Sechs Monate Rebellion in Frankreich

Die "Gelbwesten"-Chronik - 38 Berichte von Bernard Schmid

Editorial zur "Gelbwesten-Chronik"

  • Schlaglichter auf eine „untypische” Protestbewegung und zu den unterschiedlichen Darstellungen aus der deutschsprachigen Linken und darüber hinaus

Viel, ziemlich viel ist in den ersten Wochen in deutscher Spache und aus linker Sicht zu diesem (in seiner Erscheiunungsform und seiner Dynamik neuartigen) Phänomen geschrieben wurden. Es geht um die Protestbewegung der „gelben Westen“ in Frankreich, ihrem Ausgangsland, auch wenn das Symbol seitdem international vielfach Nachahmung gefunden hat.

Viel veröffentlicht wurde dazu im deutschsprachigen Raum im November und in der ersten Dezemberhälfte 2018; damals musste sich quasi Alles, was irgendwo links dazu war, sich in irgendeiner Weise dazu äußern (Vgl. u.a. die Vielzahl und Vielfalt von Stellungnahmen an dieser Stelle: http://trend.infopartisan.net/trd1218/inhalt.html )

Doch seitdem ist die Karawane anscheinend weitergezogen. Es gibt seit dem Jahresechsel 2018/19 kaum noch linke deutschsprachige Stellungnahmen dazu einzuholen. Aber on the ground (oder sur le terrain, wie man auf Französisch formulieren würde) ging die Sache weitgehend ungebrochen weiter. Dies deutet im Übrigen bereits auf den „untypischen“, mit keinerlei bisherigen gesellschaftlichen Bewegungen der letzten Jahrzehnte (in Frankreich) zu vergleichenden Charakter dieses Phänomens hin. Seit fünfeinhalb Monaten dauert bei Abschluss dieses Einführungsartikels der aktive Protest dieser Bewegung an: vom 17. November 2018 bis Anfang Mai 2019. Ein Schlusspunkt, ein allgemein als solches wahrgenommenes Ende dieses Phänomens ist zu dem Zeitpunkt nicht in Sicht. Auch die innenpolitische Krise, die daraus erwachsende Vertrauens- und Glaubwürdigkeitskrise für Emmanuel Macron und seine Regierung brechen nicht ab. Am 25. April 2019 verkündete Staatspräsident Macron, zum zweiten Mal (nach dem 10. Dezember 18), im französischen Fernsehen einige Maßnahmen, einige Zugeständnisse an die Protestierenden, und zum zweiten Male wurden diese als Antwort auf den Unmut der „Gelben Westen“ verkauft. Doch die Ankündigungen und ihre Wirkung sind in der öffentlichen Meinung weitgehend verpufft. Kaum jemand würde sich hinstellen und als „mit ihnen zufrieden“ bezeichnen.

Diese Protestbewegung weist weitere „untypische“, bislang in dieser Form nicht dagewesene Erscheinungsmerkmale auf. Da ist ihr heterogener, ihr ausgesprochen ausgeprägter Patchwork-Charakter auf politisch-ideologischem Gebiet; ihm entspricht auch eine uneinheitliche Klassenzusammensetzung. (Vergröbert und im Überblick könnte man sagen, man trifft auf eine Komponenten aus den am stärksten verarmten sozialen Unterklassen – die Verzweifelten -, auf eine Komponente aus bestimmten Lohnabhängigengruppen mit einem Schwerpunkt bei dem auch anderweitig mobilisierten Gesundheitspersonal: die kämpferischen Belegschaften oder Belegschaftsteile – allerdings nur in geringfügigem Ausmaß aus der Privatindustrie -, auf eine Komponente von Lohnabhängigen aus Klein- und Kleinstbetrieben ohne Aussicht auf gewerkschaftliche Organisierung innerhalb ihrer Arbeitsverhältnisse, sowie auf eine Komponten von Kleinunternehmern, Selbständigen und abstiegsbedrohten oder sich vom Abstieg bedroht wähnenden Mittelklassenangehörigen: die rasenden Kleinbürger.)

Jedenfalls in der Vergangenheit konnte man bei sozialen Protestbewegungen in Frankreich aussagen, ob bzw. dass entweder eine linke und gewerkschaftliche Beteiligung an ihnen zu beobachten war, vom Mai 1968 über die Sozialprotestbewegungen in den öffentlichen Diensten 1995 und gegen den Angriff auf den Kündigungsschutz im Winter/Frühjahr 2006 bis zum Protest gegen die Arbeitsrechts-„Reform“ im Frühjahr und Frühsommer 2016, oder eine politisch rechte Komponente: vom Kampf zur Verteidigung der überwiegend katholischen Privatschulen im Frühjahr 1984 zur Massenbewegung gegen die Öffnung der Ehe für homosexuelle Paare 2012/13/14. Hingegen lässt sich bei der „Gelbwesten“-Protestbewegung lässt sich eine solche Bestimmung nicht vornehmen, denn man findet tatsächlich beides in ihr, und noch andere, zusätzliche ideologische Komponente: organisierte und unorganisierte Linke, organisierte und unorganisierte Rechte, daneben Totalverstrahlte und Verschwörungsgläubige, daneben sich für „bislang unpolitisch“ haltende Ehrlichempörte.

Sicherlich hat zum Teil eine Entmischung stattgefunden; rechte Aktivbürger und Wutsubjekte, die in den Anfangswochen im Herbst 2018 etwa (im Namen von „wir, das Volk“) diese Protestbewegung als ihre Verbündete betrachteten, pöbeln nunmehr mitunter in der Nachbarschaft von Demonstrationen herum – wie etwa vom Verfasser am diesjährigen 1. Mai auf der Höhe der Nahverkehrsstation Port-Royal und in der Nähe einer Festnahmeszene beobachtet -, weil ihnen der Protest nunmehr zu lang andauernd und zu unübersichtlich ist.

Untypisch für soziale Protestbewegungen mit breitem Rückhalt (denn einen solchen hat es in den Umfragen lange Monate hindurch gegeben, von eher 70 Prozent Zustimmung im November /Dezember 2018 zu eher 50 Prozent Zustimmung im Januar/Februar 2019, derzeit ist der Wert eher relativ unbekannt) ist auch der faktische Avantgarde-Charakter dieser Protestbewegung. Dies ist nicht im Sinne einer politisch-ideologisch klar bewussten, strukturierten, gar ideologisch vereinheitlichen Avantgarde(organisation) gemeint, was ganz gewiss nicht zutreffen würde. Aber es trifft in dem Sinne zu, dass ein stark gehärterer und entschlossener „harter Kern“ aus mehreren Zehntausenden Personen die Proteste trägt; bestehend aus Menschen, die bereit sind, über Monate hinaus mehr oder minder viel von ihrer Zeit für eine ihnen auf den Nägeln brennende „Sache“ zu verwenden. Die Teilnehmer/innen/zahlen betrugen an den ersten Samstagen der Protestbewegung im November/ Dezember 2018 kurzzeitig bis zu rund 300.000 wöchentlich (vielleicht auch punktuell eine halbe Million), im März und April 2019 dagegen lag sie in aller Regel bei 30.000 bis höchstens 50.000. Das ist für einen Marathonprotest, dem „nicht die Puste ausgeht“ und der die öffentliche Meinung beschäftigt, viel; in absoluten Zahlen gemessen ist es nicht dermaßen viel. Die quantitative Protestmobilisierung auf den Straßen war bei Sozialprotestbewegungen wie jener vom Februar/März/April 2006 gegen die Attacke auf den Kündigungsschutz in Gestalt des CPE oder „Ersteinstellungsvertrags“ (es handelt sich um die bisher letzte Bewegung in Frankreich, die einer Regierung eine Totalniederlage bei ihrem Protestthema beibringen konnte) um einen Faktor Zehn bis Hundert so groß. Vom Mai 1968, mit zeitweilig bis zu acht Millionen Streikenden Lohnabhängigen, gar nicht erst zu reden…

Deswegen ist es i.Ü. auch absolut grotesker Unfug, wenn man beispielsweise in schriftlichen Quellen aus dem Tal der Ahnungslosen lesen kann, es handele sich beim „Gelbwesten“-Protest um, Zitat, „The largest uprising in France since 1968″. Vgl. dazu: https://communemag.com/the-counter-insurrection-is-failing/ - Sorry, aber nein: Setzen, Sechs, Thema verfehlt! Bitte erst um die Realität kümmern und erst danach dummes Zeug behaupten!)

Viel ist auf diese Bewegung, deren Analyse betreffend Ursachen und (kurz-, v.a. jedoch mittel- und längerfristige) Auswirkungen noch aussteht, projiziert worden. Linke wollten in ihre eine linke Protestbewegung erkennen, weil sie „ihre“ oder ihnen liebe Symbole oder Personen in ihr wiederfanden, Rechten wollte eine rechte Bewegung in ihr erkennen und Totalverstrahlte eine verschwörungsideologische Protestbewegung. Doch sie war entweder nichts davon, oder Alles davon auf einmal. Der Verfasser behauptet damit nicht, dass dies die Analyse einfacher mache.

Einige der erwähnten Beiträge zur Protestbewegung, die von entsprechenden Projektionen geprägt waren, zeichneten sich durch ein ausgesprochenes Wunschdenken aus. Nehmen wir in pars pro toto (als Teil für das Ganze stellvertretend) nur folgenden Beitrag: http://trend.infopartisan.net/trd1218/t121218.html ; Auszug als Zitat:  All diese Behauptungen sind Lügen. Tatsächlich war es die Polizei, die von Anfang an auf ‘Krawall gebürstet’ war und die ‘Sprache der Gewalt’ benutzte. (…)„Das entspricht der Linie der französischen Gewerkschaften und Pseudolinken, die ebenfalls argumentieren, die Proteste würden die extreme Rechte stärken. In Wirklichkeit sind Figuren wie Sarkozy in der Bevölkerung verhasst, und die extreme Rechte denunziert die ‘Gelben Westen’…“ Sorry, aber Unfug: Die extremen Rechte ist in Teilen (in Teilen!) dieser derzeitigen Bewegung ziemlich massiv verankert, ob man es nun wahrhaben möchte oder nicht – man sollte zumindest das Problem erkennen, bevor man darüber diskutiert, welche Strategie man ihr vielleicht entgegensetzt -; und, doch, Gruppen aus dieser Protestbewegung gingen in sehr massiver Weise gewaltförmig vor, jedenfalls im Sinne von „Gewalt-gegen-Sachen“ (sowie v.a. am Anfang auch in Auseinandersetzungen mit der Polizei, mittlerweile ist tatsächlich hauptsächlich die Polizei gewalttätig). Auch hier lautet die eigentliche Frage, wie man dies nun bewertet.

Andere Stimmen zeichnen sich eher durch Skepsis aus, doch auch dort ist nicht alles richtig und zutreffend, was aufgeschrieben wird. Auch hier nehmen wir stellvertretend eine Stimme heraus (deren Äußerungen immerhin anerkennenswerter durch das Bemühen geprägt sind, die Realität mitsam unschönen Aspekten als solche wahrzunehmen!); vgl. : http://trend.infopartisan.net/trd1218/t371218.html - Hier liest man zu den Inhalten: „(FORDERUNG:) Keine Personen mehr ohne festen Wohnsitz. (ANTWORT / ANALYSE:) Der leider allgegenwärtige Rassismus gegen Sinti und Roma. Bettler, Obdachlose und ‘illegale’ Migranten sollen auch vertrieben werden, vermutlich interniert und als ‘Problem’ beseitigt werden.“ Sorry, aber auch dies ist grundfalsch. Wörtlich übersetzt bedeutet Sans domicile fixe (SDF) – als administrative Bezeichnung jener Personengruppe, um die es an dieser Stelle in einem Forderungskatalog im Namen der „Gelbwesten“ ging – so viel wie „Ohne festen Wohnsitz“. Inhaltlich bedeutet der Begriff nicht anderes als Obdachlose, Menschen ohne Wohnungen. Und intendiert, gemeint war mit der oben zitierten Forderung der „Gelbwesten“ nichts Anderes als dies: „Keine Obdachlosigkeit mehr, Wohnraum für Alle!“ – und nicht etwa „KZ für Roma“. Möglicherweise liegt die Fehlerquelle hier in der Übersetzung, doch es macht an dieser Stelle dann doch einen Unterschied ums Ganze…

Erwartungsgemäß sieht man auch auf sonstiger Seite gerne das, was man sehen würde; etwa spricht bei nach rechts (ja bis rechtsaußen) driftenden Gestalten aus der Ex-Linken der dringliche Wunsch, sich dergestalt bestätigt zu finden, dass man lobend erwähnen kann, hier sei sozialer Protest endlich nicht mehr links besetzt.

Beispielsweise bei den nach weit rechts abdriftenden Märchenonkeln von der Bahamas (nein, nicht der Inselgruppe mit Anziehungskraft für Steuerflüchtlinge; gemeint ist das Witzblättchen für „Antideutsche“, die nun nicht mehr so heißen mögen, sondern sich mittlerweile „Ideologiekritiker“ schimpfen, jedoch real große selbstreferenzielle Ideologieproduzenten im Hadern mit der Wirklichkeit darstellen; vgl. http://redaktion-bahamas.org/img/cover/800w1/81.jpg ). Dort ist man im Kern hauptsächlich froh darüber, es mal mit einer sozialen Bewegung zu tun zu haben, die – so wird behauptet – nicht sträflich links sei, von ein paar bösen Eindringlingen abgesehen. Natürlich wird, sonst wäre die Bahamas nicht die Bahamas, mehrfach mit dem Antisemitismus-Begriff um sich geworfen (anders wäre es ja langweilig). Es folgt die nur noch lächerlich zu nennende Absurdität, es seien die Linken, die Antisemitismus in diese – wie oben erwähnt, heterogene – Bewegung hinein trügen: Demnach (Zitat im Originalton) „geriet in der Phase des antifaschistischen und antirassistischen Einmarsches progressiver Kräfte, die der zerfallenden Bewegung ihre linke Hegemonialpolitik aufdrückten, jedenfalls medial ins Zentrum des Gelbwestenprotests: skrupelloser, gewaltbereiter Antisemitismus.“ (Seite 21 der aktuellen Ausgabe Nummer 81, linke und mittlere Spalte; vgl. http://redaktion-bahamas.org/heft/index.html#Nr81 )

Um dann doch noch Positives aus seiner Weltsicht zu entdecken, behauptet Sektenhäuptling Justus Wertmüller jedoch auch, der Linkssozialdemokrat Jean-Luc Mélenchon (natürlich auch er - wie soll es anders sein - ihm zufolge Antisemit oder jedenfalls in seinen Worten „selbstredend antizionistischer Marktschreier“, auch dies eine groteske Zuschreibung) sei zwar ein unguter Zeitgenosse, habe jedoch wenigstens Eines richtig erkannt. Wertmüller hebt unter Mélenchons Sätzen diesen einen positiv hervor: „Sie mahnen die Rückkehr zum Alltag an, die Rückkehr zur Normalität.“ (Seite 19 der oben zitierten Publikation, rechte Spalte) Wertmüller bekommt sich an diesem einen Punkt kaum mehr ein vor Begeisterung: „Mit einem Halbsatz hat Mélenchon seine Rolle als gelittener Jammeronkel der Modernisierungsverlierer aufgegeben, als er gar nicht revolutionär, sondern scheinbar altbacken und retrospektivdie Rückkehr zum Alltag und damit zur Normalität anmahnte. Diese Aufblitzen von Wahrheit ist nicht auf seinem Mistbeet gewachsen, sondern ihm von Leuten zugeflogen, an deren Spitze er stehen will (…).“ (Ebenda ) Den Satz fand J.W. im Übrigen derart schön, dass er auch gleich noch eine Artikelüberschrift daraus bastalte: „Für die Rückkehr zur Normalität“ (vgl. Seite 17).

Unglücklicherweise (für ihn) hat Wertmüller jedoch an dieser Stelle Jean-Luc Mélenchon einen Satz in den Mund gelegt – und einen ganzen mehrseitigen Artikel um ihn herum konstruiert -, den er zu 100 % falsch interpretiert. Gemeint hatte der Linkssozialdemokrat und Linkspatriot Mélenchon nämlich just das Gegenteil. Sein Satz bedeutete genau so viel wie: Die Regierung und die Medien mahnen uns jetzt beständig dazu, „zur Normalität zurückzukehren“, also mit dem Protestieren aufzuhören. Dies werden wir jedoch nicht tun. Denn, so fährt er im nächsten Satz fort: „Aber es ist das Normale und das Alltägliche, das im Leben dieser Menschen unerträglich ist“, gemeint ist damit das bestehende soziale und ökonomische System.

Als emanzipativ ausgerichteter Linke wird man nun nicht auf einen Jean-Luc Mélenchon vertrauen. Doch besser als solch ein Bahamas-Schreiberling versteht er die Welt, und auch die Protestbewegung, allemal.

B. Schmid - Paris im Mai 2019

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