Diskussionsbeitrag zu den "Chaostagen" und zum Fall Lorenz
Als einige Angehörige einer Bewegung, die versucht, soetwas wie Gerechtigkeit für die Opfer von Polizeigewalt und ihre Angehörige herzustellen sowie Schutz für uns alle als potentielle Opfer staatlicher und systemischer Gewalt zu bieten, wenden wir uns an die Initiative „Gerechtigkeit für Lorenz“ sowie an alle, die so wie wir etwas tun wollen.
Wir waren selbst in Gruppen ähnlich der Initiative "Gerechtigkeit für Lorenz": im Fall Dennis J. und im Fall Slieman Hamade. Seitdem haben wir alle Fälle polizeilichen Mordens verfolgt und waren unzählige Male auf der Straße. Wir wollen den Angehörigen und Freund*innen unser Beileid ausdrücken und ermutigen, das Andenken an Lorenz zu bewahren sowie für Gerechtigkeit zu kämpfen.
Was bedeutet Gerechtigkeit? Für die Initiative "Gerechtigkeit für Lorenz" ist es Aufklärung und Konsequenzen, wie sie in ihrem Text vom 01.05. sagen (https://de.indymedia.org/node/506224). Sie sagen, sie wollen einen ernsthafte, gewaltfreie und verantwortungsvolle Aufarbeitung der Umstände. Aber was soll das bedeuten?
Es ist verständlich, dass die Initiative heftig darauf reagiert, dass jemand das Design benutzt, das sie offenbar auch benutzen. Die Verwendung des Designs kann den Eindruck erzeugen, dass die Initiative dahinter steht. Das sollte im Rahmen einer solidarischen Bezugnahme aufeinander nicht passieren.
Wir denken, dass der Aufruf zu Chaostagen als Rache für Lorenz mindestens in dieser Hinsicht unbeholfen ist. Er ist aber nicht bösartig und nicht gegen die Initiative gerichtet. Im Gegenteil: er bezieht sich positiv auf Aussagen von Suraj Mailitafi, dem Sprecher der Initiative „Gerechtigkeit für Lorenz“. Er schließt sich damit der Forderung nach einer Debatte über Polizeigewalt in Deutschland an und wiederholt: „Wir wollen uns nicht daran gewöhnen, dass Menschen, People of Color, durch Polizeigewalt getötet werden.“
Diesen Anliegen schließen auch wir uns vorbehaltlos an. Wir finden es aber unverständlich, dass die Initiative für sich alleine beansprucht, ernsthaft und verantwortungsvoll die Umstände aufzuarbeiten.
Erstens bleibt sie in ihrem Text eine Erklärung schuldig, was "Aufarbeitung" bedeutet. "Aufarbeitung" ist ein Wort, dass im Zusammenhang mit Staatsgewalt hauptsächlich dazu benutzt wird, zurecht wütende Menschen zu beschwichtigen. Und zwar nur mit dem Ziel, so weiter zu machen wie immer. "Aufarbeitung" gab es beim NSU, bei Hanau, bei Oury Jalloh - geändert hat sich nichts.
Zweitens unterstellt die Initiative mit ihrer Aussage, dass alle, die nicht gewaltfrei sind auch nicht ernsthaft und nicht verantwortungsvoll sind. Das ist eine Entsolidarisierung nicht nur von den Aufständen der Black Lives Matter Bewegung sondern auch von allen anderen, die sich wehren. Sich wehren ist Gegengewalt. Sogar das bürgerlichen Recht, das von den Herrschenden gemacht wird, muss diese Realität anerkennen: Notwehr, Nothilfe, präventive Notwehr. Ein Aufruf zur absoluten Gewaltfreiheit ist daher eine maßlose Forderung und eine totale Kapitulation vor dem staatlichen Gewaltmonopol.
Die Initiative muss verstehen, dass das was jetzt passiert - auch der Aufruf zu den sogenannten Chaostagen - genau die "Debatte über Polizeigewalt" ist, die sie fordert. Denn über Polizeitaktiken und -strategien zu diskutieren ist aus unserer Position (der Position der potentiellen und tatsächlichen Opfer staatlicher Gewalt) sinnlos, denn nicht wir sind es, die die Mörder in Uniform auf die Straße schicken und sie kommandieren. Wir können niemals und wir werden niemals diejenigen sein, die Gesetze und Einsatzdirektiven schreiben. Wir können nur ihre permanenten Versuche, uns immer weiter zu unterdrücken und uns gefügig zu machen, mit Druck von der Straße zurückdrängen. Für uns muss daher eine Debatte über Polizeigewalt bedeuten: wie gehen wir mit der Polizei um, wie schützen wir uns und wie verhindern wir ihre Gewalt. Wie verhindern wir, dass sie in ein paar Tagen schon die nächsten ermorden?
Für uns ist vollkommen klar, dass Gerechtigkeit nicht in den Parlamenten, nicht in den Gerichten und nicht in den Geheimdienst- und Polizeibehörden hergestellt wird. Sie kann nur von der Straße kommen. Wir können nicht erwarten, dass eine offizielle Institution oder auch nur eine Tageszeitung auch nur anerkennt, dass Lorenz ermordet wurde. So war das mit Oury Jalloh, Slieman Hamade und Dennis J. Die Mächtigen glauben nicht, dass Lorenz ermordet wurde, sondern für sie gehört Lorenz einer Sorte Mensch an, die mit Gewalt beherrscht und wenn er sich wehrt vernichtet werden muss.
Für uns ist Lorenz einer von uns: ein vollwertiger Mensch, ein Bruder den wir hätten schützen müssen und den wir, da wir es in all den Jahren nicht geschafft haben, der Polizei klarere Grenzen aufzuzeigen, als Mahnung in uns tragen werden, es in Zukunft entschlossener zu probieren. Hätten wir es bei Oury Jalloh so gemacht wie bei George Floyd, dann hätten wir es vielleicht auch bei Dennis J. und bei Slieman Hamade gemacht und dann würde die Gesellschaft und sogar die Regierung und der Polizeiapparat sich tatsächlich mit einer Aufarbeitung beschäftigen müssen - Aber leider wurde das Polizeirevier in Dessau mit seinen Todeszellen immernoch nicht niedergebrannt.
Was Gerechtigkeit bedeutet, ist wirklich eine schwierige Frage.
Nach bürgerlichem Recht hat beispielsweise Mouhamed Dramé, der am 8. August 2022 in Dortmund erschossen wurde, sowie seine Angehörigen Gerechtigkeit erfahren. Die Angeklagten Polizeibeamt*innen haben Mouhamed innerhalb weniger Sekunden mit Pfefferspray besprüht, getasert und dann mit sechs Schüssen aus einer Maschinenpistole getötet. Sie wurden am 14.12.2024 vom Landgericht Dortmund freigesprochen, weil "sie sich in einem Erlaubnistatbestandsirrtum befanden, da sie fälschlich von einer Notwehrlage ausgingen, als Dramé nach dem Reizgas-Einsatz mit dem Messer in der Hand auf sie zukam. Daher hätten sie nicht schuldhaft gehandelt. Mit dieser Argumentation lehnt das Gericht einerseits eine individuelle strafrechtliche Verantwortlichkeit der handelnden Beamt*innen ab. Andererseits stellt es verhängnisvolle polizeiliche Fehleinschätzungen fest und kommt zu dem Ergebnis, dass der Einsatz aus strafrechtlicher Sicht mindestens in Teilen rechtswidrig war."
Teilt die Initiative „Gerechtigkeit für Lorenz“ diese Interpretation von Gerechtigkeit? Schließlich ist der Tod von Mouhamed einer der wenigen, der überhaupt zu einem Prozess gegen die Beteiligten Beamt*innen geführt hat.
Der Solidaritätskreis Mouhamed und das Komitee für Grundrechte und Demokratie e.V. sieht es anders: https://justice4mouhamed.org/freisprueche-in-dortmund-keine-gerechtigkei...
Ähnlich sieht es beim Tod von Oury Jalloh am 7. Januar 2005 im Polizeirevier Dessau aus.
Obwohl zahlreiche Gutachten festgestellt haben, dass sich Oury Jalloh nicht selbst angezündet haben kann, sondern für das Feuer Brandbeschleuniger verwendet wurde, halten die höchsten deutschen Gerichte an der Selbstmordthese fest: https://initiativeouryjalloh.wordpress.com/ Inzwischen hält sogar der staatliche Sender ARD die Mordvariante durch Polizeibeamte für wahrscheinlicher.
Wenn wir all die Fälle der Oury Jallohs, Slieman Hamades und Dennis Js betrachten, ist unserer Meinung nach das einzige was einer Gerechtigkeit etwas näher kommt die Tatsache, dass sie nicht vergessen sind und dass sie immernoch eine Rolle für die Kämpfe von heute spielen. Noch näher kommen werden wir der Gerechtigkeit, wenn die Erinnerung an sie und alle wegen ihrer Hautfarbe, Herkunft oder Einstellung Getöteten den Widerstand und den Kampf gegen dieses System aufs nächste Level bringt. Wahre Gerechtigkeit wird erst dann erreicht sein, wenn niemand mehr von diesem System unterdrückt, gedemütigt, ausgegrenzt oder ermordet wird. Dies wird erst dann sein, wenn dieses System gefallen ist.
Daher laden wir alle Angehörigen, Freund*innen und Betroffenen dazu ein, Teil der Welt des Widerstands zu werden und nicht Teil einer staatlich-medialen Inszenierung. Gehen wir miteinander respektvoll um, auch wenn wir scheinbar gezwungen werden, uns von einander abzugrenzen.
