Eine Antwort zu „Von Diskussionen, die keine sind und der Freude am Gemeinsamen“
Kürzlich erschien auf indymedia ein Text unter dem Titel „[Le] Von Debatten, die keine sind und die Freude am Gemeinsamen“, der sich inhaltlich mit vorhergehenden Texten befasste, die mit viel gutem Willen als „Debatte“ betrachtet werden könnten, oder halt auch nicht, wie es ja der neue Text im Titel direkt ablehnt. Vielleicht sind es eher Anfeindungen zwischen zwei politischen Strömungen (und vermutlich nicht nur in Leipzig, auch wenn mindestens ein Teil der Texte dorther zu kommen scheint), die festgelegte Standpunkte gegeneinander halten, oder sich aber im vermeintlich engen Raum politischer Praxis und deren Bewertung aneinander reiben. Es geht also um einen Konflikt.
Der Text „Von Debatten, die keine sind“ zeichnet das Erleben dieses Konfliktes subjektiv als Enttäuschung nach und ergänzt diese subjektive Enttäuschung noch inhaltlich um Positionen, die einmal unter dem Titel „Scherbentheorie“ zusammengefasst wurden.
Die Scherbentheorie beschäftigt sich mit den Gründen für das Fehlen einer revolutionären Bewegung in Deutschland und findet diese in der Zersplitterung der linken Bewegung der 1960er Jahre in viele Einzelbewegungen, die ihr jeweiliges Thema als eine Art Hauptproblem betrachten und darüber hinaus den Blick auf das große Ganze verlieren. Übrig bleiben aus der Zersplitterung dann bloß noch „Scherben“, die für sich ein paar Qualitäten besitzen, aber eben nicht ALLE Qualitäten der linksradikalen Bewegung. Die Scherben wollen nun jeweils die anderen Scherben von der „Wahrheit“ ihrer Ansichten überzeugen, oder, falls das nicht mehr aussichtsreich ist, bekämpfen die anderen Scherben sogar. Das Problem, was die damaligen Denker*innen der Scherbentheorie darin sahen, liegt auf der Hand: So kommen wir nicht dazu, wieder eine starke revolutionäre Bewegung zu werden, sondern behindern uns sogar. Dies ist die inhaltliche Seite; auf der praktischen Seite wird das Herausbilden von Gruppen und Bündnissen kritisiert, sowie Diskussionsveranstaltungen bestimmter Art, welche dann zusammengenommen die falsche Praxis der einzelnen Scherben ausmachen.
Der Text „Von Debatten, die keine sind“, macht bezugnehmend auf die Scherbentheorie drei Vorschläge, die aus der Misere der Linken heraushelfen können: 1.) „Die eigene Identität in Frage zu stellen“, 2.) sich vom „gesellschaftlich vorgegebenen Druck der dauernden Spontanpositionierung zu befreien“ und erst einmal zu diskutieren und 3.) „ein Kommunikationsniveau miteinander zu erreichen, dass weniger von Abwertung und Polemik, sondern mehr von sachlicher Kritik und wohlwollendem Umgang geprägt ist“. Das klingt nicht verkehrt.
Es stellen sich zwei Fragen: Wieso zerfiel die linksradikale Bewegung der 1960er, die ja immerhin die Züge einer richtigen Revolte trug in so viele Einzelbewegungen? Und: Wieso ist es bezüglich der drei gemachten Vorschläge genau so eben nicht, also wieso stellen Linksradikale ihre Identität nicht in Frage, wieso leiden sie unter dem Druck der Spontanpositionierung und letztlich wieso besitzen sie ein Kommunikationsniveau, das von Abwertung und Polemik geprägt ist?
Zerfall der Student*innenbewegung von 1968
Die Student*innenbewegung von 1968 zerfiel bereits 1969 in eine ganze Reihe von Einzelorganisationen und Partikularstrukturen, oder wie die Scherbentheorie sagt: In einzelne Scherben. Auf die Frage nach dem Warum gibt es etliche Antworten, es soll hier gar nicht erst versucht werden, der Sache gerecht zu werden. Stattdessen ändern wir kurz den Blickwinkel: Die Student*innenbewegung zerfiel nicht in einzelne Scherben, sondern die Dominanz einer einzelnen Scherbe wurde gebrochen durch das Erstarken anderer Scherben, um im Scherbenbild zu bleiben. Anders gesagt: Die Student*innenbewegung bis 1969 war nicht die große Sammelbewegung einer radikalen Linken, kein heiles Gefäß, was zerbrach. Sie war bereits Ausdruck von Partikularinteressen, was bloß deshalb nicht auffiel, weil sie mit einem breit aufgefächerten Bild von der Freiheit aller Menschen daherkam (um es einmal ganz allgemein auszudrücken). Der Selbstaussage des damals wichtigen Sozialistischen Deutschen Studentenbundes nach verfolgte man zwar die Errichtung einer sozialistischen Gesellschaft zum Wohle aller Menschen, doch war dieser Anspruch schon im Innern des SDS nicht verwirklicht, wie sich sehr deutlich an der Auseinandersetzung auf dem Septemberkongress 1969 zeigte, auf welchem der Aktionsrat zur Befreiung der Frauen vertreten durch Helke Sanders in einer Rede die Perspektive der feministischen Teile des SDS ansprach: „Wir sprechen hier, weil wir wissen, dass wir unsere Arbeit nur in Verbindung mit anderen progressiven Organisationen leisten können und dazu zählt unserer Meinung nach heute nur der SDS. Die Zusammenarbeit hat jedoch zur Voraussetzung, dass der Verband die spezifische Problematik der Frauen begreift, was nichts anderes heißt, als jahrelang verdrängte Konflikte endlich im Verband zu artikulieren. Damit erweitern wir die Auseinandersetzung zwischen den Antiautoritären und der KP-Fraktion und stellen uns gleichzeitig gegen beide Lager, da wir beide Lager praktisch, wenn auch nicht dem theoretischen Anspruch nach, gegen uns haben.“ Die männliche Spitze des SDS wollte nach der (viel längeren) Rede einfach zu anderen Themen übergehen, was Sigrid Rüger dazu brachte, unter den an einen der wichtigsten SDS-Theoretiker, Hans-Jürgen Krahl, gerichteten Worten „Genosse Krahl! Du bist objektiv ein Konterrevolutionär und ein Agent des Klassenfeindes dazu!“ eine Tomate an den Kopf zu werfen. Damit brachte der Aktionsrat zur Befreiung der Frau kein Problem in die Welt, sondern sprach ein bereits existierendes Problem mit Nachdruck an. Hier zerbrach nichts, es wurde lediglich gezeigt, dass schon vorher alles in Scherben lag. Es zeigte sich eben, dass anders als Helke Sanders es ausdrückte, die eigene „Arbeit nur in Verbindung mit anderen progressiven Organisationen“ geleistet werden konnte, sondern dass sie genau dort nicht zu leisten war. Um die Arbeit leisten zu können, musste im Gegenteil die Distanz zum SDS gesucht werden.
Unter dieser Perspektive gibt es keine Rückkehr zu einer ehemals starken Bewegung, die noch nicht in Einzelinteressen zerfallen war. Die Einzelinteressen waren bereits vorhanden und wurden versucht, auf der theoretischen Ebene zu ignorieren oder wegzuargumentieren. Die Debatten dieser Zeit waren in gewisser Weise sogar unliebsam, weil sie Differenzen zur Sprache brachten, wo alle sich wünschten, es gäbe gar keine. Zugleich waren sie wenig zielführend, weil ein Argument die persönliche Situation von jemandem nicht ändert; nicht zuletzt deshalb brachte die neue Frauenbewegung auch eine neue Art der Politik der ersten Person auf den Weg, in welcher das Privatleben nicht der politischen Praxis und Tätigkeit im Weg steht, sondern im Gegenteil ihr Ausgangspunkt ist; gegen die persönliche Situation lässt sich kein Argument finden, es ist vielmehr die Frage des sich seiner persönlichen Situation bewusstseins. Es ist es auch fraglich, ob die Trennung Politisches hier – Privates da, überhaupt aufrecht zu erhalten ist. Sicher, wer die abstrakte und vernünftige Ebene wählt, der tut vordergründig so, als ob er über Allgemeines spricht, über Dinge, die auch abseits seiner privaten und subjektiven Lage Gültigkeit besitzen. Aber es ist auch sehr gut möglich, dass damit private und subjektive Interessen bloß verschleiert, oder einfach überhöht werden. Subjektives wird zum „für alle Wichtigem“ verklärt, bloß um nicht in Verlegenheit für die eigenen Interessen, die einem ja schon verdächtig gemacht worden sind, zu kommen.
Die drei gemachten Vorschläge
Dies als Anmerkung zur Scherbentheorie. Aber: Hilft das bei der Betrachtung der im Text gemachten Vorschläge weiter? Vielleicht insofern, dass leichter zu verstehen wird, was hinter den Versuchen steckt, anderen vorzuschreiben, wie Politik korrekter Weise zu laufen hat: Eben kein Wunsch, die Scherben zu einem Mosaik zusammenzufügen, sondern so zu tun, als seien mit der eigenen politischen Linie schon alle Widersprüche aufgelöst und als sei die eigene politische Strömung ein Zuhause für alle. Insofern mag es schon recht hilfreich sein, die Akteur*innen würden ihre Identität reflektieren, wie es angeregt wird, wenn damit gemeint ist, darüber nachzudenken, dass die eigene Politik nicht die objektiv wahre und richtige Politik ist, sondern Ausdruck der eigenen Person, die eigene Politik also nicht aus abstrakten Überlegungen abgeleitet werden kann, sondern sich vom eigenen Subjekt her entwickelt und in diesem seine Bedingungen hat (und bevor sich jemand die Haare raufen muss: Gewiss haben die subjektiven Bedingungen ihre Grundlage in den objektiven Verhältnissen, aber aus dem objektiven Verhältnissen kommt eben keine politische Praxis). In der Scherbentheorie wird das so bezeichnet, das wir alle erst einmal erkennen und akzeptieren sollen, dass wir nur eine Scherbe sind, als solche recht bedeutungsarm und das wir Bedeutung nicht dadurch erlangen, dass alle unsere Überzeugung teilen, sondern dadurch, dass die einzelnen Scherben zusammenfinden. Allerdings war das bei der Scherbentheorie auf politische Strömungen als Scherbe gedacht. Vielleicht ist es demgegenüber aber eher so, dass dies schon für die einzelnen Subjekte gilt, welche ja auch innerhalb einer „Bewegungsscherbe“ mit etlichen Widersprüchen konfrontiert sind, wo das eigene Subjekt in der „Scherbenidentität“ nicht aufgehen will. Oder anders gesagt: Als Subjekt erlangen wir eben nicht dadurch Bedeutung, indem wir andere Menschen nur als Masse sehen, die uns dazu verhelfen wird, unsere subjektiven Interessen zu verwirklichen und dann versuchen, diese Masse in unserem Sinne zu mobilisieren (weil unsere Interessen sind ja wohl auch ihre Interessen). Wenn wir nun die Frage stellen, warum nun aber die Menschen ihre eigene Identität nicht in Frage stellen, stattdessen identitäre Politik machen und diese zugleich als objektiv richtige Politik verkaufen, so verweist das auf einen sehr großen Komplex und das ist nicht leicht abgehandelt. Warum machen die Menschen keine Politik aus ihrer subjektiven Lage heraus? Vielleicht liegt es daran, dass sie sich ihrer tatsächlichen subjektiven Lage gar nicht mehr bewusst sind. Dass sie über ihre subjektive Lage nur noch sehr wenig wissen und stattdessen das glauben, was ihnen über ihre subjektive Lage gesagt wird, oder dass sie ihre subjektive Lage selbst ablehnen und denken, dass diese sich nicht eignet, um daraus Politik zu machen, weil dies den eigenen Wertvorstellungen widerspricht. Stattdessen wird dann eine Übereinstimmung mit abstrakten Positionen gesucht, welche sich als moralisch, ethisch oder theoretisch gut darstellen.
Dem zweiten Vorschlag, also sich nicht ständig zu Spontanpositionierungen hinreißen zu lassen, ist einfach nur zuzustimmen, auch wenn er scheinbar unmittelbar gar nichts mit der Scherbentheorie zu tun hat. Scheinbar deshalb, weil vielleicht die Ursache für Spontanpositionierungen eben in der Ermangelung einer Reflexion der eigenen Identität gesehen wird. Wer sich demgegenüber, wie in der Scherbentheorie gefordert und im Text „Von Debatten die keine sind“ angedeutet, seiner eigenen Bedeutungslosigkeit bewusst wird und sich selbst mehr als kleine Scherbe neben anderen sieht, denn als großer Player, der mag das Interesse oder den Drang zur schnellen Positionierung verlieren.
Es wäre vielleicht aber auch eine weitere Reflexion nötig, die derzeit nur bei sehr wenigen Menschen zu beobachten ist, und das wäre eine genauere Untersuchung der technologischen Entwicklung und was das mit uns macht. Durch facebook und twitter scheint sich der Hang zur Positionierung vergrößert zu haben; gerechtfertigt wird er jedoch nicht mit dem Vergnügen, welches Leute wohl vordergründig an facebook und twitter haben, sondern mit der Notwendigkeit, sich in aktuelle Diskurse einzubringen; der eigenen Bedeutungslosigkeit soll also durch Tempo und Masse eigener Positionierungen abgeholfen werden. Hundert tweets und posts machen einen bedeutungsvoller als gar kein tweet und post. Wer diese Sichtweise für richtig hält, der wird einen Teufel tun, sich nicht zu Spontanpositionierungen hinreißen zu lassen. Dahinter steckt vielleicht der Wunsch, über die Rezeption von Ereignissen, aber auch über die Rezeption der eigenen Person, der eigenen Gruppe oder Partei, Deutungshoheit zu erlangen und wer diesen Wunsch hat, findet in faceboook und twitter ein taugliches Instrument. Was die dahinterliegende Motivation am tweeten und posten ist, darüber ist wohl bloß zu spekulieren und bedürfte wohl genauerer Untersuchungen.
Zum letzten Vorschlag, ein Kommunikationsniveau zu erreichen, das weniger von Abwertung denn von wohlwollendem Umgang geprägt ist, ist wenig zu sagen. Wer wünscht sich das nicht? Aber wir alle wissen, dass wir es selten antreffen und wenn, dann doch nur bei Menschen, denen wir selbst und die uns auch wohlwollend gegenübertreten. Das Niveau der Kommunikation richtet sich danach. Wer anderen nicht wohlgesonnen ist, der wird sie auch dementsprechend behandeln, egal welche schöne Kommunikationsstrategie auch angewandt werden mag. Der Ton der vergangenen Debatten (auch wenn sie keine richtigen Debatten sein mögen) ist davon geprägt. Und diese Abneigung untereinander scheint echt zu sein. Es macht daher wenig Sinn, alle „an einen Tisch“ bringen zu wollen, damit alle sehen, wir wollen doch alle das Gleiche. Das ist nämlich gar nicht so und diese Vermutung, dass wir alle das Gleiche oder doch sehr ähnliche Dinge erreichen wollen, kommt doch daher, dass viele Menschen ihre subjektiven Interessen hinter politischen und moralischen Maximen verbergen oder versuchen darin aufzulösen. Zwar mag es sein, dass zwei Menschen etwas von der Freiheit aller Menschen reden und vordergründig ist es dasselbe, aber hintergründig ist es nicht dasselbe.
Daneben bleibt ja die Frage „Wieso sind wir nicht wohlwollend zueinander?“ unbeantwortet, wobei ihre Beantwortung ja wichtiger ist, als der bloße Wunsch, es sei nicht so. Allgemein ist die schwer zu beantworten, schlicht eingegrenzt lässt sich sagen: Wir sind uns eben eher fremd, und dass eben bei aller Ähnlichkeit in Sprache und Style. Eine Reihe von Betrachtungen deuten ja auch eher in die Richtung, dass die Menschen sich selbst gegenüber bereits fremd sind und dass das Maß an Nähe/Wohlwollen zu den geheimnisvollen anderen darin limitiert ist, wie groß die Fremdheit zu sich selbst sich ausgestaltet. Die „Entfremdeten“ können kaum eine sinnvolle Debatte führen, aber der Weg zur sinnvollen Debatte führt eben nicht zur Veränderung der Kommunikationsweise (etwa durch das Erlernen von Gesprächs-, Moderations- und Mediationstechniken), sondern durch die Veränderung der Subjekte in ihrem Verhältnis zu sich selbst. Eine veränderte Kommunikationsweise ist dann möglicherweise das Resultat.
Von Debatten, die keine sind
Von einer guten Debatte wird sich vielleicht im Allgemeinen auch etwas viel versprochen, zum Beispiel, dass es am Ende irgendeine Art von Klärung gibt. Oder eine Art Einheit zwischen den an der Debatte beteiligten. Oder der Abschluss einer Auseinandersetzung. Gut möglich aber, dass Debatten diese Eigenschaften gar nicht besitzen. Sie werden nur von sehr wenigen geführt, sie bleiben häufig oberflächlich und entfalten selten eine Wirkung über die an der Debatte Beteiligten hinaus. Vielleicht taugen sie mehr als Reflexion Einzelner auf die eigenen und die Gedanken Anderer und weiter nichts. Manche regt auch das Vorhandensein von nicht geteilten Ansichten so auf, dass sie diese anderen Ansichten am liebsten beseitigen, in Grund und Boden versenken oder zumindest klein und schlecht reden wollen. Die „rhetorische“ Figur dazu lässt sich auch in vielen Alltagssituationen und -gesprächen beobachten: „Das, was du sagst, das ist nichts, demgegenüber das, was ich sage, dass ist alles.“ Und dahinter steckt möglicherweise der Eindruck, dass die eigene Position gar nicht richtig zur Geltung kommt, so lange noch eine andere Position im Raum steht. Daher müssen erstmal alle Anderen herabgewürdigt werden, bevor dann überhaupt der unverstellte Blick für die großartige eigene Position frei wird. Daran können wir vielleicht einen Blick darauf erhaschen, wie das in den Menschen aussieht, so klein und unsicher sind sie innendrinn, dass sie den Eindruck eigener Qualität erst durch das Unterwerfen andere erhalten. Wer in einer solchen Lage aber steckt und diese gar nicht erkennen kann, der hat vielleicht etwas früh dem Wunsch nach Folgschaft für den Kampf um ein besseres Leben nachgegeben.