Pressemitteilung: Ein Jahr nach Hitzacker

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Ein Jahr nach dem Konzert vor dem Haus eines Staatsschützers in Hitzacker erweisen sich die Tatvorwürfe gegen die Musiker*innen als unhaltbar.

Die Aktivist*innen fordern eine öffentliche Entschuldigung des Innenministers.

 

 

An Pfingsten vor einem Jahr berichteten sämtliche Medien, von Fokus bis FAZ, wie vermummte Linksautonome angeblich das Haus eines Polizeibeamten erstürmt und seine Familie bedroht hätten. Bebildert waren diese Berichte mit Symbolbildern vermummter und Steine schmeißender „Chaoten“. Politiker wie der niedersächsische Innenminister Boris Pistorius und Horst Seehofer forderten harte Strafen für die Chaoten.

 

Viel Aufregung um ein Straßenkonzert

Bundesinnenminister Seehofer twitterte: „Wenn nun aber Polizeibeamte und ihre Familien zu Hause angegriffen werden ist eine neue Dimension von Gewalt erreicht. Menschen, die Gewalt gegen Polizisten und ihre Familien verüben, sind keine Aktivisten, sondern Straftäter.“

Was war geschehen? Etwa 50 Personen sangen drei Lieder vor dem Haus des Staatsschutzbeamten Hupp, der seit Jahrzehnten die Umweltaktivist*innen im Wendland durch aggressives Auftreten, Observationen und Hausbesuche einschüchterte. Die Musiker*innen wurden unmittelbar nach ihrem Konzert von einer behelmten und bewaffneten Polizeieinheit zu Boden geprügelt, teilweise mit Kabelbindern gefesselt und bis in die Morgenstunden in einem Polizeikessel festgehalten. Gegen alle Festgenommenen wurde u.a. wegen Landfriedensbruch, Hausfriedensbruch und Nötigung ermittelt – begleitet von einem medialen Echo, das auf ungeprüften und überzeichneten Polizeimeldungen beruhte und das Konzert zu einem Schreckensszenario stilisierte.

Die zur Unrecht beschuldigte Sabine F. meint dazu: „Statt polizeiliche Pressemitteilungen kritisch zu hinterfragen, machen sich die Medien zu Handlangern einer Polizei, die das Grundgesetz mit Füßen tritt.“

 

Einstellung der Verfahren durch die Staatsanswaltschaft

Ein Jahr nach den Ereignissen ist aus den Akten der Staatsanwaltschaft zu entnehmen, dass sämtliche Vorwürfe gegen die Aktivist*innen haltlos sind. So stellte die Staatsanwaltschaft fest, dass „der Tatbestand des Hausfriedensbruches nicht durchgreift, weil das Grundstück der Familie Hupp frei zugänglich war“.

Weiter heißt es im Bericht der Staatsanwaltschaft „Die lauten Tackerschläge (33 Tackernadeln) beim Anbringen der Wimpel an den Carport stellen letztlich keine Gewalttätigkeit gegen Sachen oder eine Bedrohung von Menschen mit einer Gewalttätigkeit im Sinne des § 125 Abs. 1 StGB (Landfriedensbruch) dar.“

Zum Vorwurf der Nötigung heißt es: „Ein hinreichender Tatverdacht für eine versuchte Nötigung lässt sich ebenfalls nicht begründen, weil nicht auszuschließen ist, dass es sich bei der Aktion „lediglich“ um eine Protestaktion beziehungsweise „Retourkutsche“ gegen eine unter Mitwirkung von PHK Hupp ausgebrachte polizeiliche Maßnahme, nämlich die Beschlagnahme eines YPJ/YPG-Banners in Meuchefitz am 20.02.2018 handelte. Hierfür spricht, so die Staatsanwaltschaft „insbesondere das Anbringen von YPG/YPJ-Wimpeln am Carport/im Vorgarten PHK Hupps und die Parole „Hupp, Hupp, Hurra!“. Abschließend heißt es, dass „der geschädigte Polizeibeamte Hupp oder seine Familie durch die Aktion jedoch nicht zu einem bestimmten Tun, Dulden oder Unterlassen genötigt werden sollten.“

Nach dieser Einschätzung der Staatsanwaltschaft ist für Sabine und anderen Aktivist*innen klar, „wir fordern eine öffentliche Entschuldigung des Innenministers. Erst hat uns die Polizei verprügelt und dann wurden wir auch noch von Politikern und Medien verleumdet.“

 

Zur Vorgeschichte

Schon bei der von der Staatsanwaltschaft erwähnten Polizeimaßnahme wurde versucht die linke Szene im Landkreis zu kriminalisieren. Im Februar 2018 wurde ein Banner, dass am Gasthof in Meuchefitz angebracht war („Afrin halte durch!“ zur Zeit der türkischen Angriffe auf kurdische Siedlungsgebiete) von einer teilweise mit Maschinengewehren bewaffneten Hundertschaft beschlagnahmt. Dabei wurde ein 129a-Verfahren gegen eine im Gasthof gemeldete Person eingeleitet. Mit Hilfe dieses Paragraphens erhält die Polizei besonders weitreichende Befugnisse für die Verletzung der Privatsphäre der betroffenen Person und deren Umfeld. Auch dieses Verfahren wurde bereits vor längerer Zeit eingestellt.

 

Schluss mit Polizeigewalt

Im Kontrast zu diesen Sachverhalten fährt die Polizei in diesem Jahr zur kulturellen Landpartie überzogen repressive Maßnahmen auf. So bewegen sich ständig zahlreiche Polizeikonvois durch den Landkreis und kontrollieren scheinbar willkürlich Personen und Fahrzeuge. Insbesondere rund um den Gasthof Meuchefitz ist die Polizeipräsenz besonders hoch. Auch hier berichtet die lokale Elbe-Jeetzel-Zeitung von den schrecklichen Gewalttaten, die in den letzten Jahren vorgefallen sein sollen, und legitimiert damit einmal mehr ein vollkommen unangemessenes und absurdes Polizeiaufgebot. All dies passiert, ohne dass es auch nur den Anschein eines Verdachts gibt.

Die Lächerlichkeit des polizeilichen Vorgehens zeigt sich aktuell, wie auch in der Akte der Staatanwaltschaft, aus der es in nächster Zeit weitere pikante Veröffentlichungen geben wird.

Für Sabine wirft das repressive Vorgehen eine grundsätzlich Frage auf: „Welche Demokratie wollen sie eigentlich schützen, wenn unliebsame politische Meinungsäußerungen einfach mit stumpfer Polizeigewalt unterdrückt werden?“

 

 

Pressespiegel: http://rak-treffen.de/2018/05/22/pressespiegel-zur-musikalischen-kundgebung-am-18-5-2018/

 

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Ergänzungen

lieber drei tage in nem kessel als einen in ner uniform!
https://vimeo.com/273364775

Hitzacker. Pfingsten 2018 rückte das beschauliche Elbestädtchen Hitzacker in den Fokus bundesweiter Schlagzeilen. Linke Demonstranten hatten vor dem Privathaus eines Kriminalbeamten protestiert und Lieder gesungen. Der Privatbesuch bei einem Beamten ließ einige Medien, Polizei, vor allem aber auch Politiker wie Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU), von einer "neuen Dimension der Gewalt" sprechen, obwohl die Ermittlungslage lange Zeit sehr unübersichtlich war. Monatelang hat die Staatsanwaltschaft Lüneburg ermittelt: in Richtung Landfriedensbruch, Sachbeschädigung, Hausfriedensbruch, Verstoß gegen das Versammlungsgesetz und wegen versuchter Nötigung. Stand jetzt ist klar: Von den Vorwürfen bleibt nichts übrig. Sagt jedenfalls die Staatsanwaltschaft Lüneburg, die alle Verfahren gegen die Beschuldigten eingestellt hat - mangels Tatverdacht oder wegen Geringfügigkeit. Allerdings habe der Anzeigenerstatter gegen diesen Beschluss Beschwerde eingelegt, teilt Staatsanwältin Wiebke Bethke mit. Das Gesamtverfahren ist also offiziell noch nicht abgeschlossen. Die 64 Beschuldigten sind deswegen auch noch nicht offiziell darüber informiert. An der Klarheit, mit der die Staatsanwaltschaft die Vorwürfe zerhäkselt, ändert dies jedoch erst einmal nichts.

Happening oder "Grenzüberschreitung"?

Es war der 18. Mai 2018, Kulturelle Landpartie (KLP) im Wendland. Über 60 zum Teil vermummte Personen nutzten diesen Rahmen für eine ganz besondere Land-/Stadtpartie und statteten dem Privathaus eines hiesigen Kripo-Beamten einen Besuch ab. Die linken Demonstranten sahen sich durch "aggressives Auftreten, Observationen und Hausbesuche" besonders von diesem Beamten seit Jahren eingeschüchtert und wollten sich mit der Aktion offenbar revanchieren. Die Protestgruppe sang Lieder, skandierte Parolen und irgendwer tackerte Wimpel an das Holz des Carports. Die Demonstranten stellten ihre Aktion als "Happening" dar. Zu Hause waren damals die Ehefrau des Polizisten und die Kinder. Die Polizei nahm daraufhin rund 60 Personen aus der Protestgruppe fest. Deren Teilnehmer beschweren sich noch heute über das rüde Vorgehen der Beamten. Niedersachsens Innenminister Boris Pistorius (SPD) sprach dagegen von einer "unfassbaren Grenzüberschreitung" der Protestierenden.

Kein "friedensstörender, gewaltbereiter Wille"

Die Staatsanwaltschaft stellt nunmehr fest: Die Anfangsverdächtigungen haben sich "nicht zu einem hinreichenden Tatverdacht verdichtet". Die Ermittler stellen in einer internen Verfügung, die der EJZ vorliegt, fest,

- dass die lauten Tackerschläge beim Anbringen der Wimpel an dem Carport keine Gewalttätigkeit gegen Sachen oder eine Bedrohung von Menschen darstellten.

- dass sich gar nicht feststellen ließ, wer aus der Gruppe heraus das Grundstück betreten und die Wimpel an das Carport getackert habe.

- dass es fraglich sei, ob die "Substanzverletzung" am Carport überhaupt die Erheblichkeitsgrenze für eine Sachbeschädigung überschritten habe.

- dass eine "Zusammenrottung" der Beschuldigten am ehemaligen Erkundungsbergwerk in Gorleben nicht "hinreichend sicher" festzustellen sei.

- dass die Zusammenkunft friedlich verlief, "sodass es an einem nach außen erkennbar friedensstörenden, also gewaltbereiten Willen" gefehlt habe.

- dass sich "ein hinreichender Tatverdacht für eine versuchte Nötigung" ebenfalls nicht begründen lasse, weil es nicht auszuschließen sei, dass es sich bei der Aktion "lediglich" um eine Protestaktion gegen eine unter Mitwirkung des Beamten ausgebrachte polizeiliche Maßnahme gehandelt habe.

- dass der Tatbestand des Hausfriedensbruches nicht greife, weil das Grundstück frei zugänglich war.

- dass die "vom Auftreten der Gruppe augenscheinlich ausgehende einschüchternde Wirkung (...) noch keine tatbestandmäßige Körperverletzung" darstelle.

Entschuldigung von Seehofer gefordert

Die Demonstranten vom 18. Mai 2018 fordern nach den Ermittlungen eine Entschuldigung von Innenminister Seehofer, was die Äußerung einer angeblich "neuen Dimension der Gewalt" angehe. Gleichzeitig beschwert sich die linke Szene über das "vollkommen unangemessene und absurde Polizeiaufgebot" während der jüngsten KLP: "Ständig bewegten sich zahlreiche Polizeikonvois durch den Landkreis und kontrollierten scheinbar willkürlich Personen und Fahrzeuge. Insbesondere rund um den Gasthof Meuchefitz war die Polizeipräsenz besonders hoch."

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