Antimilitarismus in Zeiten der Monster
“Die alte Welt liegt im Sterben, die neue ist noch nicht geboren. Es ist die Zeit der Monster.” – Antonio Gramsci
Red Storm Bravo: Krieg üben in Hamburg
Während die radikale Linke in Schockstarre liegt und mit Selbstzerfleischung beschäftigt ist, die bürgerliche Antikriegsbewegung die Flanke nach rechts weit offen lässt und alle sich noch ungläubig die Augen reiben und zu verstehen versuchen, was auf der Welt passiert, heben die Monster wieder die Köpfe. Die weltweite autoritäre Formierung äußert sich in brutalen Kriegen und der selbsternannte „freie Westen“ springt auf den Zug der Militarisierung auf. Säbelrasseln und Militarisierung allerorts sind die Folge. Im Rahmen dieser wankenden Weltordnung veranstalten Bundeswehr und NATO vom 25. bis 27. September ein großes Manöver in Hamburg. Unter dem Namen „Red Storm Bravo“ wollen 500 Soldat*innen gemeinsam mit Feuerwehr, THW, Airbus und der HPA unsere Stadt für ihr Kriegsspiel nutzen. Der Plan ist, die Verlegung von Truppen in einem urbanen Gebiet zu üben, falls es in Osteuropa zum Krieg kommen sollte. Der anvisierte Feind ist natürlich Russland, dessen autokratischer Alleinherrscher Putin so lange gut für Geschäfte war, wie er nur die russische Bevölkerung drangsaliert hat. Auch seine militärisch Intervention in anderen Ländern hat „den Westen“ lange Zeit nicht groß gekümmert – so lange eben die Wirtschafts- und Militärinteressen der NATO-Staaten, vorrangig USA und EU, nicht betroffen waren. So hatte die Annexion der Krim 2014 ebenso wenig nachhaltige Konsequenzen für das Regime Putin, wie die Unterstützung des syrischen Diktators Assad im syrischen Bürgerkrieg. Auch die weltweiten Einsätze der Söldner von „Gruppe Wagner“, die oft mit erheblichen Menschenrechtsverletzungen einhergehen, waren dem Westen kein Schulterzucken wert.
Nun aber treten neue Machtblöcke und neue Allianzen ans Licht, die sich in den letzten Jahrzehnten nach dem Ende der Sowjetunion und dem angeblichen „Ende der Geschichte“ gebildet haben. Die NATO expandiert und autoritäre Herrscher wie Putin und der chinesische Staatschef Xin Jinping üben den Schulterschluss. China hat jegliche kommunistische Idee der Freiheit längst über Bord geworfen und übt eine skrupellose Einflusspolitik in der ganzen Welt aus. Gleichzeitig wird immens aufgerüstet und jegliche Opposition im Inneren wie eh und je brutal unterdrückt. China ist ein politischer Akteur, der militärische Gewalt ebenso rücksichtslos zur Machtsicherung einsetzt, wie NATO und Russland. Der nächste Krieg könnte sehr wahrscheinlich in Taiwan stattfinden. Dort haben sowohl China als auch USA und weitere NATO-Staaten strategische wie wirtschaftliche Interessen.
Öl und Gas kauft man in Westeuropa zwar auch in diesem Moment immer noch bei Putin, aber ansonsten sind die Fronten endlich wieder klar. Wir gegen „den Russen“ – eine Perspektive, die schon im Kalten Krieg falsch war. Denn diejenigen, die Kriege ausfechten müssen, sind diejenigen, die nichts in ihnen zu gewinnen haben und auch im Frieden von ihren jeweiligen Systemen ausgebeutet werden: die Lohnabhängigen, Arbeitslosen, Jugendliche, kurz: das Proletariat.
Da ist es kaum ein Zufall, dass auch bei dieser Übung nicht nur geprobt wird, wie Truppen und Material schnell im Hamburger Hafen verschifft werden können. Teil der Übung ist auch die Unterdrückung zivilen Widerstands, die faktische Militarisierung ziviler Infrastruktur und – besonders perfide im aktuellen Diskurs um die komplette Demontage der restlichen Trümmer des „Sozialstaats“ – das Arbeitssicherstellungsgesetz. Dieses wurde 1968 (!) im Rahmen der Notstandsgesetze erlassen und beinhaltet prinzipiell nichts anderes, als dass wehrpflichtige Männer zur Deckung des Bedarfs an Arbeitskräften für „lebens- und verteidigungswichtige Aufgaben“ herangezogen werden können: Zwangsarbeit für die Kriegstüchtigkeit.
Warum Hamburg?
Dass dies alles in Hamburg passiert, ist Teil einer infrastrukturellen Logik. Der Hafen, gerne als „Tor zur Welt“ beschrieben, ist schon immer Umschlagplatz für tonnenweise Waffen und Munition, aber auch für strategisch bedeutende Güter und natürlich für Rohstoffe und Waren aus aller Welt in Werten von Milliarden. Was dem Kapital nützt muss geschützt werden. Wenn es dem Kapital nutzt, werden auch von hier Kriege ausgehen, von wo aus bereits seit Jahrzehnten Diktatoren und Kriegsparteien mit Nachschub beliefert werden.
Danke, aber nein danke. Kämpft eure Kriege allein! Ihr kommt nach Hamburg? Ihr rechnet mit zivilem Widerstand? You fucking bet! Wer in urbaner Umgebung Krieg spielt, muss mit urbanem Widerstand rechnen. Genau diesen werden wir als Anarchist*innen bei der großen Bündnisdemo auf die Straße bringen. Wir schließen uns den Aktionen gegen die Kriegsübung an, um eine autonome und radikale anarchistische Kriegskritik zu vertreten. Deshalb beteiligen wir uns an der großen Bündnisdemo „Gemeinsam gegen ,Red Storm Bravo“, die vorrangig die Partei DIE LINKE initiiert hat. Los geht es am 26. September um 18 Uhr am Rathausmarkt. Ihr findet uns bei den schwarzen Fahnen.
Trotz Kritik zusammen gegen den Krieg
Wir rufen zu dieser Demo trotz unserer fundamentalen Kritik an Parteien und auch an der der Partei DIE LINKE auf. Wir wollen eine Erwiderung der bürgerlichen Kriegskritik mit handfesten, radikalen Perspektiven bieten. Politische Parteien sind daran gebunden, sich an die Verfassung zu halten; das heißt, den Staat Deutschland und die kapitalistische Wirtschaftsweise zu akzeptieren. Aber genau die Existenz von Staat und Kapital zwingt das System in Konkurrenz, Nationalismus, Krise und Krieg. Es ist unmöglich, wie die Linken gegen den Krieg zu appellieren und gleichzeitig die liberale Ordnung zu unterstützen. Letzten Endes müssen sie, auch im Interesse ihrer eigenen Existenz, die Seite des Staates einnehmen – und sich damit für Krieg und Krise positionieren.
Das ist ein Widerspruch, der nicht aufgelöst werden kann. Da haben wir Autonomen es leichter – von Staat, Kapital und Verfassung wollen wir gar nichts wissen.
Pazifismus oder Krieg dem Krieg?
Als norddeutsches, anarchistisches Bündnis stehen wir für eine anarchistische Gesellschaft jenseits jeder Unterdrückung. Wir kämpfen für eine Gesellschaft, in der alle ohne Hunger und Gewalt leben können. Deswegen stellen wir uns gegen den Krieg – aber auch deswegen sind wir keine Pazifist*innen.
Die liberale, bürgerliche Ordnung, in der wir leben, ist voller Gewalt. Bereits das Alltägliche ist durchzogen von Ausgrenzung, Zwang und Herrschaft. Rassistische Bullenkontrollen, Patriarchat, Hunger, Obdachlosigkeit, Sucht, Knast, Abschiebungen, Arbeitsunfälle, wie die der Arbeiter, deren Leben bei dem Westfield-Bauprojekt in der Hafencity dem Profit geopfert wurden. Das ist Alltag und das ist die Gewalt, die uns zeigen soll, wer herrscht und wer beherrscht wird. Welche Gewalt Menschen außerhalb von Europa bereits in „Friedenszeiten“ erleben, ist unvorstellbar und doch grauenhafte Realität.
Wir befinden uns aber nicht länger in Zeiten der Alltäglichkeit – der Kapitalismus steckt in der Krise. Neben der ökologischen Katastrophe hat sich der Kapitalismus auch nie von der Finanzkrise 2009 erholt. Das Wirtschaftssystem ist an sein Limit gekommen – und den Preis zahlen wir alle. Arbeiter*innen weltweit arbeiten in immer prekäreren Lebensbedingungen, wenn es überhaupt noch Arbeit gibt. Und die elendige Grundsicherung, die wir in den westlichen Staaten „genießen“ konnten, wird auch immer weiter zusammengestrichen. Gleichzeitig zerstört die ökologische Krise – Konsequenz der kapitalistischen Ausbeutung der Natur – unsere Lebensgrundlage. Die Riots, die aktuell weltweit ausbrechen, sind kein Symptom der Hoffnung auf eine bessere Welt. Sie sind ein Ausdruck der Verzweiflung von Menschen, die nicht mehr wissen, wie es weiter gehen soll.
Das ist Klassenkampf, das ist sozialer Krieg – und das ist der Status Quo des sterbenden Kapitalismus, abgesichert durch Polizei und Armee, gegen den wir stehen. Und er wird nicht friedlich gehen, sondern sich genauso gewaltvoll verteidigen, wie er jetzt schon alltäglich regiert.
Das ist unser Widerspruch: eine herrschaftsfreie Welt ohne Gewalt kann nur mit Gewalt errungen werden.
Aber auch die Herrschenden sind an ihre Grenzen gekommen, auch sie wissen nicht mehr, wie weiter. Der grassierende Autoritarismus, der verstärkende Nationalismus, die Festung Europa und die Militarisierung sind ein Ausdruck der aktuellen Krise. Sie wollen den kapitalistischen Konkurrenzkampf militärisch absichern – zynisch wird deutlich, wieviel ein Menschenleben wert ist: nichts. Ob wir bei einem Zugunglück umkommen, weil es zu teuer war, moderne Sicherheitssysteme einzubauen (wie in Griechenland 2023), bei einem Arbeitsunfall umkommen oder an der Front erschossen werden: das menschliche Leben gilt dem herrschenden System nur, solange es Profit bringt.
Und die Möglichkeit, dass wir plötzlich mit der Waffe in der Hand das deutsche Kapital verteidigen sollen, wird immer realistischer. Genau deswegen läuft seit Jahren die kulturelle, ideologische Militarisierung, die uns vorbereiten soll im Namen der deutschen Nation in den Krieg zu ziehen – als armes Schwein, das auf andere arme Schweine schießen soll.
Vom Kulturkrieg aufs echte Schlachtfeld
Diese kulturelle Vorbereitung auf Krieg und Militarisierung treffen wir überall an: Bundeswehr-Werbung, die Krieg und Mord gameifiziert; Tiktoks, die Männlichkeit und Härte zelebrieren. Wir sollen härter werden, uns abschotten, uns wieder positiv auf unsere Nation beziehen.
Dabei ist die Verbindung von Männlichkeit und Militarismus nicht zufällig. Patriarchale Gewalt ist konkreter Teil des Krieges – es geht um vermeintlich männliche Rücksichtslosigkeit, körperliche Überlegenheit, Dominanz. Jungen cis Männern wird in Kraft und Gewalt ein Sinn in einer sinnlosen Welt vermittelt: „Zieh in den Krieg und beweise dich.“ Das Einzige, was sie letztendlich beweisen werden, ist dass ihr Tod an der Front nichts verändert hat. Die soldatische Persönlichkeit, die ihnen eingeschärft wird, geht jedoch weder an ihnen noch an der Gesellschaft spurlos vorüber. Sie selbst laufen mit einer Unfähigkeit herum, zu lieben, mit ihrer Wut umzugehen oder zwischenmenschliche Beziehungen wirklich einzugehen. Und die obrigkeitshörige Gewaltfaszination ist ein zielsicheres Einfallstor zum lupenreinen Faschismus.
Wenn wir bereits vom Faschismus sprechen: Die Angst vor ‚dem Russen‘ ist nicht neu und wird seit Jahren erneut treffsicher von Politiker*innen und professionellen Hetzern bedient. Die Gefahr aus dem Osten soll gegenüber den deutschen Bürger*innen jegliche Aufrüstung legitimieren. Die traditionell-deutschen Ressentiments haben ihre Wurzeln im Nationalsozialismus, als die Deutschen sich vor der Rache der anrückenden Sowjetarmee fürchteten – wohlwissend, was für unfassbares Leid und Grauen sie zuvor in Osteuropa angerichtet hatten.
Wenn man mit offenen Augen durch die Welt geht, trifft man in vielen Ecken die Aufforderung zu sozialer Kälte und „männlicher Härte“ an. Manchmal unauffällig und versteckt, manchmal schamlos öffentlich. Die Auswirkungen dieser Botschaften sind jedoch nicht versteckt: unsere Kultur bereitet uns darauf vor, bald erneut bereit zu sein, mitleidslos aufeinander zu schießen. Aber die einzigen, die man unter Beschuss nehmen sollte, sind unsere Bosse und ihre faschistischen Lakaien!
Neues Kanonenfutter braucht das Land
Lange Jahre des Kulturkampfs von rechts gipfeln aktuell in der Debatte um den Wehrdienst in einem Sieg der Kriegstreiber, für den die Sozialdemokratie einmal mehr die Lohnabhängigen betrogen hat: Die 2011 ausgesetzte Wehrpflicht ist wieder da. Erst noch auf „freiwilliger Basis“, jedenfalls solange sich in Friedenszeiten genug junge Menschen melden, um den Bedarf an Kanonenfutter aus ideologischer Verblendung zu decken oder sich von versprochenen Boni wie Führerschein, Ausbildung oder Studium kaufen lassen. Perfide wird ein altes Rezept wieder ausgepackt: Lockt die Armen mit Versprechen für ein besseres Leben an die Waffen.
Hier ist unsere Aufgabe, der Kritik, Aufklärung und praktischen Widerstand nicht müde zu werden. Wenn die Sollstärke an Truppen durch „Freiwilligkeit“ nicht erreicht werden kann, sieht das neue Gesetz wieder Zwang durch Wehrpflicht vor. Wie das ganze im tatsächlichen Kriegsfall aussehen wird, können wir uns bildhaft vorstellen. Auch dann muss eine Antikriegsbewegung handlungsfähig werden. Rechtsbeistand, Verstecke für Deserteure und der stete Ausbau einer antimilitaristischen Bewegung sind nur wenige Beispiele. Glücklicherweise können wir innerhalb der BRD auf viel Wissen und Erfahrung diesbezüglich bei älteren Genoss*innen zurückgreifen. Schmiedet Bündnisse, eignet euch Wissen an und gebt es weiter. Gemeinsam sind wir stark und auch gegen Wehrpflicht und Kriegstreiberei ist die Solidarität eine unserer wirksamsten Waffen.
Anarchistisch handeln im Krieg
Unsere Kritik hört nicht bei Bundeswehr und NATO auf. Während die NATO noch damit beschäftigt ist, sich für kommende Kriege neu aufzustellen, hat der russische Diktator Putin schon Fakten geschaffen. Für uns steht nicht zur Debatte, dass Putin die Ukraine unprovoziert mit Gewalt und Leid überzieht. Zunächst ab 2014 mit irregulärer Kriegsführung, dann ab der Invasion 2022 mit einem konventionellen Krieg, der bereits zehntausende Leben gekostet hat.
Genauso wenig steht für uns zur Debatte, dass Putin der Feind jeder progressiven Gesellschaft ist und damit auch unser Feind, den wir bekämpfen müssen. Einige Genoss*innen aus der Ukraine, Belarus, Polen und anderen Ländern haben deshalb zur Waffe gegriffen und sich zunächst in anarchistischen Milizen organisiert, bevor sie (unfreiwillig) in die regulären ukrainischen Streitkräfte integriert wurden.
Wir stehen hier vor einem Dilemma. Unsere Solidarität gilt selbstverständlich unseren Gefährt*innen, die sich entschlossen haben, sich der Invasion entgegen zu stellen. Auf einer emotionalen Ebene können wir diese Entscheidung nachvollziehen. Die Ukrainer*innen haben von Putin eine Wahl aufgezwungen bekommen, die niemand sollte treffen müssen: Verteidige ich ein Land, in dem ich kriminalisiert und verfolgt werde, aber zumindest einige bürgerliche Freiheiten genießen kann, gegen einen autokratischen Staat, der die Gleichheit aller Menschen mit Füßen tritt, mit meinem Leben? Auf persönlicher Ebene kritisieren wir niemanden, der sich in dieser Frage entschieden hat.
Dennoch sind wir überzeugt, dass eine politische Kritik notwendig ist. Denn es ist ein Trugschluss, dass es nur zwei Seiten gäbe, zwischen denen wir wählen können. Als Autonome, Anarchist*innen und Linksradikale müssen wir uns immer auf die Seite der Unterdrückten stellen. Darum mag es auf der Hand liegen, sich die Perspektive der Ukraine zu eigen zu machen. Auch wir haben gefeiert, wie russische Panzer unter Hagel von Mollis, geworfen von spontan selbstorganisierten Dorfgemeinschaften, fliehen mussten. Auch wir haben hämisch gelacht, als ukrainische Bäuer*innen massenweise liegengebliebene russische Panzer mit ihren Traktoren abgeschleppt und enteignet haben. Und auch wir sind schockiert über die Kriegsverbrechen, die die russische Armee bis heute begeht.
Doch der fortschreitende Krieg hat eben auch gezeigt, dass die Ukraine alles andere als eine progressive Gesellschaft ist, für die zu kämpfen revolutionär sei. Probleme, die die Gesellschaft bereits vor dem Krieg hatte, wie Korruption und undemokratische Prozesse, haben sich durch den Krieg potenziert. Arbeitnehmer*innenrechte werden beschnitten, Gewerkschaften massiv eingeschränkt und die Freiheit aller Ukrainer*innen, ganz besonders den wehrpflichtig gemachten Männern, wurde abgeschafft. Es kommt immer wieder zu Zwangsrekrutierungen durch Greifkommandos auf offener Straße und von einem Recht auf Kriegsdienstverweigerung brauchen wir gar nicht mehr zu reden. Eine Beteiligung anarchistischer Kämpfer*innen mag aus individueller Sicht daher verständlich sein, anarchistische oder autonome Praxis ist es unserer Meinung nach nicht.
Der Krieg in der Ukraine ist nicht im politisch luftleeren Raum entstanden, natürlich hat auch die NATO in den letzen Jahrzehnten Interessen in Osteuropa verfolgt, die Einfluss auf die Weltpolitik hatten und eben den russischen Interessen zuwiderlaufen. Das rechtfertigt keinen Angriff, aber es ist, was Staaten tun und wie Kriege schon immer entstanden sind. Dazu müssen wir uns als Feinde der Staaten verhalten. Die NATO unterstützt die Ukraine nicht aus Solidarität oder Sorge um die Demokratie in Osteuropa, sondern aus knallharten geopolitischen Erwägungen. Die Ukraine ist Erprobungsplatz von Waffensystemen, Testgelände für alte und neue Militärtechnik und -taktik. Auch zivile Wirtschaftsakteure bringen sich in Stellung um an Aufrüstung und später dem Wiederaufbau des zerstörten Landes Milliarden zu verdienen. Über allem schwebt das Ziel der NATO, Russland zu schwächen, den Einfluss Putins im Weltgeschehen einzudämmen und die schwer angeschlagene westliche Hegemonie in der Weltpolitik noch ein wenig länger aufrechtzuerhalten.
Das beweist einmal mehr, dass die Interessen der Bevölkerung, der Lohnabhängigen, im Krieg der Staaten weit unten in der Prioritätenliste stehen. Wir ziehen daraus einen Schluss, den in der Geschichte schon unzählige Linksradikale gezogen haben: Im Krieg der Mächtigen gibt es für uns nichts zu gewinnen und alles zu verlieren. Wir stellen uns deshalb gegen jeden Krieg und bekämpfen die staatliche Gewalt.
Wie wir als Anarchist*innen und Autonome auf Kriege reagieren, muss also jetzt diskutiert werden, solange wir noch in einer weitgehenden Friedensgesellschaft die Möglichkeit dazu haben. Ideen dafür gibt es viele: Soziale Verteidigung, Ziviler Ungehorsam, Sabotage, Guerillataktiken, Desertation, Aufbau von Solidaritätsnetzen, Agitation, Generalstreik, grenzübergreifende solidarische, klassenbewusste Organisation. Wir behaupten nicht, die eine, funktionierende Taktik zu kennen. Von einem sind wir jedoch überzeugt: Die Teilnahme an den Kriegen der Mächtigen in ihren Massenheeren bietet für uns keine Perspektive. Die Ideale von Antiautoritären gehen in einer regulären Armee unter und werden gezielt unterdrückt. Der geringe positive Einfluss, den vereinzelte progressive Kämpfer*innen in der Armee einer Nation nehmen können, ist unserer Meinung nicht das Leben oder die (psychische) Unversehrtheit auch nur eines*r Genoss*in wert.
Der Vergleich der ukrainischen Fremdenlegion mit den internationalistischen Freiwilligenverbänden im Spanischen Bürgerkrieg oder in der Verteidigung der Revolution in Rojava wird hin und wieder gezogen. Doch er hinkt gewaltig. Denn während unsere Genoss*innen in Rojava und Spanien für eine egalitäre Gesellschaft kämpften und kämpfen, werden unsere ukrainischen Genoss*innen unserer Meinung nach für die Interessen von Kapital und Nationalismus verheizt.
Wir rufen deshalb jede*n dazu auf, nicht auf die Propaganda der Mächtigen hereinzufallen. Wir müssen unser Klassenbewusstsein wieder schärfen. Uns muss wieder selbstverständlich klar werden, dass der Hauptfeind im eigenen Land steht, in Gestalt der herrschenden Klasse und nicht auf der anderen Seite einer imaginären Linie im Dreck, in Gestalt anderer Arbeiter*innen, nur weil sie eine andere Uniform tragen.
Der Nahostkonflikt
Wohin Nationalismus, Militarisierung, Imperialismus und religiöse Ideologie führen ist zurzeit einmal mehr im Nahen Osten zu beobachten. Der israelische Staat, unter der Leitung des rechtsextremen Kabinett Benjamin Netanjahus, führt einen brutalen asymetrischen Krieg mit der islamisch-nationalistischen Hamas und ihren Qassam-Brigaden. Ob man bei diesem Konflikt in Anbetracht der absoluten Ungleichheit an Waffen, Material und Opfern überhaupt von Krieg sprechen kann, kann diskutiert werden.
Nicht zu diskutieren sind die Gräueltaten und Kriegsverbrechen, die die israelische Armee im Gaza-Streifen verüben. Ob der juristische Begriff eines Genozids zutrifft, klären Gerichte, viele Expert*innen sehen ihn als zutreffend an. Für uns ist die Begrifflichkeit zweitrangig. Schon lange sind überwiegend Zivilist*innen Opfer und auch Ziel der israelischen Militärschläge; die Vertreibung oder Auslöschung palästinensischen Lebens und Kultur ist erklärtes Ziel einiger israelischer Politiker. Auch wenn die israelische Führung von einem Krieg gegen den Terrorismus spricht, ist für uns klar, dass die Vertreibung und die massenhafte Ermordung von Palästinenser*innen stattfindet. Sie zu leugnen, bedeutet zu lügen. Die aktuell stattfindende Militärkampagne der israelischen Armee ist durch nichts zu rechtfertigen. Auch nicht durch den grauenhaften Terrorangriff der Hamas auf israelische Zivilist*innen am 7. Oktober 2023.
Auch dieser Krieg muss sofort beendet werden. Er nutzt nicht den Israelis, und natürlich nicht den Palästinenser*innen. Hamas und Netanjahu brauchen beide den Krieg, um sich an der Macht zu halten. Deshalb wird auf Kosten von Geiseln, zivilem Leben und unter Missachtung aller Menschenrechte weiterbombardiert und weitergekämpft.
Dass Netanjahu sich nicht wirklich um die Interessen der israelischen Bevölkerung schert, zeigt seine Missachtung gegenüber dem Leben der Geiseln, die sich noch in der Gewalt der Hamas befinden, das gewaltvolle Vorgehen gegen Antikriegsproteste in Israel und die Verweigerung jeder diplomatischen Lösung.
Westliche Politiker*innen haben lange geschwiegen, um den engen Verbündeten Israel nicht zu verärgern. Nicht nur in der BRD wurden propalästinensische Proteste gewaltvoll unterdrückt. Aktivist*innen droht die Abschiebung und rassistische Klischees bei Bullen und in den Medien wurden lange vorgeschoben, um sich nicht mit gerechtfertigter Kritik auseinandersetzen zu müssen.
Wir sind uns der besonderen Rolle der BRD in der Beziehung zu Israel bewusst. Als überwiegend in Deutschland sozialisierte Antifaschist*innen teilen wir die Sorge vor dem erstarkenden Antisemitismus und haben den Anspruch sensibel gegenüber antisemitischen Tendenzen bei der Kritik am Staat Israel zu sein. Das darf aber keinesfalls dazu führen, Kriegsverbrechen und Massenmord zu verharmlosen. Ein Schutzraum für jüdisches Leben mag in der aktuellen Weltlage notwendig sein, weder rechtfertigt noch erfordert er die Vertreibung und Ermordung Zehntausender.
Unsere Utopie einer freien Gesellschaft gilt auch für Israel und Palästina. Wir wollen auch dort einen Zusammenschluss des israelischen und palästinensischen Proletariats, um gemeinsam gegen ihre jeweiligen Herrscher*innen eine bessere Welt zu erkämpfen. Sie mag unrealistisch sein. Aber welche Lösungsvorschläge sind das momentan nicht? Wann haben wir uns davon abhalten lassen, unrealistische Utopien zu verfolgen? In der aktuellen Lage im Gazastreifen gilt unsere Meinung ohnehin kaum etwas. Eine Forderung muss jedoch klar sein, über alle Strömungen emanzipatorischer Kräfte hinweg: STOP THE WAR ON GAZA NOW.
Aus der Hölle des Krieges in die Utopie
Die Welt brennt an allen Ecken. Wir wachen jeden Morgen auf, denkend, es könne nicht schlimmer kommen. Nachts gehen wir ins Bett und die Welt ist wieder schlimmer geworden. Die Zeit der Monster bricht an, die eine neue Phase des Widerstands erfordern.
Es heißt jetzt, gemeinsam zu kämpfen, die Kriegsmaschine zu sabotieren, den Herrschenden für ihre Verbrechen nicht zu vergeben und vor allem, sich auf unsere Solidarität zu besinnen. Es wird Zeit, dass die Angst die Seiten wechselt. Das Einzige, was wir haben, ist einander.
Aus der Krise wird der Kapitalismus nicht mehr herauskommen – es bleibt nur noch die Frage, was danach kommt. Und wir werden sie beantworten.
Die freie Gesellschaft ist wie ein Phoenix: Auch sie wird Asche brauchen, aus der sie steigen kann und diese muss die Asche des kapitalistischen Weltsystems und jeglicher autoritären Organisation sein, die wir endlich überwunden haben. Denn wir wollen nicht die jetzige staatliche Ordnung durch eine neue ersetzen, in der Parteibonzen mit rotem Anstrich die gleiche Scheiße abziehen wie ihre angeblichen Klassenfeinde. Wir wollen niemandem machtlos dabei zusehen müssen, wie Millionenheere aus der arbeitenden Klasse in die Fleischwölfe der Kriege und Produktion geworfen werden. Wir wollen eine Welt, die ohne Zwang existiert, in der Produktion und Wirtschaft auf die Bedürfnisse der Menschheit ausgerichtet sind und nicht andersherum. Eine Welt, in der wir alle friedlich und frei sind und in der jede*r jederzeit die Möglichkeit hat, die Notwendigkeit jedoch nicht mehr besteht, zu sagen: “Nein, meine Söhne geb’ ich nicht!” – und auch keines unserer anderen Kinder.
No war, but class war.
