9. November-Gedenken in Weißensee und Prenzlauer Berg

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Am 9. November 2019 fand das alljährliche Gedenken an die Novemberpogrome im Großbezirk Pankow statt. Anlässlich des 80. Jahrestages der Novemberprogrome beteiligten sich Antifas aus dem Bezirk seit Jahren erstmals wieder am Gedenken des Bezirks. Am Gedenken auf dem jüdischen Friedhof in Weißensee nahmen insgesamt 30 Menschen Teil. Zehn davon waren lokale Antifas aus dem Bezirk, die ebenfalls einen eigenen Gedenkkranz hatten anfertigen lassen.

Zehn davon waren lokale Antifas aus dem Bezirk, die ebenfalls einen eigenen Gedenkkranz hatten anfertigen lassen. Der Bezirksbürgermeister Sören Benn hielt eine einleitende Rede, in der er betonte, dass der 9. November kein Tag zum feiern sei. Auch wenn der 9. November ebenfalls der Jahrestag des Mauerfalls sei, der für viele ein Anlass zum feien ist, so bleibe der 9. November vor allem ein Tag des Gedenkens und Mahnens. Nach ihm sprach ein Vertreter der Jüdischen Gemeinde Berlin, der in seiner Ansprache daran erinnerte, dass Widerstand gegen den aktuellen Rechtsruck heute notwendiger denn je sei. Nach dem die Parteien ihre Kränze niedergelegt hatten, legten eine Abordnung der der Antifaschist*innen ihren Kranz ab.

Im Anschluß an das Gedenken auf dem Jüdischen Friedhof in Weißensee ging es zum Jüdischen Friedhof an der Prenzlauer Allee. Hier beteiligten sich am Gedenken unter anderem Mitglieder des Pro Kiez Bötzowviertel e.V. und der VVN-BdA Ortsgruppe Prenzlauer Berg. Die Hauptrede beim Gedenken in Prenzlauer Berg hielt Zahavah Zinn-Kirchner, die Enkeltochter des ehemaligen Vorsitzenden der Jüdischen Gemeinde von Ost-Berlin und Shoah Überlebenden Dr. Peter Kirchner. Die sehr bewegende Rede haben wir in diesem Beitrag dokumentiert.

Die Erinnerung an die Naziverbrechen bleibt ein wichtiger Bestandteil antifaschistischer Politik, da sie immer wieder ins Gedächtnis ruft, welches vernichtende Ausmaß Antisemitismus und Rassismus haben können, wenn wir keinen Widerstand leisten. Gedenkarbeit bietet den Raum für Betroffene und deren Angehörige darüber zu berichten, welche Bedeutung Stigmatisierung und Verfolgung für sie selbst, ihe Familien und Communitys haben. Gedenken bietet den Raum diesen Erzählungen zuzuhören. Für das Jahr 2019 ist es darum zu befürworten, dass diese Sichtweisen wieder einen zentralen Platz beim 9. November-Gedenken im Großbezirk Pankow einnehmen.

Nie wiederFaschismus!
Nie wieder Krieg!

North East Antifa(NEA) | November 2018
www.antifa-nordost.org

Bilder: vom 9. November-Gedenken von Oskar Schwartz


Rede von Zahavah Zinn-Kirchner am 9. November 2018, anlässlich des Gedenkens an die Novemberpogrome, auf dem jüdischen Friedhof in derPrenzlauer Allee.

Sehr geehrter Herr Bürgermeister, werte VDN Kameraden und Überlebende der Shoah,meine Damen und Herren.

Ich heiße Zahavah Zinn-Kirchner und bin Enkeltochter des ehemaligen Vorsitzenden der JüdischenGemeinde von Ost-Berlin und Shoah Überlebenden Dr. Peter Kirchner. Heute, anstelle meines Großvaters, mit seinem Segen, in IhrerAnwesenheit einige Worte, aus Anlass des 80. Jahrestags der Kristallnacht, sagen zu dürfen ist mir eine große Ehre.

Seitdem 9. November 1938 sind genau 80 Jahre vergangen, und noch immer erleben wir Antisemitismus. Um sich mit diesem Thema und derErinnerung an den 9. November beschäftigen zu können, ist es meinerMeinung nach wichtig zuerst den historischen Rahmen zu skizzieren, indem jene fürchterliche Nacht und die darauf folgenden sieben Jahre zustande konnten.
1938 war der Antisemitismus für die jüdische Bevölkerung in Deutschland keine frische Wunde; sondern die Weiterführung einer schon über Jahrhunderte sich erstreckenden Ausgrenzungs- und in letzter Konsequenz Auslöschungsbewegung. In ihrem Buch »Der Gelbe Fleck« schreiben Rudolf Hirsch und seine erst in diesem Jahr verstorbene Frau Rosemarie Schuder: »Die ersten Pogrome überzogen Europa bereits im frühen Mittelalter, als Kreuzfahrer mit dem Ruf ‘Töten oder taufen’ in jüdische Gemeinden einbrachen…das Schicksal der Juden hieß Verfolgung, Vertreibung,  Ermordung.«

1879 stellt der deutsche Journalist Willhelm Marr die erste offizielle Definition des Antisemitismus auf: Feindschaft gegen Juden. Er gründet die sogen. Antisemitenliga und bezeichnet Juden als »Parasiten«, die die Ausbeutung Deutschlands mit Erfolg ausgeführt hatten. Am 15. September 1935 werden die Nürnberger Rassengesetze eingeführt, die Juden nach ihrem Blut und dem daraus folgenden semitischen Prozentwert diskriminieren. Ehen zwischen sogenannten Deutschblütigen und Juden sind nicht gestattet. Drei Jahre danach, am 7. November 1938, wird Ernst vom Rath, ein deutscher Diplomat von einem 17-jährigen Juden namens Herschel Grynszpan erschossen, nachdem dieser erfährt, dass seine Eltern und mehrere tausend weitere Juden in den deutsch-polnischen Grenzbereich verschleppt wurden. Reichspropagandaminister Goebbels nutzt dies als Vorwand für die Terrorisierung der jüdischen Bevölkerung.
In der Nacht zum 10. November 1938 üben die Nationalsozialisten ein sich über ganz Deutschland und das seit dem 12. März angeschlossenen Österreich erstreckendes Pogrom aus. Infolgedessen sterben 100 Juden und siebeneinhalbtausend jüdische Geschäfte, sowie hunderte von Synagogen, jüdischen Schulen, Friedhöfen und Häusern werden zerstört. Der Dresdner Rabbiner Dr. Max Eschelbacher erinnerte sich: »Mein erster Weg führte mich zur Synagoge…In der Pogromnacht waren die Thorarollen aus dem Aron Hakkodesch (Thoraschrein) geholt und im Hof angezündet worden, wobei die Mordbrenner um sie herumtanzten … Dann wurde alles Holz, insbesondere der Dachstuhl und die Bänke, mit Benzin und Teer bestrichen undangezündet.« 30,000 jüdische Männer werden in dieser Nacht schuldlos verhaftet – viele werden in Konzentrationslager transportiert, von denen nur wenige in ihre Heimat zurückkehren.Viele jüdische Familien beschließen, sich lieber selbst das Lebenzu nehmen, als es von dem Nazi Regime weiter zur Hölle machen zulassen.
Die Sachschäden an jüdischen Gebäuden werden von denVersicherungen nicht getragen sondern den Juden selbst in Rechnunggestellt: 1 Milliarde Mark sollen sie als »Reparationskosten« bezahlen. Die Regierung beschlagnahmt jüdisches Eigentum und fängt an die Juden stärker und stärker aus deutschen sozialen, politischen und wirtschaftlichen Sphären auszugrenzen. Nach der Kristallnacht verlassen mehr als 100,000 Juden Deutschland und suchen in den USA, England, Frankreich, Südamerika, Palästina und sogar Shanghai Zuflucht. Einige Länder beenden nach der Kristallnacht ihre diplomatischen Beziehungen mit Deutschland, wovon das immer stärkerwerdende Dritte Reich jedoch kaum einen Schaden erfährt. In den nächsten sieben Jahren werden 6 Millionen Juden, 7 Millionen sowjetische Zivilisten sowie Kriegsgefangene, 250,000 Behinderte,200,000 Roma und Sinti, und 70,000 »Asoziale«, zu denen größtenteils Homosexuelle zählten, ermordet. Allein in Auschwitz sterben 1 Millionen Menschen – das würde der heutigen Einwohneranzahl von ganz Pankow (einschließlich Prenzlauer Berg und Weissensee), sowie Lichtenberg und Mitte entsprechen.

Nach Kriegsende wird 1945 Deutschland in Ost und West geteilt –amerikanische, französische und britische Kräfte teilen sich den Westen, die UdSSR bekommt den Osten. Schließlich wird 1961 die Berliner Mauer errichtet. 28 Jahre später fällt sie – der 9.November wird wieder zu einem wichtigen Datum der deutschen Geschichte. Die nun durch zwei Weltkriege und eine Grenzziehung und- auflösung geprägte Bevölkerung fängt langsam an zu versuchen vonden Geschehnissen des 20. Jahrhunderts zu heilen.

In Anerkenntnis der Geschichte möchte ich jetzt auf zwei Torah-Abschnitte zu sprechen kommen. Der erste Abschnitt, Toldot, wird in der kommenden Woche gelesen, der zweite, Lech Lecha, begleitete die Juden in der Woche zum 9. November 1938. Toldot heißtwort-wörtlich aus dem Hebräischen übersetzt »Geschichte« oder»Abstammung«. In diesem Torah-Abschnitt geht es um Jacob und Esau, die sich schon im Mutterleib streiten, aber vor allen Dingen auch um Isaac, ihren Vater. Rebekka, Isaacs Frau, bringt zwei Jungen auf dieWelt, jedoch erst nach einer langen und schweren Geburt. Sie schreit, »Im Keyn, Lama Zeh Anochi?« (»Wenndas Leben so ist… mit so viel Leid… warum bin ich dann?«) Diese Frage haben sich die Juden im Laufe der Geschichte, besonders während und nach der Shoah, oft stellen müssen. Viele zweifelten an G-tt. Auch Isaac zweifelt an seiner Verbindung zum Allwissenden. Um sich von diesem Zweifel am G-tt seiner Vorväter zu befreien beschließt er zur Quelle ihres Glaubens zurückzukehren in dem er drei Brunnen aufdeckt; die Brunnen existieren sowohl symbolisch als auch physisch. Der erste Brunnen heißt Esek (Streit). Isaac und wir auch, versuchen uns mit unserer Identität auseinandersetzen, treffen aber auf viele Widersinnigkeiten. Es entsteht ein innerer Konflikt zwischen dem Vertrauen zum Himmel und dem Schmerz, den Isaac und wir auf Erden empfinden. Der zweite Brunnen Sitna (Feindschaft) weitet diese innere Kluft. Auch mit der Kraft G-ttes sind alle für sich allein gestellt. Isaac glaubt, der Segen G-ttes sei begrenzt und reiche nur für einige wenige, Glückliche aus. Jedoch hat Isaac beim Graben des dritten Brunnens Rechovot (Endlosigkeit) eine Erkenntnis. Beim Öffnen der Seele wird man sich dessen bewusst, dass unser Leid geteilt werden kann und auch schon immer von unseren Vorfahren geteilt wurde. Unser Leid wird durch die Schmerzen unserer Vorväter und -mütter gelindert, und Isaac und wir auch vertrauen der Gewissheit, dass genug Segen für alle übrig bleibt. Doch auch schon der Vater von Isaac, Abraham, hatte am Allmächtigen gezweifelt. Im Abschnitt Lecha-Lecha (übersetzt »Gehe los«) wird Abraham von G-tt in ein fernes Land geschickt, in dem ihm Hungersnot und Dürre begegnen; er empfindet Wut und Enttäuschung. Er rettet seinen Neffen Lot und seine Familie und erhält daraufhin einen Segen vom Himmel. Er verspürt eine tiefe Verbindung zur Quelle der Weisheit. Aus den Sternen liest er eine Botschaft: dass seine Nachkommen eines Tages einen eigenen Platz auf der Welt bekommen werden, aber erst nach Sklaverei und einer endgültigen Befreiung.

Aus diesem Abschnitt spricht nicht blindes Vertrauen auf Seiten Abrahams, sondern vielmehr die Entschlossenheit trotz der Dürrezeiten immer weiter geradeaus zu laufen und sich an den Stern zu erinnern, der sein Volk in das versprochene Land führen wird,auch wenn er es selbst nicht mehr miterleben kann. Und so stellen wiruns jetzt die Frage: warum erinnern? Warum gedenken? Warum immer und immer wieder von Jahr zu Jahr dieselbe Geschichte ins Bewusstsein rufen? Welche Bedeutung hat sie noch heute?

Meine persönliche Sichtweise ist folgende: Die Shoah war ein auf das Judentum gerichtetes jahrelang andauerndes Attentat, welches die Traditionen, Gebete und Integrität der gesamten jüdischen Bevölkerung unterminierte mit dem Ziel die sogenannte Judenfrage durch die eine komplette Auslöschung der jüdischen Population geplant war zu beantworten.

Leider können wir achtzig Jahre und viele millionen Tode später immer noch nicht sagen, dass es den Antisemitismus nicht mehr gibt. Beweis dafür sind die noch immer auf die jüdische Bevölkerung weltweit ausgeübten Terrorakte, wie die Ermordung von 11 Juden in einer Synagoge in den USA (und das vorweniger als zwei Wochen) und unzähligen Verschandelungen jüdischer Friedhöfe, Schulen und Synagogen weltweit. Zu behaupten, dass es den Antisemitismus nicht mehr gäbe wäre eine Beleidigung derer, die während der Shoah ihr Leben verloren wie auch jener, die noch immer dem Antisemitismus ausgesetzt sind. Thomas Brasch sagte: »DerFaschismus ist so lange her, wie eine Sekunde in meinem Leben…Und wenn die Deutschen meinen, diese eine Sekunde ist schon so lang gegewesen, dass sie darüber nicht mehr nachdenken müssen, dann tun sie mir leid.«

Jetzt, in dieser Zeit, ist es für meine Generation besonders wichtig, die Erinnerungen der noch Lebenden wach zu halten und dies nicht nur um sagen zu können, dass wir eine Wiederholung der Shoah vermeiden wollen. Denn Tatsache ist,dass es seit 1945 weltweit noch viele Genozide gegeben hat und sich aktuell eine rechts gerichtete politische Bewegung in vielen Ländern etabliert. Und nur Menschen, die ein derartiges nationalistisches, giftiges Weltbild schon einmal ertragen mussten, können einen ehrlichen Rat an die nächste Generation weiterreichen. Um tatsächlich einer solchen Zeit des Schreckens vorzubeugen, müssen wir jetzt versuchen, kollektiv die Geschichten der Verstorbenen und der noch Lebenden zu verinnerlichen und an die nächsten Generationen weiterzugeben, um eine Zukunft ohne Diskriminierung aufgrund der Religion, Herkunft, Sexualität etc., zu ermöglichen. Denn nur in solch einer Welt können wir sicherstellen, dass die Brunnen des Streits und der Feindschaft nicht immer wieder aufgegraben werden müssen, um schließlich einen Eingang zur Seele des Universums zufinden; ein unerschöpflicher Fluss, der auch in Dürrezeiten fließt und ein Stern, der uns jetzt im Sinne des Friedens in die Zukunft führt.

Vielen Dank.

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