Repression und Staatsapparat – Überlegungen zu einem weiteren ‚linken Dilemma‘

Die Linke ist im Moment von Repression (arg) betroffen, und das Thema ist auch – wenn auch nicht in unter dieser Bezeichnung – auch in den Medien omnipräsent. Es begann 2017 mit dem Verbot von linksunten in Folge der heftigen Proteste gegen G201.

1 [1] Ich kann mich nicht mehr genau an den Ablauf der Proteste erinnern. Die Reaktion auf die Zerschlagung der autonomen Auftakt-Demo war jedenfalls relativ deutlich – wenn auch vielleicht nur deshalb, weil die schwächelnde deutsche autonome Szene nicht alleine war, sondern Autonome / militante AnarchistInnen aus anderen Ländern da waren und sich vielleicht auch ein paar Jugendliche aus marginalisierten Hamburger Stadtteilen anschlossen.

Repression und Staatsapparat – Überlegungen zu einem weiteren ‚linken Dilemma‘

 

Ein Text von systemcrash und 8 ½ angehängte, unfertige Thesen von TaP

 

 

Die Linke ist im Moment von Repression (arg) betroffen, und das Thema ist auch – wenn auch nicht in unter dieser Bezeichnung – auch in den Medien omnipräsent. Es begann 2017 mit dem Verbot von linksunten in Folge der heftigen Proteste gegen G201.

 

Obwohl die Linke (als Gesamtkonstrukt) seit Ende der 80er Jahre sich in einer stetigen Ab­wärtsspirale befand, waren die Proteste gegen G20 doch bemerkenswert kraftvoll (und das sicherlich nicht nur wegen der medialen Aufmerksamkeit für Ausschreitungen). Sicher­lich hatten die Kräfte der autonomen und anarchistischen Gruppen und Zusammenhänge einen starken Anteil an militanten Protestformen (es ist nicht ganz korrekt, Militanz mit ge­waltförmig gleichzusetzen. Aber leider gibt die deutsche Sprache in diesem Punkt nicht mehr Differenzierung her). Linksunten als süddeutscher Ableger der globalisierungs-kriti­schen indymedia-Gruppen galt seinerzeit als das Sprachrohr des militanten Autonomis­mus; obgleich das politische Spektrum von linksunten insgesamt viel pluraler war. Nichts­destotrotz trotz schien es dem damaligen Bundesminister des Inneren (BMI) politisch ge­boten, linksunten zu verbieten. Das juristische Problem, dass es sich bei linksunten um ein Medium handelte, meinte der Staat elegant umschiffen zu können, in dem er auf das Ver­einsrecht zurückgriff. Die repressive Brisanz, die im Vereinsgesetz begründet liegt, haben 2017 nur sehr wenige im vollem Umfang erkannt.

 

Bislang ist das BMI mit diesem ‚Coup‘ politisch durchgekommen. Was dies über den Zu­stand der linken Bewegungen in Deutschland aussagt, darüber werden wir noch zu spre­chen haben.

 

In letzter Zeit ist im Nachklang des linksunten-Verbotes noch der Fall eines Redakteurs des freien Senders Radio Dreiyeckland bekanntgeworden (der das Archiv von linksunten in einen Artikel verlinkt hatte)2, die staatsanwaltliche und amtsrichterliche verdächtigung der „Letzten Generation“ als „kriminelle Vereinigung“3 und das Urteil gegen Lina E. im Leipziger Antifa-Ost-Prozess.

 

Ich vertrete zwar nicht die These der Zeitschrift ‚perspektive‘:

„Was die GFF4 als ‚wegweisend‘ bezeichnet, ist meiner Einschätzung nach nur das ausnahmsweise günstige Urteil in einem Fall, der nur Teil einer sehr viel größeren Zu­nahme staatlicher Repressionen gegen unliebsame Meinungen ist.“ (https://perspektive-online.net/2023/05/gerichts-urteil-nach-hausdurchsuchungen-gegen-journalistinnen-radio-dreyeckland-durfte-auf-verbotene-website-verlinken/)

 

Die These von der zunehmenden Repression scheint mir eher ein Relikt einer Kombination von Akzeleration (~‚revolutionäre‘ Beschleunigung) und Verelendungstheorie zu sein; nur das sich die Verelendung nicht ökonomisch, sondern politisch/staatstheoretisch niederschlagen soll.

 

Ich vertrete hingegen die These:

 

Die Balance von Konsens und Gewalt ist aber weiterhin zugunsten des Konsenses. Es ist aber ein Mythos, zu glauben, es gäbe einen ‚Idealzustand‘ der (bürgerlichen) Demo­kratie.5 Die (staatliche) Gewalt der gesellschaftlichen Verhältnisse ist genauso immer inhä­rent, wie der (eher temporäre) Konsens, der auch schnell wieder brüchig werden kann. Die Gesellschaft als Ganzes ist immer ein dauerndes Fliessgleichgewicht unter­schiedlicher Kräfteverteilungen. Jeder Geländegewinn und jeder Geländeverlust ist im­mer Ausdruck politischer Kämpfe (Kämpfe auf allen Ebenen und auf allen Gebieten).

 

Es stellt sich allerdings schon die Frage, ob es einen „politischen Linienkampf im Staatsap­parat“ gibt (vgl. das FSK-Gespräch: https://www.freie-radios.net/122165, Minute 19:55). Ich würde zwar in der gegenwärtigen Situation nicht so weit gehen, diese Frage zu bejahen, aber zumindest Teile des Staatsap­parates scheinen austesten zu wollen, wie weit die Repression gegen unliebsame Mei­nungen Früchte tragen kann, um die „wehrhafte Demokratie“ in eine „formierte Gesell­schaft“ zu verwandeln.

es ist die (sich von Zweifeln indes nie ganz frei machende) Gewißheit der Stabilität dieses Status quo, die sich ihrer selbst zu versichern sucht, wenn dessen Differenz zur krisenhaften Situation von Weimar beschworen wird. Mit dem selbstverständlichen Ver­trauen, das in früheren bürgerlichen Staats- und Rechtsvorstellungen noch in die Stabi­lität und den Zusammenhalt, in die ‚spontan‘ wirkenden Selbsterhaltungskräfte der bürgerlichen Gesellschaft gesetzt war, hat diese Gewißheit jedoch nichts mehr gemein. Sie ist fixiert auf die Aktivität der staatlichen Instanzen, von der sie, über das bisher in den parlamentarischen Demokratien gekannte Maß hinaus, die Vereinheitlichung, Sta­bilisierung und Formierung des Politischen erwartet. […] Die ‚freiheitliche demokrati­sche Grundordnung‘ legitimiert ihre Repressionen nicht an den Besonderheiten be­stimmter Situationen und Zustände, sondern auf einer allgemeinen ideologischen Ebene.“

(http://die-deutschen.blogspot.com/2007/09/von-weimar-nach-bonnberlin-vom.html)

 

Diese politischen Bestrebungen können allerdings nicht damit erklärt werden, dass die ‚Linken‘ in Deutschland so ‚gefährlich‘ wären. (Dies im ganz klaren Unterschied zu den RAF- und Stadtguerilla-Zeiten in den 70er Jahren). Die genaue Interessenlage ist schwer einzuschätzen; aber mein Eindruck ist, dass alles, was nicht in das reibungslose Funktio­nieren des neoliberalen, kapitalistischen Normalvollzugs hineinpasst, möglichst unbeacht­lich gehalten werden soll, um so wenig wie möglich, ökonomische und politische Rei­bungsverluste zu erzeugen (was gesellschaftspolitische Liberalisierungen in anderen Be­reich weiterhin nicht ausschließt, solange sie im Rahmen von lobbyistischer NGO-Politik und marktförmiger Integration verbleiben).

Bei den ‚autonomen‘ Gruppen dürfte dieser Zug allerdings abgefahren sein; die haben ihren Zenit schon länger überschritten. Aber die Klimabewegung hat eine gewissen Rück­halt auch in breiteren Bevölkerungsteilen, und wenn sich da ‚militantere‘ Protestformen etablieren, dann könnte das für das Staatsfunktionieren Probleme verursachen. Um diese Gefahr möglichst klein zu halten, wird das Geschütz des politischen Strafrechts ausgetes­tet. Mir behagt der Begriff „präventive Konterrevolution“ nicht, da es keine ‚revolutionäre Gefahr‘ gibt, aber als Analogiebildung ist das schon in Ordnung – mit diesem Vorbehalt stimme ich folgender These zu:

„Freilich ist bei weitem nicht alles an staatlicher Repression Reaktion auf (bereits er­reichte) linke Stärke, sondern auch manches Produkt von Hysterie und vieles Produk­tion kluger Weitsicht („präventive Konterrevolution“).“ (Thesen zu 70 Jahre Grundgesetz; siehe Anhang)

Im Fall Lina E. kann ich diese grösseren taktischen und strategischen Zusammenhänge eher nicht oder weniger erkennen. Auch wenn es sich um Antifaschisten handelt, ist das Verprügeln von Nazis nicht unbedingt der Weg der Wahl, um das Anliegen des Antifaschis­mus populär zu machen (was nicht heisst, dass militante Aktionen in jeder Situation immer falsch sein müssen). Das da (bürgerliche) Gerichte Urteile fällen, die die politischen Motive ausser acht lassen (oder sogar das Strafmass erhöhen) ist doch völlig klar. Es ist doch leicht, zu sagen, Gewalt sei doch immer scheisse, egal ob von links oder rechts (und Na­zis sind natürlich auch Menschen). Und schon hat man die ‚Totalitarismustheorie‘ in popu­larisierter Form verbreitet. Billiger kann der Staat doch seine Propaganda gar nicht bekom­men.

„Ja, der Kampf gegen den Faschismus ist wichtig, aber ebenso wichtig ist es, durch die Wahl der Mittel in diesem Kampf nicht ebenso zu werden, wie es die Neonazis sind und Menschen bewusst zu verletzen. Die einen tun das, weil ihre ‚Feinde‘ schwarz sind, die anderen, weil sie Neonazis sind. Nun kann man sich im Gegensatz zu Schwarzen zwar aussuchen, ob man Neonazi sein will, aber auch ein Neonazi ist ein Mensch, dem man nur dann mit Gewalt entgegentreten darf, wenn er selbst angegrif­fen hat und nicht nur, weil er Neonazi ist.“

(https://diekolumnisten.de/2023/06/03/lina-e-das-urteil-und-der-tag-x)6

 

Die Totalitarismustheorie kann man historisch nur aus dem Ost-West-Konflikt zu Beginn der 50er Jahre erklären (‚Kalter Krieg‘). Zwar hat das Grundgesetz versucht, die Lehren aus Weimar und dem Nationalsozialismus zu ziehen. Diese Lehren krankten aber an zwei­erlei:

  • Einer unzutreffend Analyse des Weimarer Scheiterns (‚von den Extremen zerrieben, da zu demokratisch / pluralistisch‘; statt: das unentschlossene Vorgehen der No­vember-Revolution gegen den überkommenen monarchischen Staatsapparat zu verstehen und zu kritisieren; Rechtsentwicklung dieses Staatsapparates und Schlüssel-Stellung des Reichspräsidenten mit seinen Notstandskompetenzen in dieser Rechtsentwicklungen)

  • Überlagerung dieses – eh unanalytischen – Antifaschismus durch den Antikommu­nismus (in Reaktion auf die Entwicklung in Osteuropa und der sowjetischen Besat­zungszone), der es aufgrund der stalinistisch-bürokratischen Deformationen im Ost-Block natürlich leicht hatte, ideologische Propaganda-Pluspunkte zu gewinnen. Die ‚freiheitliche Demokratie‘ wurde sowohl gegen Faschismus als auch ‚Kommunis­mus‘ (sprich: Stalinismus) gleichermassen (äquidistant) abgegrenzt. Hinzuzufügen ist, dass ‚freiheitliche Demokratie‘ nicht im Sinne von ‚liberaler Demokratie‘ (im eng­lisch, französisch, us-amerikanischen Sinne) zu übersetzen ist7, sondern die ‚wehr­hafte Demokratie‘ meint, die jederzeit die Gefahr in sich trägt, in autoritäre Versu­chungen zu Macht- und Herrschaftsicherungen abzurutschen. (Der ikonische Spruch der Studentenbewegung der 60er Jahre Unter den Talaren der Muff von 1000 Jahren“ hatte nicht nur einen zeitkritischen Hintergrund; er drückt auch eine tiefe politische und psychologische Konstante in der deutschen Geschichte aus. Der „autoritäre Charakter“ ist ja trotz neoliberaler ‚Individualisierung‘ [wohl besser: Fragmentierung] ein nicht selten anzutreffender Sozialtypus.)

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Ob diese autoritäre Gefahr auch im Falle linksunten, Radio dreyeckland und der Letzten Generation besteht, diese Frage sollte von den linken Bewegungen breit diskutiert werden, um entsprechende taktische und strategischen Konsequenzen ziehen zu können.

 

Anhang:

Der (Zu)Stand der (bürgerlichen) Demokratie in Deutschland

 

Thesen zu 70 Jahren Grundgesetz / 70 Jahren Bundesrepublik

 

 

Vorbemerkung: Die folgenden Thesen wurden 2019 entworfen, sind aber nicht fertig ge­worden (was insb. die Ausformulierung von These 9 und die Entwicklung einer abschlie­ßenden zehnten These sowie das Nachholen der Lektüre des klassischen
Haug-Textes
anbelangt).

 

 

These 1:

 

Das 1949 verabschiedete Grundgesetz war sicherlich – allein schon wegen der Vorgaben, auf die (auch) die Westalliierten (trotz ihrer alsbaldig nach dem – gemeinsam mit der So­wjetunion – errungenen Sieg über Nazi-Deutschland und dessen Verbündeten erfolgten Umorientierung von einer antifaschistischen Bündnisorientierung zu einer Ausrichtung ge­gen den [in der Sowjetunion und in der entstehenden Volksrepublik China gesehenen] ‚kommunistischen Gefahr’) nicht verzichten wollten – eine „Gegenverfassung“ zum Na­tionalsozialismus:

„Unter dem dialektischen Aspekt ihrer politischen Ablösefunktion lassen sich Verfas­sungen geradezu definieren als die Gegenverfassungen des durch eigene Kraftanstre­nung oder fremde Hilfeleistung über den niedergerungenen Machtvorgänger trimuphie­renden Nachfolgeregimes. Das gilt in besonderem Maße für das Grundgesetz. Schon eine mit groben Rastern arbeitende Sichtung des Materials der Verfassungsartikel för­dert eine Fülle von Bestimmungen zutage deren Verständnis, deren sich erst voll er­schließt, wenn man sie als Reaktion auf die politischen Wunden der Vergangenheit be­greift.“

(Hans Čopić: Grundgesetz und politisches Strafrecht neuer Art, Mohr: Tübungen, 1967, 3 [Inhaltsverzeichnisses: http://systemcrashundtatbeilinksunten.blogsport.eu/files/2017/09/hans_copic_inhaltsverz.pdf])

Diese betont mittlerweile – stärker als zur Zeit, als noch die nationalstaatliche sowie öko­nomisch-gesellschaftsstrukturelle Konkurrenz zur (zunächst) Sowjetischen Besatzungs­zone des besiegten Deutschlands und dann der (kurz nach der BRD gegründeten) DDR im Mittelpunkt – das Bundesverfassungsgericht:

„Das bewusste Absetzen von der Unrechtsherrschaft des Nationalsozialismus war his­torisch zentrales Anliegen aller an der Entstehung wie Inkraftsetzung des Grundgeset­zes beteiligten Kräfte (vgl. Verfassungsausschuss der Ministerpräsidenten- Konferenz der Westlichen Besatzungszonen, Bericht über den Verfassungskonvent auf Herren­chiemsee vom 10. bis 23. August 1948, S. 18, 20, 22, 56), insbesondere auch des Par­lamentarischen Rates (vgl. Parlamentarischer Rat, Schriftlicher Bericht zum Entwurf des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland, Anlage zum stenographi­schen Bericht der 9. Sitzung des Parlamentarischen Rates am 6. Mai 1949, S. 5, 6, 9) und bildet ein inneres Gerüst der grundgesetzlichen Ordnung (vgl. nur Art. 1, Art. 20 und Art. 79 Abs. 3 GG). Das Grundgesetz kann weithin geradezu als Gegenentwurf zu dem Totalitarismus des nationalsozialistischen Regimes8 gedeutet werden und ist von seinem Aufbau bis in viele Details hin darauf ausgerichtet, aus den geschichtlichen Er­fahrungen zu lernen und eine Wiederholung solchen Unrechts ein für alle Mal auszu­schließen.“

(https://www.hrr-strafrecht.de/hrr/bverfg/08/1-bvr-2150-08.php, Tz. 65)9

 

Dies erfolgt allerdings weniger, um eine liberale (im klassisch-nordwesteuropäisch/nordamerikanischen Sinne) – d.h.: pluralistische – Demo­kratie-Konzeption zu stützen, sondern heute im Sinne eines – eher hilflosen10 bis untaugli­chen11 – Versuchs einer justiziell-strafrechtlich-polizeilichen Bekämpfung des Neo­nazismus.

 

 

These 2:

 

Zugleich stand das Grundgesetz aber auch am Anfang einer restaurativen Phase, in der ein „freiheitliches“ (nicht: freies = liberales) Demokratie-Konzept vor allem den osteuropäi­schen „Volksdemokratien“ entgegengesetzt und der Spät-Stalinismus als willkommener Anlaß angenommen wurde, um den Antikommunismus dem Antifaschismus überzuord­nen:

„‚freiheitliche’ Demokratie meint aus der zeitgeschichtlichen polemischen Konstellation heraus, in der sie – gegen die ihrerseits polemisch das empirische materielle Ungenü­gen ‚bürgerlicher’ Demokratie abweisende Tautologie ‚Volksdemokratie’ […] – einge­führt wurde, etwas anderes als etwa ‚liberale’ Demokratie, die, wenn schon kein Tauto­logismus, jedenfalls keine contradictio in adjecto ist (weswegen auch jede Übersetzung bundesdeutscher ‚Freiheitlichkeit’ mit ‚liberal’ mißraten muß – wohlgemerkt jede Über­setzung ins Englische, Französische usw.; denn hierzulande ist auch das ‚liberal’ kraft nationalliberalen Erbes bereits unheilbar auf die fatale ‚Freiheitlichkeit’ des Jargons schnoddriger status quo-Apologetik getrimmt).“

(Helmut Ridder, Die soziale Ordnung des Grundgesetzes, Westdeutscher Verlag: Opladen, 1975, S. 60 – unsere Hv.)

 

 

These 3:

 

Ab Mitte der 1960er setzte dann – relativiert durch die Notstandsgesetze, die seitdem aber nie zur Anwendung kamen12 – eine Phase der gesellschaftlichen Liberalisierung ein, die für kurze Zeit – bis Anfang der 1970er Jahre – auch eine strafrechtliche Liberalisierung13 einschloß.

 

These 4:

 

Die zweite Welle14 sog. Berufsverbote (staatliche Weigerung, organisierte KommunistIn­nen im Öffentlichen Dienst zu beschäftigen) einerseits und die sog. Anti-‚Terror’-Gesetzge­bung andererseits bestätigten dann aber freilich auch schnell die These der RAF, daß „die Bedingungen der Legalität durch aktiven Widerstand notwendigerweise verändern“ – näm­lich häufig enger werden:

„Das Schicksal der Black Panther Partei und das Schicksal der Gauche Proletarienne dürfte auf jener Fehleinschätzung basieren, die den tatsächlichen Widerspruch zwi­schen Verfassung und Verfassungswirklichkeit und dessen Verschärfung, wenn Wider­stand organisiert in Erscheinung tritt, nicht realisiert. Die nicht realisiert, daß sich die Bedingungen der Legalität durch aktiven Widerstand notwendigerweise verändern und daß es deshalb notwendig ist, die Legalität gleichzeitig für den politischen Kampf und für die Organisierung von Illegalität auszunutzen und daß es falsch ist, auf die Illegali­sierung als Schicksalsschlag durch das System zu warten, weil Illegalisierung dann gleich Zerschlagung ist und das dann die Rechnung ist, die aufgeht.“

(Das Konzept Stadtguerilla [April 1971], in: ID-Verlag (Hg.), Rote Armee Fraktion. Texte und Materialien zur Geschichte der RAF, ID-Verlag: Berlin, 1997, 27 - 48 [48].)

Freilich ist bei weitem nicht alles an staatlicher Repression Reaktion auf (bereits erreichte) linke Stärke, sondern auch manches Produkt von Hysterie und vieles Produktion kluger Weitsicht („präventive Konterrevolution“).

 

 

These 5:

 

Die Ära Kohl war dann – trotz proklamierter „geistig-moralischer Wende“ – weder ein zu­rück in die 50 Jahre noch gar in den NS und auch noch nicht der Bruch mit dem sozial­staatlich-fordistischen Kapitalismus-Modell der Nachkriegszeit, sondern eher eine Fort­schreibung von Helmut Schmidt sozialdemokratischem „Modell Deutschland“.

 

 

These 6:

 

In paradoxer Erfüllung der Wünsche der 68er-Bewegung brachte dann das Schröder/Fi­scher-Intermezzo eine Beschleunigung der gesellschaftlichen Liberalisierung, aber – nun auch für Deutschland – den Bruch mit dem sozialstaatlich-fordistischen Modell (Agenda 2010):

„Der Prozeß der bisherigen Durchsetzung der neoliberalen Gegenreform hat seine He­gemonie nicht in erster Linie mit militärischer oder ökonomischer Gewalt gewonnen, sondern indem er vor allem die Zustimmung einer breiten und lange Zeit wachsenden Massenbasis organisierte. Dieser für viele Linke schmerzliche Prozeß läßt sich produk­tiv unter dem Gesichtspunkt der ‚paradoxen Wunscherfüllung’ analysieren, d.h. einer derartigen Erfüllung gerade der zentralen Wünsche der neuen sozialen und identitären Bewegungen der 70er und 80er Jahre, daß sie dadurch zu starken Sprengkräften für eine Spaltung der Bewegungen und zu neuen Instrumenten der Herrschaftsstabilisie­rung umfunktioniert werden konnten. […]. Die Wünsche aller sind im Prozeß der neoli­beralen Gegenreform auf paradoxe Weise erfüllt worden. Die libertäre Kulturkritik an der schönen neuen Betonwelt, dem Konformismus und der Arbeitszentriertheit des Nachkriegsfordismus hat ihren innersten Wunsch erfüllt bekommen: Sie hat die ver­haßte Welt von ‚Métro-Boulot-Dodo’ [Metro – Schlaf – Arbeit] in den 80er und 90er Jah­ren Jahren zusammenbrechen sehen, zumeist unspektakulär unter der Abrißbirne der Sanierung alter Industrieflächen, gelegentlich aber auch in den Flammen von Vorstadt-Aufständen oder in den Sprengungen unrentabel gewordener Sozialsiedlungen. Die Ökologiebewegung kann zwar noch keine Eindämmung oder gar Überwindung der glo­balen ökologischen Krisenerscheinungen erkennen. Aber zentrale Strukturen, die sie einst dafür verantwortlich gemacht hatte – die Großstrukturen der fordistischen Indus­trie und die entsprechenden Großorganisationen – sind eindeutig auf dem absteigen­den Ast. […]. Die Frauenbewegung kann den Niedergang der patriarchalen Kleinfami­lie, mit ihrer zentralen Figur des männlichen Familienernährers, bewundern: Die Haus­frauisierung der Wirtschaft beginnt durchaus auch Männer zu ergreifen, von denen eine wachsende Minderheit nicht weniger prekär, unterbezahlt und ‚unterbeschäftigt’ werden, als dies die Frauen unter den patriarchalisch geprägten fordistischen Struktu­ren der lohnabhängigen Kleinfamilie waren.“

(Frieder Otto Wolf, Das Wunder von Europa läßt noch auf sich warten. Zu Lage und Perspektiven der europäischen Linken nach der neoliberalen Gegenreform, in: Prokla. Zeitschrift für kritische Sozialwissenschaft H. 114, 1/1999, 117 - 143 [128 f.])

 

These 7:

 

Die Merkel-Ära ist demgegenüber eher ein kleineres Übel – eine überraschend starke Fortschreibung der gesellschaftlichen Liberalisierung bei nicht mehr ganz so starker, wei­terer Beschleunigung der ökonomischen Neoliberalisierung wie in der Schröder/Fischer-Zeit.

 

These 8:

 

Diese einigermaßen kuriose Situationen, daß CDU/CSU-geführte Regierungen (meist mit der SPD als Juniorparterin; eine Legislaturperiode auch mit der FDP zusammen) ein – aus unserer (vielleicht sehr speziellen) linken Sicht – kleineres Übel gegenüber den beiden vorhergehenden SPD/Grünen-Regierungen sind/waren, erklärt – durchaus in Konvergenz mit rechten Selbsterklärungen – den Aufstieg der AfD. Diese besetzt in der Tat eine politi­schen Raum, den in der Vergangenheit noch die Strauß, Dregger und Lummer von CDU und CSU besetzt hatten.

 

These 9:

 

Kommen wir noch einmal auf die politische Repression und insbesondere das politische Strafrecht zurück:

a) erste Phase (Adenauer/Erhard): KommunistInnen-Verfolgung / 1. Strafrechtsänderungs­gesetz – KPD-Verbot

b) zweite Phase (Brandt/Heinemann): Liberalisierung sowohl des – mehr oder minder – explizit politischen (ideologischen) Strafrechts als auch des Demonstrationsstrafrechts

c) dritte Phase (Schmidt): Berufsverbote und Anti-‚Terror’-Gesetze

d) vierte Phase (Kohl): kleinere Korrekturen der Anti-‚Terror’-Gesetze, aber Wieder-Ver­schärfung des Demonstrationsstrafrechts – Volkszählungsurteil und Sicherheitsgesetze

e) fünfte Phase (Schröder/Fischer): weitere kleinere Korrekturen der Anti-‚Terror’-Gesetze, aber auch § 129b.

Insb. nach 9/11 Aufstieg des Islamismus als Feindbild und sogar eine gewisse – zumindest de jure- Verschärfung der strafrechtlichen Verfolgung des Neonazismus. Zugleich aber auch NSU-Affäre.

f) Wie ordnet sich hier nun die Repression nach G20 im allgemeinen und das linksunten-Verbot insbesondere ein?

 

These 10:

 

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Weitere Literatur:

 

Hartmut Geil, Berufsverbote und Staatsschutz – oder: Wie das Bundesverfassungsgericht das Grundgesetz mit Leben erfüllt und die freiheitliche Ordnung aufrichtet, in: Das Argument. Zeitschrift für Philosophie und Sozialwissenschaften H. 109, Mai/Juni 1978, 380 - 393.

Ulf Gutfleisch, Staatsschutzstrafrecht in der Bundesrepublik Deutschland 1951-1968, BWV: Berlin, 2014.

Reinhard Schiffers, Zwischen Bürgerfreiheit und Staatsschutz. Wiederherstellung und Neufassung des politischen Strafrechts in der Bundesrepublik Deutschland 1949-1951, Droste: Düsseldorf, 1989.

1  Ich kann mich nicht mehr genau an den Ablauf der Proteste erinnern. Die Reaktion auf die Zerschlagung der autonomen Auftakt-Demo war jedenfalls relativ deutlich – wenn auch vielleicht nur deshalb, weil die schwächelnde deutsche autonome Szene nicht alleine war, sondern Autonome / militante AnarchistInnen aus anderen Ländern da waren und sich vielleicht auch ein paar Jugendliche aus marginalisierten Hamburger Stadtteilen anschlossen.

2  Siehe dazu zuletzt von unserer Seite: EmRaWi vom 20.05.2023; kontrapolis.info vom 19.05.2023 (beides von systemcrash) und Freitag-Community vom 31.05.2023 (von TaP).

3 Siehe dazu die Serie von TaP bei den taz-Blogs: https://blogs.taz.de/theorie-praxis/der-durchsuchungsbeschluss-in-sachen-letzte-generation-einleitung/ und die weiteren Teile.

4  https://freiheitsrechte.org/ueber-die-gff/presse/pressemitteilungen-der-gesellschaft-fur-freiheitsrechte/pm-rdl-erfolg.

5 Vgl.: „die auch dem Faschismus zugrunde liegende Tendenz, die Exekutivgewalt zu verselbständigen, [ist] in kapitalistischen Gesellschaften allgemein zu beobachten. Sie ist zumindest latent antidemokratisch, kann aber auch andere Formen als die des offenen faschistischen Terrors annehmen.“ (http://www.wolfgangfritzhaug.inkrit.de/documents/HilflAntifrzWinkler68.pdf, S. 3 unten)

6 TaP merkte beim Gegenlesen zu dem Zitat an: „Das hört sich für mich zu sehr nach einer Beschränkung von militantem Antifaschismus auf Situationen von Notwehr/Nothilfe im staatlich-juristischen Sinne an. Eine solche Beschränkung ist zu eng, wenn die These ist, daß die staatliche Hilfe gegen Nazis nicht nur aus si­tuations-zeitlichen Gründen (Polizei braucht zu lang zum Tatort; der Staatsanwaltschaft fehlen Beweismittel für eine erfolgreiche Anklage gegen konkrete Personen u.a.), sondern aus strukturellen Gründen unzurei­chend ist. Soll auf ein solches grundsätzliches Problem reagiert werden, ist geboten, solche Aktionen zu ma­chen, so daß die Antifas nicht in der Gefahr stehen, dabei den Kürzeren zu ziehen –; also ist eine taktisch günstige Situation im Sinne von temporärer Überlegenheit und Fluchtmöglichkeit zu wählen.“

7 Vgl. das Ende meines in FN 2 genannten kontrapolis-Artikels.

8 Trotz Verwendung des Terminus „Totalitarismus“ unterscheidet das BVerfG – jedenfalls in Bezug auf § 130 Abs. 4 StGB – immerhin zwischen dem Nationalsozialismus und anderen „totalitäre[n] Regime[n]“: „Die Vor­schrift dient nicht dem Schutz von Gewaltopfern allgemein und stellt bewusst nicht auf die Billigung, Verherr­lichung und Rechtfertigung der Gewalt- und Willkürherrschaft totalitärer Regime insgesamt ab, sondern ist auf Äußerungen allein in Bezug auf den Nationalsozialismus begrenzt.“ (https://www.hrr-strafrecht.de/hrr/bverfg/08/1-bvr-2150-08.php, Tz. 61)

9 Siehe aus der juristischen Lehre z.B. auch:

  • Michael Sachs, in: ders., Grundgesetz, 20188, Art. 139, RN 5: „klarer Akzent dahin, dass sich die Verfassung jedenfalls der Gefahren aus dieser Richtung [NS-Bestrebungen] erwehren will.“

  • Hans D. Jarass / Bodo Pierroth, Grundgesetz, 201815, 1406 (Stichwort: „Nationalsozialismus: […] – entgegengesetzte Ordnung“ – unter Nennung von elf Kommentar-Stellen. Stichwörter „Kommunis­mus“, „Stalinismus oder Totalitarismus“ finden sich dagegen dort nicht).

Im klassischen Jargon dagegen weiterhin Axel Hopfauf (in: Bruno Schmidt-Bleitreu et al., Grundgesetz, 201814, Einleitung, RN 22): „In bewusster Abgrenzung hierzu [zum „Totalitarismus des nationalsozialistischen Unrechtsregimes“] sowie zu den Volksdemokratien sowjetischer Prägung“.

10 ## Vllt. würde der klassische Haug-Aufsatz zum „hilflosen Antifaschismus“ (ich habe ihn nie gelesen) hier hinpassen. ##

11 Rolf Hosfeld / Michael Kreutzer, Eine einsame Provokation. Die West-Berliner Inszenierung der „Ermitt­lung“ von Peter Weiss und die Problematik juristischer Faschismusbewältigung, in: Das Argument H. 125, Jan./Feb. 1981, 61 - 69 (68): „Treffend (und treffender als viele andere) bemerkte denn auch der ‚Demokrati­sche Klub Berlin’, ein Verein rechter Professoren, es gehe der Inszenierung darum, ‚die Justiz der Bundesre­publik lächerlich machen zu können’ (Berliner allgemeine jüdische Wochenzeitung vom 4.4.80). Nicht die Justiz der Bundesrepublik, sondern die Justiz überhaupt, soweit, allerdings auch nur insoweit, als sie eine systematische Unangemessenheit gegenüber dem Problem des Faschismus produziert und produzie­ren soll.“ (unsere Hv.)

12 Vgl. dazu die These von Heiner Busch / Falco Werkentin, Linke Bilder vom Leviathan. Kurz vor Neun­zehnhundertvierundachtzig, in: Bernd-Peter Lange / Anna Maria Stuby (Hg.), „1984“ (gulliver. Deutsch-engli­sche Jahrbücher. German-English Yearbook Bd. 14 / Argument-Sonderband AS 105), Argument: [West]ber­lin, 1984, 19 - 40 (32): „Zum Zeitpunkt ihrer Verabschiedung waren die Notstandsgesetze bereits ‚unmodern’, verfassungsrechtlicher Ausdruck des Abschlusses der Rekonstruktionsperiode, nicht harte Indikatoren des Beginns einer neuen Zeit.“

Zum Rückgang des auf den „Notstand“ fokussierten Denkens

13 Siehe:

  • Jürgen Baumann et al., Alternativ-Entwurf eines Strafgesetzbuches. Besonderer Teil. Politisches Strafrecht, Mohr: Tübingen, 1968; teilweise eingegangen in:

  • Schriftlicher Bericht des Sonderausschusses für die Strafrechtsreform, BTag-Drs. V/2860

  • Achtes Strafrechtsänderungsgesetz vom 25. Juni 1968, in: Bundesgesetzblatt Teil I, Nr. 43 vom 29.06.1968, 741 – 755.

  • BGBl. I 1970, 505; 1978, 1571; 1985, 1511; 1989, 1059

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14 Eine erste Welle von Berufsverboten war durch den sog. Adenauer-Erlaß von 1950 ausgelöst worden. Siehe dazu:

  • Dominik Rigoll, Staatsschutz in Westdeutschland. Von der Entnazifizierung zur Extremistenabwehr, Wallstein: Göttingen, 2013, Abschnitt I.2. „Der Adenauererlass und der historische Kompromiss von 1950“ (Inhaltsverzeichnis: http://d-nb.info/1017650497/04).

  • Alexander von Brünneck, Politische Justiz gegen Kommunisten in der Bundesrepublik Deutschland 1949-1968, Suhrkamp: Frankfurt am Main, 1978, Abschnitt 3.2. „Entfernung der Kommunisten aus dem öffentlichen Dienst“ (Inhaltsverzeichnis: http://tap2folge.blogsport.eu/files/2019/05/avb_pol_justiz_gg_kommis_inhaltverz.pdf).

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