Diskussionspapier zum Umgang mit Vorwürfen sexualisierter Gewalt in der linken Szene (MV)

Das Thema der sexualisierten Gewalt wird aktuell immer wieder aufgeworfen und damit auch die Frage, wie wir in der linken Szene einen Umgang damit finden können.  Aber nicht nur bundesweit müssen wir uns damit auseinandersetzen, auch im eigenen Bundesland gibt es vermehrt Fälle, die szene-intern oder öffentlich verhandelt werden. Für uns stellte sich daher im letzten Jahr die Frage, wie wir es schaffen einen linksradikalen und solidarischen Umgang mit Vorwürfen sexualisierter Gewalt zu finden. Einen Umgang, der die Probleme nicht ignoriert, aber auch nicht skandalisiert. Einen Umgang, der gesellschaftliche Strukturen nicht an Einzelpersonen verhandeln will, aber persönliche Verantwortung auch nicht kleinredet. Einen Umgang, der sich dem Themenkomplex mit dem Ziel nähert, Gewalt minimieren zu wollen und wirkliche Veränderungen anzuregen.

Wir behandeln das Thema mit dem Verständnis von kollektiver Verantwortung und dem Wunsch nach einem solidarischen Miteinander. Der Text soll daher lediglich als Diskussionsgrundlage dienen und versuchen, unsere eigenen Gedanken mit dem Thema zu sortieren und festzuhalten.

Für viele politisch aktive Menschen in MV war das AJUCA im letzten Jahr eine Zäsur. Was ist passiert?

Auf dem AJUCA 2022 wurden von einer am Camp beteiligten Crew Vorwürfe sexualisierter Gewalt gegen ein Mitglied der Orga-Struktur geäußert. Mit den Vorwürfen wurden Forderungen an die AJUCA-Orga gestellt. Eine gemeinsame Behandlung der Vorwürfe zwischen der Crew und der Orga scheiterte. Darüber hinaus setzte sich die Crew aktiv über das Awarenesskonzept des Camps hinweg. Die Vorwürfe wurden auf dem Abschlussplenum von der Crew vor den meist jugendlichen Teilnehmenden des Camps verantwortungslos und "höchst unsensibel" wiederholt. Dies war weder mit Betroffenen abgesprochen noch wurde es den tatsächlich vorgefallenen Situationen gerecht. Der Orga-Struktur wurde dabei öffentlich vorgeworfen, den Teilnehmenden absichtlich Informationen zu verschweigen und sie dadurch zu gefährden.  Es sei ein angeblich "mehrfacher Vergewaltiger" an dem Camp beteiligt gewesen, was laut der Crew der Orga-Struktur auch bekannt gewesen sei. Die Crew warf der Orga-Struktur „Täterschutz“ vor und reiste danach überstürzt ab. Nach dem Camp bildete sich aus der AJUCA-Orga eine Aufarbeitungsstruktur mit dem Ziel, den Vorwürfen nachzugehen und diese zu sortieren. Außerdem durchlaufen verschiedene lokale Strukturen, sowie die mit den Vorwürfen konfrontierte Person, mehrere Reflexionsprozesse.
(Siehe dazu das Statement der AJUCA-Orga auf Instagram).

Der Fall zeigt uns klar die Problematik mit dem Umgang des Themas auf. Selbstgerecht und panisch wurde sich über Vereinbarungen und Konzepte hinweggesetzt, um vermeintlich Betroffene zu schützen. Fraglich ist dabei allerdings, ob ein überstürzter Alleingang dem Wunsch nach tatsächlicher Aufklärung und Schutz von Betroffenen überhaupt gerecht werden kann. Auch wurde der AJUCA-Orga damit die Fähigkeit abgesprochen, die Ernsthaftigkeit der Lage überhaupt zu begreifen. Zusätzlich wurde mit dem Vorwurf des Täterschutzes mögliche Gewalterfahrungen seitens der Orga negiert.

Das wirft die Frage auf, wie wir auf solche Vorwürfe verantwortungsbewusst und lösungsorientiert reagieren können.

Es scheint angebracht sich als radikale Linke darauf zu besinnen, welchen gesellschaftlichen Umgang wir eigentlich wollen und welchen wir ablehnen. Für das Thema Gewalt und speziell sexualisierte Gewalt heißt das: wir wollen Gewalt und gewaltvolle Situationen langfristig vermindern und schlussendlich beseitigen.

Es geht uns zum einen darum, in welchen Beziehungen wir zu einander leben wollen und in welcher Gesellschaft. Zum anderen geht es darum, uns Räume zu erkämpfen, in denen wir emanzipatorisch leben können und wollen, also: Als Genossinnen und Genossen.

Drei materialistische, aus der Realität abgeleitete Erkenntnisse, die in dem Zusammenhang vielleicht helfen können:

  • 1. Geschlechterverhältnisse sind Produktionsverhältnisse. Im Kapitalismus bedeutet das, dass sich die unterdrückte Stellung der Frau, also die naturalisierte Überordnung der Produktions- über die Reproduktionssphäre auch in alltäglichen Beziehungen zu einander herstellt. Sexismus bzw. sexualisierte Gewalt ist dabei notwendiger Bestandteil für die Aufrechterhaltung dieser (sich daraus ergebenden sozialen) Verhältnisse, muss somit fortwährend kritisiert und darf nicht nebensächlich verhandelt werden.
  • 2. Diese Beziehungen, in denen wir zueinanderstehen, bestimmen und strukturieren unser Handeln. Beschränken wir uns auf individuelle Bedürfnisse und identitätspolitische Forderungen, ändern wir nichts an den materiellen Strukturen und Beziehungen, sondern manifestieren diese, die eigentlich zu kritisieren sind.
  • Hieraus formuliert sich (3.) unser Anspruch, dass wir (alle) gemeinsam mit und in solchen Situationen lernen (also einen diskursiven Lernraum aus einem gemeinsamen politischen Kampf artikulieren), da wir eben in diesen Beziehungen zu einander stehen und die Räume in denen wir leben gemeinsam gestalten und transformieren wollen.

Daraus ergibt sich für uns aber auch die Forderung, dass niemand aufgrund einer Unterdrückung bzw. Marginalisierung und der daraus konstruierten Identitätszugehörigkeit legitime Autoritätsansprüche ableiten sollte. Autoritäts- und Machtansprüche sollten wir als Linke immer zurückweisen und kritisch hinterfragen, auch oder gerade, wenn es in den Worten von “Betroffenheit” daherkommt. Identitätszugehörigkeit kann niemals die wirkliche Auseinandersetzung und Bearbeitung eines Themas ersetzen und sollte nie als Garant für Wahrheit verstanden werden. Zu glauben die eigene Zugehörigkeit einer marginalisierten Gruppe macht einen zu Expert:innen in dem Bereich ist vermessen. Niemand kann behaupten für alle Menschen zu sprechen, die gerade zu der eigenen Identitätsgruppe gehören. Identitätszugehörigkeit darf niemals autoritär dazu benutzt werden, um ideologische Meinungsverschiedenheiten, Diskussionen und verschiedene politische Ansätze zu beenden.

Für den Umgang mit kritischen Situationen braucht es daher an keiner Stelle (den Zwang zur) Rechtfertigung, sondern (die Möglichkeit zur) Reflexion für das eigene Handeln. Zu glauben, dass nur der eigene Ansatz der einzige und richtige sein kann oder zu glauben es gäbe nur den eigenen Ansatz, um Situationen zu bearbeiten oder zu lösen, ist realitätsfern. Dieses Denken basiert auf einer Vereinfachung von komplexen Zusammenhängen und besorgniserregenden schwarz/weiß-Denkens. Die Erkenntnis, dass es besser ist Fehler zu machen, als gar nichts zu machen, sollte notwendiger linker Konsens sein. Doch dafür braucht es eine versöhnliche Fehlerkultur, die nicht möglich scheint, wenn Fehler machen in linken Räumen sanktioniert wird.

Konflikte nicht per se als kontraproduktiv oder gewaltvoll zu verstehen. Verschiedene Lösungsansätze können zu einem Konflikt führen. Das stellt an sich aber noch kein Problem dar, sondern kann als Grundlage für einen solidarischen gemeinsamen Umgang dienen. Konfliktscheuheit oder gar Verweigerung eines Aushandlungsprozesses kann nicht zu einer gemeinschaftlichen Lösung führen. Mehr noch: Sich möglichen Konflikten im Zusammenhang mit Aushandlungsprozessen und/oder Dissens zu stellen sollte Teil einer lösungsorientierten und emanzipatorischen Praxis sein.

Rückblickend auf das AJUCA 2022 müssen wir uns als radikale Linke also von der scheinbar gängigen, aber selbstgerechten Praxis im Umgang mit Vorwürfen sexualisierter Gewalt emanzipieren. Insbesondere wenn das Konzept der Betroffenenorientiertheit für eine moralische Selbstinszenierung entfremdet wird, gelingen uns keine  Aufarbeitungsprozesse, die das Ziel haben gewaltvolle Situationen langfristig zu vermindern, also: Transformative Prozesse.
Ein linksradikaler und emanzipierter Umgang mit sexualisierter Gewalt braucht Reflexion, eine versöhnliche Fehlerkultur sowie Lernräume und keine identitätspolitische Abgrenzung und Alleingänge.

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