Spanien etc.: Reinkarnationen der Sozialdemokratie

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Quelle für Graphik: http://kommunisten.de/images/stories/2010/europa/sp_2015-12-20_1.jpg

Dieser Tage feiern ChristInnen den 2015. Geburtstag ihres Religionsstifters. Jesus hatte zwei irdische Leben, so wird uns erzählt: Eines vor und eines nach seiner Kreuzigung – dazwischen lag das Wunder der Wiederauferstehung – und erst dann kutschierte er in den Himmel.

Die Sozialdemokratie scheint dagegen eher eine Verwandte der Religionen hinduistischen und buddhistischen Typs zu sein: Wie viel Tode starb sie schon? Wie viel Wiederauferstehungen erlebte sie schon?

 

    • Gestorben 1914 mit der Zustimmung (in fast allen kriegsbeteiligten Ländern) zum ersten imperialistischen Weltkrieg.

 

 

    • Erneut gestorben insbesondere in Deutschland mit der widerstandslosen Hinnahme der Machtübergabe an die / -übernahme durch die Nazis 1933, aber auch mit dem Scheitern der Volksfront-Regierungen Mitte der 1930er Jahre in Frankreich und Spanien.

 

    • Wiederauferstehung in Form der fordistisch-keynesianischen Politik der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, wenn auch nicht immer und dauerhaft von nominell sozialdemokratischen Parteien betrieben.

 

    • Ein dritter Tod in der Zeit des Aufstiegs grüner Parteien in vielen Ländern Westeuropas sowie der Thatcher/Major- (1979-90 & 1990-97) / Reagan/Bush (1981-89& 1989-93)- Kohl- (1982-98) / Chirac- (1986/88 MP und 1995-2007 Staatspräsident) -Ära.

 

    • Eine weitere Wiederauferstehung in der Blair- (1997-2007) / Schröder- (1998-2005) / Prodi- (1996/98 MP und 1999-2004 EU-Kommissions-Präsident) / Wim Kok- (1994-2002) -Ära – auch wenn deren Charakter eines Neoliberalismus im sozialdemokratischen Gewande schnell deutlich wurde.

 

    • Ein weiterer Tod der nominellen Sozialdemokratie in der Merkel- (seit 2005) / Sarkozy- (2007-12) / Berlusconi- (u.a. 2001-2006 und 2008-11) -Ära bei gleichzeitigem Aufstieg neo-sozialdemokratischer Parteien, wie der Linkspartei in Deutschland, der Sozialistischen Partei in den Niederlanden und SYRIZA in Griechenland.

 

 

 

Freilich hatten wir in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre schon mal eine ähnliche Konstellation: Das EU-Parlament war nach der Wahl von 1989 so links zusammengesetzt, wie davor und danach niemals [1]; in Spanien regierte die PSOE von 1982 bis 1996; in etwa in der gleichen Zeit lag in Frankreich die Präsidentschaft Mitterrands, der sich ab 1988 auch wieder auf eine eigene parlamentarische Mehrheit stützen konnte; in Griechenland war Andreas Papandreou von 1981 bis 1989 (und von 1993 bis 1996) Ministerpräsident. Portugal hatte in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre einen sozialdemokratischen Präsidenten und einen konservativen Ministerpräsidenten (1983-1985 waren beide Ämter von Politikern links der Mitte besetzt). Auch Italien hatte 1983 bis 1987 einen sozialdemokratischen Ministerpräsidenten (wenn auch in Koalition mit der Christdemokratie als größter Partnerin).

 

In dieser Konstellation aber auch unter dem Einfluß des von Michail Gorbatschow als Generalsekretär der KPdSU propagierten „Neuen Denkens“ kam die Deutsche Kommunistische Partei (DKP) damals auf die Idee, eine „Reformalternative“ zu propagieren (was durchaus auf der Linie des von der DKP schon immer vertretenen Konzeptes der „monopolistischen Demokratie“ [statt des revolutionären Antikapitalismus] lag.

 

In einem Artikel, der sich damals kritisch mit dem Reformalternative-Programm „BRD 2000“ auseinandersetzte, hieß es damals:

„Die begreifende Analyse der kapitalistischen Krisenrealität und -geschichte […] ergibt, daß die Durchsetzung der [… (2) neoliberalen] Entwicklungs‚variante’ [des Kapitalismus] durchaus nicht beliebigen Charakter trägt. Tatsächlich ist sie vielmehr eine strategisch-langfristige Reaktion a) auf die konkret-historische Widerspruchssituation des Kapitalismus im Anschluß an die Phase der Nachkriegsprosperität und b) auf die offensichtlichen Fehlschläge der keynesianistisch-reformistischen Variante. […] Die realpolitische Entwicklung der sozial-liberalen Regierungskoalition unter Schmidt als Wegbereiterin der konservativen Wende, die Bilanz der französischen Linksregierung 1981-85 und die aktuellen sozialdemokratischen Regierungspraxen in Frankreich, Spanien und Griechenland haben gezeigt bzw. zeigen, daß angesichts der objektiven Widerspruchslogik des Kapitalismus sowie der langfristigen strategischen Optionen der [… B]ourgeoisie [3] in den kapitalistischen ‚Stammländern’ die systemkonforme Sozialdemokratie weder willens noch – was entscheidender ist – objektiv in der Lage ist, im Rahmen der bestehenden Verhältnisse eine soziale und demokratische Reformvariante auf den Weg zu bringen.“

(Peter Brendel, Zu schön um wahr zu sein. Zur Einschätzung des DKP-Entwurfs ‚Bundesrepublik Deutschland 2000’, in: Hintergrund. Marxistische Zeitschrift für Gesellschaftstheorie und Politik IV/1988, 46 - 61 [54 f., 55])

 

Für die „heutigen Bedingungen von kapitalistischer Krise und bürgerlicher Klassenoffensive“ gilt freilich umso mehr als 1988, daß es „innerhalb der bestehenden Verhältnisse keine umfassende ‚Reformalternative’“ gibt (siehe dazu die insoweitige – am Sonntag veröffentlichte – Kritik von systemcrash und mir an dem Vorschlag von Thomas Seibert für einen „Plan A einer neuen Linken (nicht nur) in Deutschland“:

 

Das strategische Dilemma der Linken des 21. Jahrhunderts

 

https://linksunten.indymedia.org/de/system/files/data/2015/12/2086097137.pdf, S. 5 mit FN 4).

 

Wichtig ist daher die Unterscheidung zwischen

 

    • „einzelne, wirtschaftspolitische Maßnahmen“, die „den Bedürfnissen der Lohnabhängigen entgegenkommen“

 

und

 

    • system-reparativer „Krisenlösung“, die die Frankfurter Antifa Kritik und Klassenkampf kürzlich vornahm:

„jedes noch so gut gemeinte Konjunkturprogramm wird früher oder später an die Grenze seiner Finanzierbarkeit stoßen – und nach den Erfahrungen der letzten Jahrzehnte ist es ohnehin fraglich, woher die Hoffnung kommt, die Konjunkturprogramme könnten nun eine selbsttragende Konjunktur in Gang bringen.“ „Dennoch soll ein wesentlicher Aspekt linkskeynesianischer Programme hier nicht übergangen werden: Sie können bei entsprechender Ausrichtung dazu führen, dass es eben nicht primär die Lohnabhängigen sind, die den Entwertungsdruck zu spüren bekommen, und in diesem Sinne einen wesentlichen Unterschied machen. Sie sollten jedoch mit einem anderen, eben sozialrevolutionären Impetus angegangen werden, d.h. sie sollten nicht als Krisenlösung diskutiert, sondern als Maßnahmen betrachtet werden, die nur sinnvoll sind, wenn sie den Bedürfnissen der Lohnabhängigen entgegenkommen und damit die Krise vorantreiben. Sie wären zu betrachten als einzelne, wirtschaftspolitische Maßnahmen innerhalb eines viel weiter reichenden antikapitalistischen Transformationsprozesses, als Übergangsmaßnahmen, bei denen es darum geht ‚das letzte Geld sinnvoll (zu) verballern’ (Ortlieb 2013: 36).“

(http://akkffm.blogsport.de/images/DerkommendeAufprall_web.pdf, S. 4, 5)

 

Ich bin meinerseits zwar keinesfalls überzeugt, daß es schon um „das letzte Geld“ geht, aber dem grundsätzlichen Gedanken der AKKFfM stimme ich zu – und in ganz ähnlicher Weise formulierte Frieder Otto Wolf bereits in den 1980er Jahren in Bezug auf die damalige GRÜNE Wirtschaftspolitik:

„Hinsichtlich der Problematik einer grünen Wirtschaftspolitik wird in dieser Perspektive nicht die Aufgabe einer ‚realistischen’ Gesamtprogrammatik in den Vordergrund rücken (die dann angesichts der Unfähigkeit der oppositionellen Kräfte, die zu einer Abkoppelung von den Hegemoniestrategien der USA oder auch nur zu der Verhinderung von Kapitalflucht erforderlichen gesellschaftlichen Kämpfe zu entfalten, ohnehin wieder ‚unrealistisch’ wäre). Es geht vielmehr in erster Linie darum, konkrete Forderungen, an denen sich gesellschaftliche Kämpfe entwickeln, aufzugreifen, in ihrer Ambivalenz bzw. ihren möglichen Eingliederungen in eine modifizierte Herrschaftsstrategie zu analysieren und sie bewußt gerade nach den Seiten weiterzuentwickeln, die gegenüber einer solchen Reintegrationsstrategie am widerständigsten sind. Und dabei, in diesem Prozeß der Entwicklung von Kampfforderungen innerhalb wirklicher Kämpfe, nicht nur die Illusion zu überwinden, es gäbe überhaupt eine alternative Wirtschaftspolitik, solange wesentliche gesellschaftliche und politische Machtstrukturen nicht zerbrochen seien, bzw. ‚Wirtschaftspolitik’ sei etwas, was ‚die Regierung’ machen könne, wenn sie nur wolle bzw. das richtige ‚Konzept’ habe.“

 

(Ausstieg, Umgestaltung oder Umwälzung? Chancen und Illusionen grüner Wirtschaftspolitik, in: Das Argument H. 146, Juli/Aug. 1984, 577 - 585 [584])

 

Es geht also um die Einsicht (und den angesichts dessen erforderlichen langen Atem), daß eine alternative „Gesamtprogrammatik“ (F.O. Wolf) beim gegenwärtigen und absehbaren Kräfteverhältnis absolut unrealistisch ist, daß sie nicht als „Reformalternative“ (DKP) realisierbar ist, sondern wenn überhaupt, dann als Revolution.

 

Und solange letztere nicht möglich ist, geht es zwar – neben der notwendigen Vorbereitungsarbeit mit langem Atem – auch um Verbesserungen der Lebens- und Arbeitsbedingungen der Lohnabhängigen, Frauen und Schwarzen im Hier und Jetzt (also um Verbesserungen im Bestehenden), aber nicht um eine ‚Verbesserung von Kapitalismus, Patriarchat und Rassismus’ (nicht um eine Verbesserung des Bestehenden). Entlang diese Scheidelinie verläuft die Grenze zwischen dem Kampf von RevolutionärInnen für Reformen und Reformismus:

 

Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen der Beherrschten und Ausgebeuteten oder Verbesserung der bestehenden Herrschafts- und Ausbeutungsverhältnisse?

 

Gegen Linksradikalismus (im leninische Sinne) und Sektiererei sind Notwendigkeit und Möglichkeit des Kampfes für „Verbesserungen im Bestehenden“ zu betonen; gegen den Reformismus ist der Unterschiede zwischen „Verbesserungen im Bestehenden“ und „Verbesserung des Bestehenden“ zu betonen. [4]

 

PS.:

 

Als historische Dokumente fügen ich dem Artikel als .pdf-Dateien die oben zitierte Kritik am „Reformalternative“-Konzept der DKP und einen zweiten Artikel des gleichen Autors aus der damaligen Zeit – ebenfalls zur DKP – bei.

 

[1] Von 1989 bis 2009 ist der Anteil des rot-rot-grünen Parteienspektrums im EU-Parlament immer geringer geworden; allein 2013 gab es einen leichten Wiederanstieg auf das Niveau von 2004, das aber weit unter dem von 1989 liegt.

 

[2] Im Original steht „konservativ-‚privatmonopolistischen’“.

 

[3] Im Original steht „ausschlaggebenden Kerngruppen der Monopolbourgeoisie“. - An dieser und der vorgenannten Stelle zeigt sich, daß der Autor des Artikel trotz seiner ansonsten kritischen Herangehensweise die ‚Monopol-Theorie’ der DKP teilte.

 

[4] Siehe dazu: http://neoprene.blogsport.de/2014/01/23/demokratie-die-suesseste-versuchung-seit-es-politik-gibt-workshop-tag-in-berlin/#comment-98385 (Abschnitt „zu 1.“)

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Ergänzungen

Ein - allerdings sinn-entstellender - Flüchtigkeitsfehler ist zu korrigieren:

Statt

"was durchaus auf der Linie des von der DKP schon immer vertretenen Konzeptes der 'monopolistischen Demokratie' [statt des revolutionären Antikapitalismus]"

muß es dort:

 

"'antimonopolistischen Demokratie'"

 

heißen. -

 

Den - im Artikel erwähnten - gemeinsamen Text von systemcrash und mir gibt es jetzt im übrigen - mit einer ergänzenden Fußnote - auch bei der Emanzipatorischen Linken:

 

[UPDATE] Kritik bzw. Antwort auf das kürzlich veröffentlichte “Plan A”-Papier von Thomas Seibert. Online u.a. hier auf linksunten.indymedia oder hier als PDF in einer um eine Fussnote (!) ergänzten Fassung des Textes.

https://emanzipatorischelinke.wordpress.com/2015/12/13/erste-notizen-zum-plan-a-einer-neuen-linken-nicht-nur-in-deutschland/