtagsabgeordneter Lutz Hecker. Wirth ist Burschenschafter und sitzt im Bundesschiedsgericht, das sich jetzt mit der Zukunft der Saar-AfD befassen muss. Hecker war früher ein Gefolgsmann Dörrs, hatte einst mit ihm zusammen den Landesverband geleitet. Der Vorwurf, Kontakte zu Neonazis gepflegt zu haben, hatte auch ihn betroffen. Einen politischen Richtungswechsel brächte er also nicht.

Kein politischer Richtungswechsel

Geht es nach der Bundesspitze, so wird der Notvorstand seine Arbeit zügig aufnehmen. Ihm sollen drei Mitglieder des Parteivorstandes angehören: Stephan Protschka, Joachim Paul und Carsten Hütter. Paul, der im rheinland-pfälzischen Landtag sitzt, ist ebenfalls Burschenschafter und soll in der Vergangenheit unter Pseudonym für eine NPD-Zeitschrift geschrieben haben, außerdem war er Autor des verfassungsfeindlichen Compact-Magazins. Protschka, ein Bundestagsabgeordneter und Burschenschafter aus Bayern, gilt als Flügel-nah.

Hütter, Landtagsabgeordneter in Sachsen, gehört nicht zum rechten Rand der Rechtspartei und wird auf einer Flügel-nahen Website gar als einer der „weichgespülten Ex-Vasallen von Petry“ beschimpft. Jedoch sind alle Drei verzeichnet in dem Dossier, mit dem das BfV Anfang 2019 die Einstufung der Gesamtpartei zum Prüffall begründet hat. Als glaubwürdiger Versuch, sich von der extremen Rechten zu distanzieren, wird der Zwangs-Wechsel an der saarländischen Parteispitze daher kaum zu bewerten sein.

Dazu kommt, dass sich der Bundesvorstand auf dünnem Eis bewegt. Zwar zeigt sich das traditionell Flügel-freundliche Bundesschiedsgericht derzeit ungewohnt agil. Das demonstrieren die jüngsten Parteiausschlüsse des baden-württembergischen Antisemiten Wolfgang Gedeon und – wie erst gestern bekannt wurde – seines Landtagskollegen Stefan Räpple. Doch die Absetzung des Saar-Vorstandes muss laut Satzung auch durch Beschluss eines Bundesparteitags bestätigt werden. Dort wären die Kräfteverhältnisse so wenig absehbar wie ein Termin. Ende April sollte ein Bundesparteitag in Offenburg stattfinden, der inzwischen aber abgesagt wurde.

Chance für Hütter?

Für Carsten Hütter, der dem Notvorstand angehören soll, ergibt sich jetzt die Möglichkeit, sich als Bundesfunktionär zu bewähren. Es ist eine Chance, die er ergreifen muss, um sich überhaupt in der Partei zu halten. Hütter stammt aus Unna in Nordrhein-Westfalen, lebt als Gebrauchtwagenhändler im Erzgebirge und ist für die AfD im Kreis Meißen aktiv. Einst galt der 55-Jährige als Intimus von Frauke Petry, hat jahrelang im sächsischen Landesvorstand gesessen. Er war dort für die Finanzen zuständig und leitete auch die Geschäftsstelle der Sachsen-AfD. Seit 2014 sitzt er zudem für die Partei im Sächsischen Landtag.

Doch seine Verankerung in Sachsen hat sich schrittweise gelockert. Bei der umstrittenen Aufstellung der Parteiliste zur vergangenen Landtagswahl wollte er auf dem dritten Platz antreten, wurde aber bis auf Platz 15 durchgereicht und bekam dort – ohne Gegenkandidat*innen – nur eine hauchdünne Mehrheit. Dem Vorstand der neuen Parlamentsfraktion gehört er nicht mehr an, beim jüngsten Landesparteitag kandidierte er nicht erneut für einen Vorstandsposten. Zudem hat er sich aus den Fachausschüssen zurückgezogen, die an der programmatischen Ausrichtung der Sachsen-AfD arbeiten. Zwischenzeitlich war spekuliert worden, dass Hütter zur Bundestagswahl im kommenden Jahr antreten könnte.

Darauf verzichtet er nach eigenen Angaben freiwillig. Doch realistische Chancen, als Kandidat aufgestellt zu werden, hätte er kaum gehabt. Derzeit wird er als ein möglicher Kandidat für die Landratswahl in Meißen gehandelt, die nach bisheriger Planung am 20. September stattfinden soll. Hätte Hütter dort Erfolg, wäre er sein Landtagsmandat ebenso los wie bereits jetzt sämtliche Parteiämter in Sachsen.

Unverhofft im Bundesvorstand

Stattdessen konzentriert sich Hütter auf Funktionen in der Bundespartei. Er ist Co-Leiter des Bundeskonvents und wurde vor einigen Monaten zum stellvertretenden AfD-Schatzmeister gewählt. Da der bisherige Amtsinhaber Klaus-Günther Fohrmann zurücktrat, rückte Hütter unverhofft auf, sitzt dadurch im Parteivorstand. Beim nächsten Bundesparteitag will er sich auch offiziell zum Finanzchef wählen lassen. Dank Corona wird er diese Rolle noch eine ganze Weile kommissarisch ausfüllen.

Seinen Parteifreunden in Sachsen hat er damit bisher keinen Gefallen getan. Jüngst stimmte Hütter für die Auflösung des verfassungsfeindlichen Flügels, der weite Teile der sächsischen AfD dominiert. Er half sogar mit, den entscheidenden Antrag zu formulieren.

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