Neoliberaler Aufstand in Nicaragua

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Seit vergangenen Mittwoch gehen in #Nicaragua militante Protestierende und die Opposition gegen die sozialdemokratische FSLN-Regierung auf die Straße. Doch was ist der politische Hintergrund der Proteste im mittelamerikanischen Land? Unser Redakteur Jan Schwab erklärt, warum die Proteste im Land genau jetzt ausbrechen. Seine Einschätzung: Der rebellische Schein trügt. Bei den Militanten und den oppositionellen Parteien handelt es sich um AnhängerInnen der US-Anbindung und eines neoliberalen Programms - bei aller berechtigten Kritik an der repressiven Ortega-Regierung.

Seit Mitte April brennen Nicaraguas Straßen. Anlass der anhaltenden gewaltsamen Proteste im ganzen Land ist eine jüngst von der sandinistischen Ortega-Regierung dekretierte Renten- und Sozialreform. In Nicaragua ist das Sozialversicherungs- und Rentensystem so organisiert, dass ArbeiterInnen, UnternehmerInnen und der Staat jeweils Teile des allgemeinen Sozialhaushalts finanzieren. Das Dekret, das das Gesetz 975 betrifft, in dem unter anderem der Sozialhaushalt und das Rentensystem gesetzlich gefasst sind, sieht nun eine Steigerung der Sozialabgaben aller drei Partien sowie eine Kürzung der Renten vor. So sollen in Zukunft RentnerInnen 5 Prozent ihrer Rente an den Staat abgeben, dafür jedoch leichter Zugang zur Gesundheitsversorgung erhalten. ArbeiterInnen müssen 0,75 Prozent, UnternehmerInnen ab Juli 2018 5 Prozent, und dann in Staffelung bis 2020 weitere 1,5 Prozent mehr für Invalidenrente, Arbeitsschutz, Mutterschaftszuschuss, Arbeitsunfähigkeitsfälle und Rente zahlen. Die Anpassung erfolgt, da das Sozialsystem Nicaraguas mit 75 Millionen US-Dollar in der Kreide steht und droht, in den kommenden Jahren Bankrott zu gehen. Berichte in zahlreichen Zeitungen über eine allgemeine Abgabe mit signifikanten Erhöhungen für alle Bevölkerungsteile, entsprechen nicht der gesetzlichen Realität, die ein progressives Beitragssystem vorsieht.

Das Gesetz 975 wird faktisch alle zwei Jahre neu aufgelegt. Dieses Mal verhandelte die sozialdemokratische Ortega-Regierung mit dem Consejo Superior de la Empresa Privada (Rat der UnternehmerInnen, COSEP) das gesamte Jahr 2017 über eine mögliche Reform der Sozialleistungs-Institution Instituto Nicaragüense de Seguridad Social (INSS). Die UnternehmerInnen, inklusive der neoliberalen Opposition um die größte Oppositionspartei Partido Liberal Constitucionalista (PLC) und die Frente Amplio por la Democracia (FAD), waren dabei ganz auf Linie mit dem Internationalen Währungsfond (IMF), welcher der Ortega-Regierung nach einer Inspektion im Januar diesen Jahres eine Anhebung des Rentenalters oder der Mindestarbeitsjahre zum Erhalt von Rente empfahl. Alternativ könne auch die Rente gekürzt werden. Es scheint so, als habe sich die Ortega-Regierung für letztere Option entschieden, bei Beibehaltung von Rentenalter und Mindestarbeitszeit, und zwar ohne Einverständnis mit dem nicaraguanischen UnternehmerInnenverband COSEP zu suchen. Dieser hatte sich nach dem Dekret durch Daniel Ortega am vergangenen Montag beklagt, dass die Ortega-Regierung mit ihrer einseitigen Maßnahme die Kultur des ,,Dialogs und Konsenses“ aufgekündigt habe und zu Demonstrationen aufgerufen. Die im COSEP organisierte Industriekammer Nicaraguas (CADIN) und die Handels und Dienstleistungskammer (CCSN) beschwerten sich ebenfalls über die Maßnahme: Sie koste Arbeitsplätze und werde den informellen Arbeitssektor ausweiten, da die Wettbewerbsfähigkeit nicaraguanischer UnternehmerInnen sinke.

Führend in den von Anbeginn an gewaltsam verlaufenden Protesten sind jedoch weniger die RentnerInnen, deren Vertretung, die Unión del Adulto Mayor, sich trotz vorangegangenen Protesten im Februar 2018 an die Seite der Regierung stellte, sondern die Studierenden und Gewerbetreibenden. Am vergangenen Mittwoch nahmen die Ausschreitungen an der Universität in der Hauptstadt Managua ihren Ausgang, weiteten sich jedoch in den vergangenen Tagen auf das ganze Land aus. Während die StudentInnen etwa in Leon, Managua und Granada öffentliche Gebäude brandschatzten und Straßenzüge zerstörten, landesweit Barrikaden errichteten und sich Straßenschlachten mit den Antimotiles-Einheiten der Polizei lieferten, gingen letztere mit voller Härte gegen die Aufständischen vor. Gesichert ist hier, dass es immer wieder zu schweren Übergriffen und Verschleppungen durch die Sicherheitskräfte kam. Auch kam es, wie in Videoaufnahmen rechter Medien zu sehen ist, zu schweren Auseinandersetzungen zwischen der regierungstreuen Jugendorganisation Juventud Sandinista und militanten Protestierenden. Die bestätigte Bilanz seit vergangenem Mittwoch (je nach Medium): Zwischen vier (regierungsnah) und 30 Toten (rechte Opposition), sowie zwischen 40 und 80 schweren Verletzten, darunter Protestierende sowie PolizistInnen. Der Journalist Ángel Gahona des Canal 6, der die Ausschreitungen an der Karibikküste live aufzeichnen wollte, wurde entweder von bewaffneten Protestierenden oder durch Schüsse der Aufstandsbekämpfung mit einem Kopfschuss getötet. Die Opposition spricht außerdem von 40 Verschwundenen. Zur Stunde gibt es hierzu allerdings noch keine unparteiische Bestätigung. Angesichts der Todeszahlen äußerte die UNO unterdessen Besorgnis und forderte Präsident Ortega auf, die Meinungsfreiheit zu garantieren und die Antimotiles-Einheiten zurückzurufen. Ortega schickte zum Freitag das Militär auf die Straße. Die USA und Costa Rica sprachen angesichts des Gewaltszenarios Reisewarnungen aus.

Die vorgeblich selbstorganisierten Studierenden erhielten recht schnell Rückendeckung durch die neoliberale Opposition im Land, die nun auch mit Kundgebungen landesweit Präsenz zeigt und eine angebliche „Diktatur“ im Land anprangert. So sprach das Oppositionsbündnis FAD seine Solidarität mit den UnternehmerInnen aus: ,,Unsere Solidarität mit den Händlern, kleinen, mittleren und großen Unternehmern, denen Geschäfte für ihr Überleben gehören. In diesem Moment müssen wir vereint sein, um das Ende der Tyrannei in Nicaragua zu erreichen“. Die größte Oppositionspartei Partido Liberal Constitucional teilt auf ihrem Facebook-Account sämtliche Videos, auf denen jugendliche Militante ganze Straßenzüge kaputtschlagen – kommentarlos. Auch die neue Rechtspartei Ciudadanos por la libertad ruft zu Protesten auf. Während all diese Gruppen mehr oder weniger Distanz zu den jugendlichen Militanten zeigen – so werden diese durchgängig als ,,selbstorganisiert‘‘ und ,,parteiunabhängig‘‘ bezeichnet – ist angesichts des Organisationsgrads der Proteste relativ klar, dass es sich zumindest bei den InitiatorInnen um Organisierte, bzw. AnhängerInnen der Oppositionsparteien handelt. Derweil kursiert in den sozialen Medien die Behauptung, die Ortega-Regierung würde Fernsehkanäle und Medien zensieren, was nicht der Fall ist. Zur Stunde sind sämtliche rechten Zeitungen und TV Kanäle im Internet erreichbar und die Oppositionskanäle geöffnet. Die Opposition ruft für jeden einsehbar am Montag landesweit zu neuen Protesten auf. Ortega kündigte zum Sonntagabend an, er werde die Gesetzesnovelle neu verhandeln lassen.

Die Novelle der Sozialgesetzgebung ist ihrem Charakter nach ein ganz pragmatisches Kompromissgesetz zwischen den Klasseninteressen, mit stärkerer Inanspruchnahme der UnternehmerInnenseite, und als solches typisch für die FSLN-Regierung. Die ehemalige Guerilla und heute regierende Partei Frente Sandinista de Liberación Nacional (Sandinistische Nationale Befreiungsfront) verfolgt seit ihrer Wiederwahl an die Macht 2006 ein sozialdemokratisches, auf Klassenausgleich ausgerichtetes Projekt nach Innen, sowie eine Unterstützung des venezuelanischen, antiimperialistischen ALBA-Projekts und eine Anlehnung an die russische Außenpolitik nach Außen. Es handelt sich also mitnichten um ein Anknüpfen an die historische revolutionäre Junta der 1970er und 1980er Jahre. Es ist kein genuin sozialistisches Gesellschaftsprojekt, auch wenn die Regierung eine solche Rhetorik an den Tag legt und sich mit der Tradition der sandinistischen Revolution schmückt. Die Anlehnung an den russischen, anti-US-amerikanischen Block der Weltpolitik äußerte sich in der Vergangenheit unter anderem in Vereinbarungen zur Militärkooperation sowie der Installation einer russischen Militärbasis nahe Managua. Auch sprach sich die Ortega-Regierung immer wieder für die, ihrem Charakter stark ähnelnde, Regierung von Nicolas Maduro in Venezuela aus. Es ist also klar, dass die Außenpolitik Nicaraguas in scharfem Gegensatz zu US-Interessen im Land steht. Eine Unterstützung der neoliberalen Opposition ist daher ebenso wie ein mögliches Regime-Change-Szenario, wie es die FSLN-Regierung in ihren Statements zu den Protesten andeutet, nicht unwahrscheinlich, kann zur Stunde jedoch nicht abschließend belegt werden.

Nach Innen hin kann konstatiert werden, dass Nicaragua trotz seiner relativen Armut nicht über vergleichbare soziale Probleme verfügt wie etwa die Nachbarländer Honduras oder Guatemala. Die FSLN sorgte in ihrer Regierungsperiode mit Sozialprogrammen (etwa ,,Hambre Cero“, ,,Casas para el Pueblo“ oder ,,Plan Techo“) für eine gewisse soziale Sicherheit der Mehrheit der nicaraguanischen BürgerInnen. In dieser Zeit nahm die Armut immerhin von 42 Prozent auf 29 Prozent ab. Die extreme Armut reduzierte sich von 14,6 auf 8,3 Prozent. Weiterhin baute die Regierung den Tourismus und die Infrastruktur aus. Gleichzeitig ist sie berühmt-berüchtigt und umstritten für ihre Korruptionsskandale, Wahlirregularitäten und für die Illegalisierung von Abtreibungen. Für internationalen Spott sorgte z.B. auch die umstrittene Maßnahme Ortegas, seine Frau Rosario Morillo ins Vizepräsidentenamt zu hieven – ganz zu schweigen von den Missbrauchsvorwürfen seiner, inzwischen in Costa Rica lebenden, Stieftochter Zoilamérica Narváez Murillo. Die FSLN nutzt gerne den Slogan ,,Cristiano, Socialista y Solidario“, konkrete Schritte in Richtung sozialistischer Wirtschaft oder Ausweitung der Demokratie wurden hingegen nie unternommen. Die Vokabel Sozialismus wird eben eher für ein sozialdemokratisches Umverteilungsprogramm, den Klassenkompromiss und die Sozialprogramme genutzt, bei gleichzeitiger Refinanzierung nicht nur via Russland und China, sondern eben auch durch den IMF und in der Vergangenheit die USA. Statt dem Anknüpfen an das historische sozialistische Projekt, an dem Ortega und Morillo direkt beteiligt waren, wurde sich in der zweiten Regierungsperiode der FSLN mit der nationalen Bourgeoisie auf ein fragiles nationales Bündnis geeinigt, das nun offenbar in die Krise geraten ist. In den Protesten drücken sich so einerseits das Interesse der an einem neoliberalen Wirtschaftsprogramm orientierten Klassen, andererseits eine generelle Unzufriedenheit mit der zuweilen repressiven FSLN-Politik unter liberalen Intellektuellen aus.

Regierung und Opposition in Nicaragua sind so gesehen die Wahl zwischen sozialpartnerschaftlichem, regulierten Kapitalismus mit Demokratiedefizit einerseits und enthemmter neoliberaler Doktrin mit Demokratiedefizit andererseits; Orientierung an einer vergleichsweise souveränen nationalen Entwicklung mit Anlehnung an die russische Außenpolitik einerseits oder US-amerikanischer Neo-Kolonialismus andererseits. Die Situation ähnelt so in vielerlei Hinsicht jener in Venezuela, in der das einstmals hoffnungsvolle Projekt Chavez‘ für den Kapitalismus offensichtlich zu weit, und für den Sozialismus nicht weit genug ging. Die sozialpartnerschaftliche und korrupte Ortega-Regierung muss in vielerlei Hinsicht von links kritisiert werden und ist sicher keine Regierung, die auf Teufel komm raus zu verteidigen ist. Ganz im Gegenteil ist zu hoffen, dass sich die Kräfte links von Ortega in Zukunft eigenständig organisieren und in der Lage sein werden, den Sandinismus wieder nach links zu drücken. Die derzeitige nicaraguanische Opposition ist demgegenüber jedoch, bei allem zur Schau gestellten demonstrativen Rebellentum, in etwa so progressiv zu bewerten wie eine FDP, deren ,,Yellow Block“ auf der Straße randaliert und öffentliche Gebäude anzündet.

Für uns als Linke ist in diesem Moment die Frage entscheidend: Welche Kraft unterstützt vergleichsweise das Anliegen  der ArbeiterInnen und der Armen in Nicaragua? Und so lässt sich trotz legitimer Bauchschmerzen derzeit sicher nur eine Antwort geben. Eine sozialdemokratische Ortega-Regierung ist für die arbeitende Klasse in Nicaragua zu jedem Zeitpunkt einem neoliberalen, zumeist erfahrungsgemäß nicht minder autoritären, Verarmungsregime unter Führung der USA vorzuziehen. Nur weil die neoliberale Rechte sich, wie in Venezuela, Ausdrucksformen des militanten sozialen Protests zu eigen macht, ändert das nichts an ihrer grundsätzlich arbeiterInnenfeindlichen politischen Ausrichtung. Wenn es nach ihr ginge, würden die Renten nicht um 5 Prozent gekürzt, sondern das INSS privatisiert. Die gesellschaftliche Alternative eines solchen Modells von Nicaragua zeigt sich in Honduras und Guatemala, in denen jeweils aufgrund der jahrelangen neoliberalen Verarmungspolitik der Herrschenden die Mehrheit der Menschen in Armut und abseits von Zugang zu Gesundheits- und Sozialhilfe leben muss. Ortegas Regierung garantiert demgegenüber, bei all ihren politischen und ökonomischen Defiziten, zumindest ein Mindestmaß an Stabilität und sozialer Sicherheit für die weniger wohlhabenden Teile der nicaraguanischen Gesellschaft.

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