iL-Organisierung: Nach Heiligendamm ist vor Heiligendamm

Der folgende Text ist die schriftliche Ausarbeitung eines Vortrags, der im Juli 2021 bei einer internen Tagung über die Krise der Interventionistischen Linken (iL) gehalten wurde. Er ist in der Broschüre »Die IL läuft Gefahr, Geschichte geworden zu sein« erschienen. Die Fragen, die sich Genoss*innen stellen, sind Fragen, die in der gesamten radikalen Linken gestellt werden. Auch wenn wir nicht jedes interne Detail verstehen, haben uns viele der Beiträge angesprochen. Die Tagungsdokumentation gibt es als pdf (siehe unten).

iL-Organisierung: Nach Heiligendamm ist vor Heiligendamm
Beginnen wir mit einem Blick zurück auf den Beginn der iL. Also eigentlich nicht auf den Beginn von 1999 im Beratungstreffen, sondern auf die Zeit um Heiligendamm. Denn ganz am Anfang unserer gemeinsamen Politik stand der Rückblick auf die dunklen neunziger Jahre und die Hoffnung auf das, was mit uns und ums uns geschah. Irgendwo in einem Orgapapier schrieben wir:

a) »Es rührt sich wieder was. Weltweit: in der Welle der ›globalisierungskritischen‹ Bewegungen seit Seattle. Fern von uns: in dem, was in Lateinamerika vor sich geht, was man gerüchteweise aus China und Indien hört…« Und weiter:

b) »Bei uns und für uns reicht es, an Heiligendamm zu erinnern: da darf einiges erwartet werden. Dazu gehören wir selbst, die iL. ›Wir‹, dass sind die G8-xtra (eine Massenzeitschrift der iL zu den G8-Protesten), dass sind die, die den Make-capitalism-history-Block in Rostock und die Blockaden und die Camps und noch einiges anderes mehr (mit) auf die Beine gestellt haben – allem voran: eine für Linksradikale in Deutschland bisher ziemlich einzigartige ›Bündnispolitik‹.«

Wir stellten damals fest: »Wir haben keine Massenbasis und sind darauf vielleicht gar nicht aus, und – so stehts im Diskussionspapier von 2004 –, sind deshalb zur ›Kaderpolitik‹ genötigt. Wir wollen die aber nicht ›marxistisch-leninistisch‹ verstehen. Wollen andererseits keine ›Autonomen‹ und überhaupt gar keine ›Antideutschen‹ sein. … ›Wir‹ wollen eine Organisierung neuen Typs sein: keine Partei, keine Szene, kein Bündnis - aber was dann?«

Oder, wie wir vom Hamburger Innensenat damals zutreffend zitiert wurden: »›Wir haben alle eingeladen und alle sind gekommen: Umweltschützer, Friedensaktivisten, Anarchisten, Pazifisten, Gewerkschafter und selbstverständlich auch Autonome.‹ Wir waren wirklich ein ›Projekt in Bewegung, das sich durch Intervention in praktische Kämpfe entwickeln will.‹ Damit verbunden war immer ein Vorrang der praktischen Politik, der Bündnispolitik. Wir haben die Frage danach, in welcher Welt wir eigentlich leben, immer zugunsten der Frage nach den Aktionsformen, der Zustimmungsfähigkeit etc. zurückgestellt. Das hat sich eigentlich ziemlich früh gerächt, vielleicht ohne dass wir das insgesamt in seiner Tragweite bemerkt hätten. Wir haben es versäumt, unsere eigenen Grundannahmen und die Voraussetzungen unserer Politik, wie strategische Bündnisorientierung, Aktionsformen wie ziviler Ungehorsam oder ganz einfach den Wunsch immer mehr zu werden, kritisch zu bedenken.«

So hat sich die iL spätestens seit dem Zwischenstandspapier 2014 immer mehr zu einer revisionistischen Flügelorganisation der Linkspartei entwickelt. Damit ist nicht gemeint, dass die iL der Partei der Linken anhängt. Gemeint ist damit der Versuch in einer konventionellen, geradezu parteiförmigen Organisierung unter dem Label von Antikapitalismus auf der Straße sozialdemokratische Politik voranzubringen. Auch wenn die iL sich immer noch als post-autonome Organisation bezeichnet, kann sie kaum verbergen, dass sie ganz gegen ihren eigenen Anspruch intransparente und autonom und ohne Mandat agierende Strukturen entwickelt hat, die ihrer eigenen historischen Kritik an Partei- und ML-Politik in keinster Weise gerecht wird.

Der wachsende bürokratische Apparat
Das gegenwärtige Verhältnis von Ortsgruppen, Koordinierendem Gremium (KoGre), diversen Telefonkonferenzen, Signalgruppen etc. ist jedenfalls meilenweit von einer basisdemokratischen Organisierung, die von autonomen Ortsgruppen getragen wird, entfernt. Politische Herrschaft existiert in unterschiedlicher Hinsicht, ohne sich als solche erkennen zu geben. Die Strukturen der iL erinnern erheblich an die expansive Entstehung einer eigendynamischen Bürokratie, für die es gar keine politischen Probleme, sondern nur noch Befindlichkeits- und Konfliktbearbeitungsnotwendigkeiten gibt:
• Aus dem KoGre als Impulsgeber und Organisator für strategische Debatten wird ein Gremium, dass den »Laden zusammenhält«, Checklisten und Verhaltenshandreichungen für allerlei Probleme produziert, sich als Schiedsgericht gebart, wenn es nur aus der Lokalität angerufen wird.
• Die Mitglieder der Ortsgruppen (früher waren wir AktivistInnen der iL und haben uns im Lokalen einen Rahmen gesucht, um in der Gesamt-iL Politik zu machen, nicht andersherum) fordern Delegiertenschlüssel, sozialistische Programmatiken, interne Ausschüsse, Kommissionen oder Unterstützungsfonds, während eine handvoll von Menschen sich überhaupt um die iL als Gesamtes kümmert.
• Partei, massenkompatible Politik und ein schlechter Avantgardeanspruch in »breiten Bündnissen« tauchen bei uns wieder auf: Der Erfolg unserer Aktionen wird an der Menge der Menschen und am Diskurs gemessen (nach dem Motto: Wie viele folgen uns), zunehmend inhaltsleere und auf schlichte Reichweite fokussierte Öffentlichkeitsarbeit ist mit dem Wohlgefallen verbunden, dass die iL in der Bewegungslinken hegemonial ist und wir nehmen jeden auf, der einverstanden mit unserem P***buch (Zwischenstandspapier) ist. Vielen GenossInnen scheint die Angst der Frage von 2004, die mit den Anti-Deutschen verknüpft war: »Wie verhindern wir, dass die immer wieder sich einstellende Erfahrung, in der Minderheit zu sein, in elitistische Identitätspolitik umschlägt ...?« immer noch so im Nacken zu sitzen, dass sie lieber breite Bündnispolitik machen, als in einer Minderheitenposition leben zu müssen. Aus den AktivistInnen der iL auf dem Gesamttreffen werden Delegierte ihrer Ortssektionen. Aus den Gesamttreffen werden Sitzungen, in denen sich die unterschiedlichen Fraktionen austauschen und Kompromisse entwickeln.

Wie konnte es dazu kommen? Nun, unseres Erachtens gab es die zentristischen Positionen in der iL (Zwischenstandspapier als Parteiprogramm, breite Bündnisse und »Ziviler Ungehorsam« als einziger Form praktischer, revolutionärer Politik) schon immer, die Frage danach, was eigentlich linksradikal zu sein und linksradikal zu handeln bedeutet, war viel zu lange schon nicht gestellt. Aber erst mit der unbearbeiteten Niederlage von Blockupy geriet die iL ernsthaft in eine Situation, in der die Treue zum Ereignis (zu seiner Möglichkeit) und zu seinem »Stattgefundenhaben« organisiert werden musste, um es einmal mit dem französischen Kommunisten Badiou zu formulieren. Mit »Niederlage von Blockupy« meinen wir übrigens nicht, dass die rebellische, praktische Intervention gegen die europäische Austeritätspolitik an diesem Punkt gescheitert gewesen wäre. Vielmehr ist damit gemeint, dass Blockupy im Nachhinein, mit der unbeantworteten Unterwerfung Syrizas gescheitert ist. Was aber bedeutete das eigentlich? Der großartige Erfolg einer stabilen, interventionsorientierten, »undogmatischen« linksradikalen Organisierung in der BRD stand plötzlich auf dem Spiel. Heiligendamm lag ebenso wie Blockupy hinter uns. Wie also weiter? Auch, wenn es viele vielleicht gar nicht bemerkt haben, ging es in der iL seitdem darum, wie man der Erfahrung von Heiligendamm etc. treu bleiben kann, obwohl zugleich deutlich war, dass diese Erfahrung hinter uns lag und eine solche ähnliche, zukünftige Erfahrung (Ereignis) gar nicht zu erwarten war.

Die Möglichkeit eines Ereignisses
Wir leben seitdem nicht im Moment des Ereignisses. Ein Ereignis ist mit Badiou ein politischer Moment, der jedes Gesetz unterbricht, die Wahrheit aus einem kommunitären, partikularen Raum herausbricht und damit eine Gleichheitsprozedur ermöglicht. Vielleicht etwas einfacher formuliert: »Emanzipatorische Politik wird immer jenseits der Identität gemacht, indem sie beweist, dass sie für alle Identitäten funktioniert!« Nebenbei also: Aufgabe einer Linken wäre die Organisation der Unterbrechung des Gesetzes, das genau das verunmöglicht. Wir leben als iL, als radikale Linke sicherlich in einer Zeit, die das Ereignis im Rücken hat, und in der sich kaum etwas Neues abzeichnet, bzw. noch nicht sichtbar ist. Oder in der das Neue maximal eine neue Ordnung, sei sie Schwarz-Grün oder Rot-(Gelb-)Grün, aber keine Ermöglichung von Gleichheit sein wird.

In einer solchen Zeit – und das ist nichts Neues für eine Linke – geht es eben darum, sich so zu organisieren, dass die Hoffnung auf ein zukünftiges Ereignis (möglicherweise sogar die Revolution) bewahrt bleibt. Wir jedenfalls leben in einer Zeit, in der die Treue zum Ereignis (zu seiner Möglichkeit) und zu seinem »Stattgefundenhaben« organisiert werden muss. Das erklärt die Frage, warum es richtig ist, sich zu organisieren.

Es gibt in der Geschichte der kommunistischen Kämpfe (und vielleicht darüber hinaus) verschiedene Gründe, sich zu organisieren: weil man sich im Kampf befindet (Guerilla); weil man den Sieg organisieren muss (Bolschewiki); weil man in einer Situation des politischen Unterlegen-Seins die Möglichkeit des Sieges bewahren muss (iL).

Wir leben in einer Situation, in der die Erinnerung an die Möglichkeit eines Ereignisses und die Hoffnung darauf, das wiederum ein Ereignis stattfinden kann, bewahrt, tradiert und organisiert werden muss. Badiou nennt das mit einem schönen alten Begriff »Treue«. Aber wie geht das eigentlich, die Treue im Modus ihrer Krise, die Treue im Modus ihrer Erschöpfung zu organisieren? Dort, wo doch eigentlich erst ihre Bewährung aussteht, weil kein kommendes Ereignis den Horizont erhellt? Wir haben darauf nicht wirklich eine Antwort. Aber zwei Dinge sind offensichtlich:

Ich glaube erstens, dass der iL das Bewusstsein für ihre eigene historische Situation verloren gegangen ist. Das sie keine Einsicht darin hat, wo sie sich im Verlauf der Kämpfe befindet. Ja, ich befürchte sogar, dass viele gar keine Einsicht mehr haben, dass sie überhaupt in einer Geschichte leben, und deshalb auch das Bewusstsein von der Wahrheit der Möglichkeit eines Ereignisses (Revolution, Intervention, Unterbrechung des Gesetzes etc.) verloren hat. Die Verwaltung und Bewahrung einer Wahrheit aber in einer Situation, in der die Wahrheit längst verloren und aufgegeben ist, ist überflüssige »Kackscheiße«, um einmal einen großmäuligen Spruch von uns gegen uns zu wenden.

Und zweitens habe ich den Eindruck, dass sich die iL in einem fast notwendigen Widerspruch befindet, und damit das Schicksal vieler kommunistischer Parteien teilt, denen sie doch eine »Partei neuen Typs« entgegenstellen wollte. Die iL verkommt zu einer parteiförmigen Organisation, die ihre Aufgabe fast nur noch in der Verwaltung der Wahrheit im Moment der politischen Stagnation, der Krise und des Rückschritts sieht. Die »Verwaltung der Wahrheit« kann durchaus ihren Sinn haben. Letztens wurde ich gefragt: »Wie stehts bei euch in der iL?« und musste zugeben, dass ich die Situation für nicht allzu gut hielte. Die Antwort: »Oh Gott, jetzt ihr nicht auch noch!«

Die fehlende Reflexion und Bearbeitung
Aber wenn nur noch verwaltet wird? Die iL hat längst einen Anspruch auf Wahrheit verloren und droht im Moment an der nackten Verwaltung daran zu scheitern, wo vor ihr eben auch schon viele andere kommunistischen Parteien und Bewegungen gescheitert sind. Badiou nennt das den schon fast notwendigen inneren Verrat. Er sagt das im Bild der Entwicklung der Kirche: »Eine Heiligkeit kann sich nur schützen, wenn sie aus sich in aller erforderlichen Härte eine Kirche schafft. Aber diese Kirche macht aus der Heiligkeit ein Priestertum: Der Schutz vor der Korruption durch die Geschichte wird selbst zum Verrat an der Heiligkeit: die fast notwendige innere Bewegung des Verrats.«

Will sagen: Wir versuchen, unsere Organisation zu schützen und zu stärken und verfallen in den Aufbau eines wie oben beschriebenen Apparates mit Zentralkomitee, noch schlimmer mit informellen Hierarchien, mit Formalismen, mit Schlichtungskomitees, mit dogmatischen »Eine-Gruppe-vor-Ort-Gesetzen«, die uns das scheinbare Gefühl von Sicherheit und Ordnung suggerieren. Wir verfallen in den Fehler des Aufbaus einer Kirche, einer Partei, die selbst zum Verrat an der Sache wird. Nur mit dem Effekt eines zunehmenden Zerfallsprozesses, der nicht 2000 Jahre wie in den Kirchen, nicht 200 Jahre wie bei der Kommunistischen Partei, sondern gerade einmal 20 Jahre währt. Dieser notwendige Widerspruch bzw. Prozess an sich ist nicht das Problem, sondern wird erst zum Problem, wenn er nicht reflektiert und bearbeitet wird. Dann erst tritt der aktuelle Zerfallsprozess ein.

Nach Heiligendamm ist vor Heilgendamm. Oder anders herum: Wir haben damals die Frage nach der Organisierung Neuen Typs nicht beantworten können. Und weil sie auch in den letzten Jahren nicht gestellt, bzw. im Sinne des »fast notwendigen Verrats« von Badiou beantwortet wurde, ist die iL Geschichte. Was nicht heißt, das sie verschwinden wird. Aber dass sie vielleicht immer weiter zu einer NGO, zu einer Event- und Politikberatungsagentur oder zu einem rosaroten Campact mutieren wird.

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