Nachbereitungspapier des Selber-Machen-Kongresses 2017

 

Liebe Genoss*innen, liebe Freund*innen,

zu Ende des Selber-Machen-Kongresses in Berlin ist unter Gruppen des Vorbereitungskreises die Idee entstanden, im Nachgang der Konferenz ein Papier zu veröffentlichen. Die Idee war es, die Diskussionsstränge, die in Berlin, aber auch in der vorherigen Strategiedebatte aufgekommen sind, zusammenzufassen, um eine Grundlage für eine weitergehende überregionale Diskussion und Bezugnahme zu schaffen. Dieser Prozess hat nun lange gedauert und der Kongress ist eine Weile her. Trotzdem halten wir den Text weiterhin für eine Art 'Ergebnis' bzw. Zwischenstand der überregionalen Diskussion und daher wichtig für unsere weitergehende Arbeit. Wir hoffen darauf, dass er Fragen benennt, vor denen ihr auch in eurer Praxis oder in Diskussionen steht und dass deren Beantwortung uns in der Entwicklung von Basisarbeit und überregionaler Organisierung einen Schritt weiter bringt.

 

 

Wie kam es zum Kongress? Was war der Hintergrund?

 

Im Frühjahr 2017 fanden sich an die 600 Menschen in Berlin zusammen, um unter dem Titel 'Selber Machen' über Basisorganisierung, Gegenmacht und Autonomie zu diskutieren. Der im Bethanien stattfindende Kongress sollte an die Strategiedebatte in der radikalen Linken anschließen, die seit einigen Jahren wieder verstärkt geführt wird, und diese weiterführen. Der vorliegende Text soll dazu dienen, die Diskussionsstränge, Kontroversen und offenen Fragen, die auf der Konferenz deutlich wurden, nachzuzeichnen. Dies erachten wir für sinnvoll, da so Positionen besser eingeordnet werden können. Dabei geht es uns nicht darum, sich selbst oder uns gegenseitig in Schubladen zu stecken. Vielmehr soll der Text ermöglichen, dass wir uns im Diskussionsprozess besser verstehen und Gemeinsamkeiten wie auch Unterschiede herausstellen können. Denn oft sprechen wir miteinander, benutzen die gleichen Begriffe und merken erst mit der Zeit, dass wir Unterschiedliches meinen. Zudem soll dieser Text dazu anregen, auch über überregionale Konferenzen hinaus die Diskussion weiterzuführen, die eigene Praxis zu reflektieren und strategische Überlegungen miteinander zu teilen.

 Wir verstehen diesen Text auch als einen Aufruf an Gruppen, die sich mit ähnlichen Gedanken rund um Selbstorganisation und Basisarbeit als Möglichkeit eines gesellschaftlichen Wandels beschäftigen, auf die aufgeworfenen Fragen zu antworten oder Diskussionsstände und Erfahrungen aus der Praxis zu teilen

Vor allem 2012 oder 2013 hat ein Nachdenken über die bisherige Praxis der radikalen Linken begonnen – gespeist aus einem Gefühl der Wirkungslosigkeit, während es immer drängender wurde, politische Wirkung zu haben. Kampagnen und Events wie M31, Blockupy oder die Rojava-Solibewegung haben eine produktive Irritation über die eigene Praxis ausgelöst und die Fragen in den Raum gestellt, ob das, was man da macht, wirklich etwas bringt, oder ob man nicht ganz anders arbeiten müsste. Dieses Nachdenken hat in ziemlich unterschiedlichen Zusammenhängen und an vielen Orten unabhängig voneinander stattgefunden. In Teilen der radikalen Linken kam es zu Anfängen einer neuen Praxis der Basisarbeit, andererseits widmeten sich Gruppen der Debatte in Form von Strategietexten.

 Die Debatte beginnt zunächst mit der Problemwahrnehmung bezüglich der aktuellen Praxis der radikalen Linken. Eine effektive Gegenmacht gegen die autoritäre Krisenpolitik, wie die Troika-Diktate und gegen den globalen Aufschwung von Faschist*innen wird immer drängender. Gleichzeitig wird deutlich, dass diese Gegenmacht jedenfalls in der BRD nirgends zu sehen ist und die Praxis der radikalen Linken gegen die derzeitigen Tendenzen ziemlich hilf- und ratlos ist.

Ziel des Kongresses war es, einen Rahmen zu bieten, in dem Erfahrungen ausgetauscht werden können und über Perspektiven, Strategien und Methoden diskutiert werden kann. Es sollte ausdrücklich ein Ort geschaffen werden, „an dem Impulse für die langwierigen Aufbauprozesse zustande kommen, denen wir alle uns in den kommenden Jahren widmen werden müssen – wenn wir gegen Staat, Kapital und reaktionäre Krisenlösungsstrategien wirkliche Alternativen von links zur Debatte stellen wollen.“ Dabei stand die Perspektive der Selbstorganisation von unten und in allen Lebensbereichen im Vordergrund. Hierzu deckten Workshops zahlreichen 'Themengebiete' ab, von Selbstorganisation und kollektivem Kampf im lokalen Autonomen Zentrum, auf der Arbeit, im Stadtteil, in der Fankurve, als Frauen* oder PoC. So sollte ein Überblick geschaffen werden, an welchen Orten bereits Selbstorganisierungsprozesse stattfinden und Möglichkeiten diskutiert werden, wie diese Fäden zusammenzubringen sind – auch damit an anderen Orten selbstorganisierte Strukturen aufgebaut werden können, mit dem Ziel des Aufbaus einer wirkmächtigen Gegenmacht.

Ein gemeinsames Verständnis der Begriffe „Autonomie, Basisorganisierung und Gegenmacht“ war nicht Ausgangspunkt der gemeinsamen Diskussion. Vielmehr wurden in den Gesprächen über die verschiedenen Praxen und die damit verbundenen Ziele unterschiedliche Perspektiven deutlich. Die genannten Begriffe sind zunächst einmal überzeugend, weil es darum gehen soll, Gesellschaft 'von unten', also von der Basis aus zu gestalten. Weil die Menschen ihre Angelegenheiten selbst in die Hand nehmen sollen. Allerdings schwingen verschiedene Bedeutungen in den Begriffen mit, an denen somit auch verschiedene Kontroversen während der Konferenz verliefen.

 

 

Kontroversen in den Diskussionen

In den Diskussionen auf der Konferenz lassen sich verschiedene Kontroversen nachzeichnen, die hier zum Teil vereinfacht als gegensätzlich beschrieben werden. Die Positionen sind in den Diskussionen nicht immer trennscharf voneinander abzuheben, bewegen sich aber zwischen den hier beschriebenen Polen. Wir glauben, dass anhand dieser Pole versucht werden kann, die eigenen politischen Praxen und die dahinter stehenden Strategien einzuordnen. Wir halten es für wichtig, in einen Diskussionsprozess zu gehen, der danach fragt, ob und wie diese unterschiedlichen Ansätze im Hinblick auf eine gesamtgesellschaftliche Perspektive strategisch miteinander verbunden werden können.

 

 

Wer ist das Subjekt der Selbstorganisierung und welche Rolle hat die radikale Linke darin?

Auf der Konferenz kamen Gruppen zusammen, die Basisarbeit und Selbstorganisierung als strategische Notwendigkeit für Gesellschaftsveränderung betrachten. Den Hintergrund für eine Vielzahl von Kontroversen bildet die Frage nach dem Subjekt der Selbstorganisierung und der Rolle der radikalen Linken dabei. Je nach politischem Ansatz wird diese Frage verschieden beantwortet und es ergeben sich unterschiedliche Schlussfolgerungen und Standpunkte in Bezug auf Themen wie Organisierung, Analyse gesellschaftlicher Bedingungen, Strategieentwicklung und Inhalt der Praxis. Dies wurde etwa bei der Abschlussdiskussion deutlich, bei der darüber diskutiert wurde, ob der Inhalt unserer politischen Arbeit unsere eigene Selbstorganisierung oder darüber hinaus auch die Initiierung der Selbstorganisierung anderer sein sollte.

 

Selbstorganisierung verstanden als die Selbstorganisierung der radikalen Linken als Subjekt

Einer der Ansätze versteht unter Selbstorganisierung die Selbstorganisierung der radikalen Linken als primäres Subjekt der gesellschaftlichen Veränderung. Innerhalb dessen lassen sich wiederum verschiedene Ausprägungen voneinander abheben, die im Folgenden unter den Begriffen Politisierung des eigenen Alltags, subkulturelle Ausrichtung und autonome Alltagsstrukturen beschrieben werden. Auch hier gilt wieder, wie bereits oben erklärt, dass die Ansätze nicht gegeneinander stehen müssen, sondern hier nur für die Vereinfachung einer Verortung verschiedener Praxen so trennscharf dargelegt werden.

Der Ansatz, der die Politisierung des eigenen Alltags von radikalen Linken in den Vordergrund stellt, kritisiert linksradikale Szenen- und Kampagnenpolitik mit der Forderung, im eigenen Alltag anzusetzen: dort, wo wir leben und arbeiten. Der Alltag soll politisiert werden, der*die Linksradikale selber als politisches Subjekt verstanden werden, welches sich entlang der eigenen Betroffenheiten (Amt, Miete, Arbeit, Kinderbetreuung, Bildung, etc.) organisiert. Der Schwerpunkt wird auf die soziale Frage gelegt und die Politisierung des eigenen Alltags als strategisches Ziel gesehen. Organisierung mit anderen soll da stattfinden, wo ich arbeite, wo ich wohne, Reproduktionsarbeit machen, etc.

Dabei war eine wichtige Frage, wie eine solche Organisierung im Reproduktionsbereich aussehen kann. Eine Praxis, die andere Menschen politisieren und organisieren will, wurde in dieser Argumentation häufig abgelehnt und als autoritär, instrumentalisierend, manipulativ, elitär, etc. kritisiert. Da es aber auch gegenteilige Meinungen gab, bleibt die Frage zu klären, ob und wie eine gezielte Politisierung anderer aus solchen 'eigenen' linksradikalen Alltagsstrukturen stattfinden kann bzw. sollte.

 

Die subkulturelle Ausrichtung einer Selbstorganisation der radikalen Linken zeichnet sich in erster Linie durch die Schaffung und Aufrechterhaltung von Szenestrukturen aus. So sollen etwa autonome/selbstverwaltete Zentren Räume darstellen, die einen Rückzug ermöglichen und Sicherheit und Schutz vor gesellschaftlicher Diskriminierungs- und Unterdrückungsmechanismen bieten. Das Pflegen einer linksradikalen (je nach subkultureller Ausrichtung verschieden ausgeprägten) Kultur und Ästhetik in Form von Konzerten, Veranstaltungen, Symbolen und Farbgebungen wird als wichtiger Teil einer Selbstbestärkung betrachtet, die notwendig ist, um die eigene Radikalität nicht zu verlieren. Diese subkulturelle Form des Selbstorganisierungsansatzes ist in der Regel verbunden mit weitverbreiteten Praxisansätzen wie Demos, Kampagnen, Infoveranstaltungen und autonomen Kleingruppen.

 

Der letzte Ansatz versteht unter Selbstorganisierung vorwiegend den Aufbau von autonom-verwalteten Alltagsstrukturen. Bei diesem Ansatz geht es darum, alternative Strukturen zu entwickeln und auszubauen, die nach eigenen Prinzipien funktionieren und die sich potenziell zusammenschließen können, um so ein Netzwerk der Autonomie aufzubauen. Im Unterschied zur Politisierung des eigenen Alltags geht es hierbei nicht um die Selbstorganisierung am Arbeitsplatz oder im Mietshaus, die zum Beispiel zu Streiks oder Mieter*innenprotesten führen, sondern um die Schaffung von eigenen parallelen und nachhaltigen Alltagsstrukturen, wie Kommunen, solidarische (Land-)Wirtschaft, Kollektivbetrieben, Gesundheit, etc.

 

Bei allen drei hier dargelegten Ausprägungen, die sich unter dem Verständnis von Selbstorganisation als Selbstorganisation der radikalen Linken vereinen, stellt sich die Frage, wie aus dem Aufbau subkultureller und/oder autonomer Strukturen eine gesamtgesellschaftliche Perspektive entstehen kann. Teilweise war die Antwort darauf, dass der langsame Aufbau und die Verbindung von autonomen Strukturen eine Strahlkraft entwickelt, die auf weitere Teile der gesellschaftlichen Basis wirkt. Jedoch blieb die Frage, wie vermieden werden kann, dass autonome Strukturen mit dem Kapitalismus gut 'koexistieren' oder zu isolierten Aussteiger*innen-Inseln werden.

 Auf diese Ambivalenz wies John Holloway bereits in seinem Eröffnungsvortrag hin, indem er den Titel der Konferenz „Selber Machen“ einer kritischen Betrachtung unterzog. 'Do it yourself' könne verstanden werden als eine Art 'Aussteigen', um es dann einfach selber anders bzw. besser zu machen. Diese Praxis des 'do it yourself' könne auch mit dem Kapitalismus koexistieren, und führe nicht zwangsläufig dazu, eine gänzlich andere Gesellschaft aufzubauen. Als eine zweite Bedeutung sieht Holloway die Notwendigkeit dieses Prinzips der Selbstorganisierung bei der Verfolgung des Ziels, des Kapitalismus zu überwinden: Wer sollte das für uns tun, wenn nicht wir alle selbst? Dass wir aber selbst nicht wissen 'Wie?', führt uns zu der Notwendigkeit einer Politik des Dialogs, des Sich-Gemeinsam-Fragen-Stellens. Ein Auf-Menschen-Zugehen, um kollektive Lösungen zu finden, anstatt auszusteigen und sich in kleinen Projekten zu isolieren. Das 'do it yourself' werde in diesem Sinne mehr zu einem 'do it ourselves'.

 

Selbstorganisierung verstanden als die Selbstorganisierung der Gesellschaft

Der zweite Ansatz richtet den Fokus über die eigene Selbstorganisierung hinaus auf eine Politisierung und Organisierung anderer. Als Subjekt der Gesellschaftsveränderung und Selbstorganisierung wird hier die Mehrzahl derjenigen gesehen, die von diesem System unterdrückt werden, die noch nicht organisiert sind und noch keine Möglichkeit hatten, sich ein emanzipatorisches Bewusstsein anzueignen. Die Selbstorganisierung von unten ist somit strategisches Ziel und Inhalt der politischen Praxis. Hierbei wird nicht unbedingt im eigenen Alltag von Linksradikalen angesetzt, sondern dort, wo Potenziale zur Basisorganisierung gesehen werden. Dieser Ansatz ist verbunden mit einer Kritik an abstrakter Kampagnen- und Szenepolitik, sowie der Kritik, dass der Aufbau von selbstorganisierten, linksradikalen (Szene-)Strukturen die Gefahr birgt, sich weiter zu isolieren und den Abstand zur Gesellschaft zu vergrößern.

 

Gruppen, die die Selbstorganisierung der Gesellschaft anstoßen wollen, setzen entweder vorwiegend auf Interventionin bestehende Kämpfe und Konflikte und deren Verbindung bzw. Radikalisierung oder Ausweitung. So wird etwa danach gefragt, wo es Arbeitskämpfe gibt, die unterstützt oder in die interveniert werden könnte. Durch diese Interventionen sollen Selbstorganisierungsprozesse angestoßen, unterstützt und die Entwicklung eines emanzipatorischen politischen Bewusstseins ermöglicht werden. Beispiele aus der Praxis sind die Organisierung von Streik-Cafés, Vermittlung von Erfahrungen mit Gewerkschaften und Arbeitskämpfen, Öffentlichkeitsarbeit für Kämpfende oder die Verbindung mit Kämpfenden an anderen Orten.

 

Andere Gruppen setzen auf die Entwicklung von Basisarbeit unabhängig von dem Vorhandensein von bereits bestehenden Kämpfen, um die Bedingungen zur Entstehung von Kämpfen zu verbessern und Strukturen der Selbstorganisierung auszubauen. Dabei stehen sowohl Fragen zu den Bedingungen für die Entstehung von Selbstorganisierung im Vordergrund, als auch welche konkreten Methoden gebraucht werden, um Selbstorganisierungsprozesse innerhalb der Gesellschaft anzustoßen.

Dabei ist eine der grundlegenden Fragen, wie Paternalismus und das Abrutschen in reformistische Sozialarbeit vermieden werden kann. Wie können Menschen aus ihrer Passivität geholt werden und die Lücke der Beteiligung geschlossen werden, wenn alle immer so viel zu tun haben mit Lohnarbeit, Familie, etc.?

Bei der Bestimmung von potenziellen Orten, an denen Organisierungsprozesse angestoßen werden können, kam zudem die Frage auf, was für einen Einfluss die unterschiedlichen politischen und sozialen Rahmenbedingungen (z.B. ökonomische Krise; Auswirkungen der Troika in Griechenland und 'Krisenprofiteur' Deutschland; Privatisierung des Gesundheitssystem, etc.) auf die Selbstorganisierungsprozesse haben. Wie können Erfahrungen aus anderen Ländern auf hiesige Kontexte übertragen werden? Wie müssen wir die Analyse der politischen und sozialen Lage in unsere Überlegungen zur Selbstorganisierung miteinbeziehen?

 

 

Organisierung von revolutionären Kräften

Die unterschiedlichen Standpunkte zur Frage, wer sich für was selbstorganisiert und wie wir uns gesellschaftlichen Wandel vorstellen, beeinflusst auch die Frage, ob die Organisierung von revolutionären Kräften als eine Notwendigkeit gesehen wird. Als revolutionäre Kräfte bezeichnen wir hier in Abgrenzung zu reformistischen Gruppen diejenigen Gruppen, deren Ziel eine Überwindung der herrschenden Verhältnisse ist und die auch ihre politische Praxis dementsprechend ausrichten. In diesem Kapitel versuchen wir wieder schablonenhaft die verschiedenen Einstellungen zur Frage der Organisierung von revolutionären Kräften nachzuzeichnen.

 

Bei dem Ansatz der Selbstorganisierung verstanden als Selbstorganisierung der radikalen Linken liegt der strategische Fokus auf dem Aufbau von lokalen Projekten, Initiativen und einer lockeren Vernetzung dieser – mit dem Zweck des Skillaustauschs und der gegenseitigen Unterstützung. Viele eher autonome Gruppen kritisieren die Forderung nach einer verbindlichen überregionalen Organisierung, weil Organisierung oder eine revolutionäre Organisation mit Autorität, Hierarchie und Bevormundung gleichgesetzt wird. Auch wird von vielen eher szenebezogenen linksradikalen Gruppen eine Rolle als Initiativkraft, die gezielt Menschen ansprechen und Organisierungsprozesse anstoßen will, abgelehnt, weil diese ebenfalls als autoritär, bevormundend, instrumentalisierend oder manipulativ empfunden oder das revolutionäre Potenzial in der Gesellschaft infrage gestellt wird.

In Hinblick auf das Ziel eines gesamtgesellschaftlichen Wandels treten bei diesem Ansatz offene Fragen auf: Wie stellen wir uns die Ausweitung der Selbstorganisierung vor? Ist es eine sinnvolle Vorstellung, dass einzelne Projekte eine Strahlkraft entwickeln, die weitere Selbstorganisierungsprozesse anstößt? Also etwa Kollektivbetriebe oder Stadtteilorganisierungen mehr oder weniger automatisch aus einem gesellschaftlichen Prozess 'hervorgehen'? Was können wir dazu tun, damit diese 'Strahlkraft' entsteht, also wie können wir eine gegenöffentliche Vermittlung befördern?

 

Eine andere Perspektive auf die Frage nach der Organisierung von revolutionären Kräften ist eine eher sozialrevolutionäre Perspektive. Mit Verweis auf Beispiele der letzten Jahre wird davon ausgegangen, dass Massenaufstände und soziale Bewegungen bei entsprechenden Anlässen spontan entstehen, in denen die Rolle von organisierten revolutionären Kräften als marginal bis unbedeutend angesehen wird. In der Abschlussdiskussion wurde dies polemisch so formuliert, dass die Massenaufstände etwa in Ägypten oder Griechenland vor einigen Jahren ja nun auch nicht durch linksradikale Organisationen aus der Taufe gehoben worden seien, sondern durch ökonomische und politische Krisenprozesse entstanden. Und wir uns nicht einbilden sollten, durch unsere Basisarbeit einen deutschen Taxim oder Syntagma zu schaffen. Eine revolutionäre Organisierung oder Organisation mit dem Ziel, gesellschaftliche Bewegungen und Organisierung zu initiieren bzw. aufzubauen wird daher nicht als notwendig erachtet.

Hier müssen wir uns fragen: Kann es uns genügen, auf die notwendigen Kristallisationspunkte für eine Massenerhebung zu warten und deren Ausgang mehr oder weniger sich selbst zu überlassen? Glauben wir, dass aus Massenaufständen zwangsweise emanzipatorische Prozesse und letztlich ein gesellschaftlicher Wandel folgen? Was können wir hier aus den Beispielen der letzten Jahre lernen?

 

Zuletzt waren Gruppen oder Einzelpersonen vertreten, die eine Organisierung als Initiativkräfte als notwendig erachten, was verschieden begründet wurde. Zum einen ließe sich bei fast allen längerfristigen sozialen und revolutionären Erhebungen in der Vergangenheit (mit Verweis auf Spanien, Russland, Räterepublik BRD, Rojava, Chiapas) die entscheidende Bedeutung der Vorarbeit organisierter revolutionärer Kreise beobachten. Durch solche Arbeit sei es zwar nicht möglich, einen Zeitpunkt für einen Massenaufstand zu bestimmen oder als Führung einer Bewegung linear auf diesen zuzuarbeiten. Das Ziel sei vielmehr, die Bedingungen und Möglichkeiten zu verbessern, damit sich Menschen wehren, organisieren, sich ein politisches Bewusstsein aneignen und Widerstände somit nachhaltig werden. Zudem wird davon ausgegangen, dass die radikale Linke in Anbetracht des organisiert vorgehenden Systems des Kapitalismus (sowie verschiedenen anderen ebenfalls organisierten Gegner*innen wie Faschist*innen, Islamist*innen, etc.) eine Form der Organisierung finden muss, die verbindlich, nachhaltig und überregional funktioniert, um in der Lage zu sein, strategisch zu handeln. Fast überwiegend wurde die Auffassung geteilt, dass es sich hierbei weder um eine autoritäre zentralistische Organisation noch um den Aufbau einer Massenpartei handeln soll, sondern das Ziel einer solchen Arbeit sein sollte, selbstorganisierte Strukturen der Gesellschaft von unten zu initiieren bzw. aufzubauen.

Dieser Ansatz sieht als Ausgangspunkt eines revolutionären Prozesses gesellschaftliche Basisorganisierung, die von der radikalen Linken als Initiativkräfte angestoßen werden. Er richtet den Fokus über die eigene Selbstorganisierung auf eine Politisierung und Organisierung anderer, für deren Zweck sich die radikale Linke als Initiativkräfte organisieren muss.

Welche Form eine solche Organisierung annehmen soll, bleibt eine offene Frage: Wollen wir eine Organisation, Organisierung, Plattform oder Konföderation? Welche Konzepte stehen hinter diesen Begriffen? Gibt es eine gemeinsame Symbolik bzw. ein offenes Auftreten als Organisation oder geht es mehr um einen lockeren Prozess? Wie kann vermieden werden, dass ein bürokratischer Apparat entsteht? Wie kann vermieden werden, dass überregionale Organisierung lokale Praxis hemmt anstatt sie zu stärken? Brauchen wir eine gemeinsame Erzählung bzw. Ideologieproduktion, um auf ein gemeinsames Ziel hinzuarbeiten?

 

 

Bedingungen für Selbstorganisierung, revolutionäre Perspektive und konkrete Methoden

In der Diskussion um eine Neuausrichtung linksradikaler Praxis, in deren Zuge viele Gruppen ihren Fokus auf Basisarbeit und die Stärkung von Selbstorganisierungsprozessen der gesellschaftlichen Basis richten, stellen sich Fragen nach den Bedingungen für Selbstorganisierungsprozesse und der notwendigen Verbindung mit einer revolutionären Perspektive. Denn Basisarbeit und Selbstorganisierung stellen für sich genommen keine neuen politischen Praxisfelder dar und sind nicht per se linksradikal. Es existieren bereits ähnliche Projekte, die auch wir als Methoden der Basisarbeit anstreben, wie z.B. Stadtteilläden, die oft von Kirchen oder religiösen Verbänden getragen werden. Projekte basisdemokratischer Teilhabe gewinnen an Popularität, oft jedoch als Instrumente zur Legitimierung neoliberaler Stadtplanung oder Quartiersverwaltung. Aber auch in Nachbarschaften entstehen selbstorganisierte Strukturen, z.B. in Form von Bürgerinitiativen, die sich gegen Entwicklungen in ihrem Stadtteil organisieren.

Diese vorhandenen Strukturen bergen Chancen: wir können und sollten analysieren, unter welchen Bedingungen, an welchen Orten bzw. zu welchen Anlässen Projekte gesellschaftlicher Selbstorganisierung entstehen, um daraus die Möglichkeiten abzuleiten, eben solche Prozesse anstoßen und politisieren zu können. Gleichzeitig besteht die Gefahr, sich in die Bandbreite oft sozialarbeiterischer Tätigkeit einzureihen, letztlich 'ehrenamtlich' eigentlich staatliche Aufgaben zu übernehmen, dienlich zu sein für eine neoliberale Quartiersverwaltung und sich so in der lokalen Basisarbeit zu verlieren. Hier gilt es auch vor dem Hintergrund weiterer gesellschaftlicher Rahmenbedingungen zu prüfen, wo es in diesem System überhaupt Lücken für revolutionäre Selbstorganisierung und auch das Bedürfnis dazu gibt.

 

Eine Entwicklung, die sich auch in den Diskussionen auf der Konferenz beobachten ließ, ist die zunehmende Konzentration linksradikaler Akteure auf den Stadtteil als Ort der gesellschaftlichen Selbstorganisierung, während in der linken Geschichte mit dem Proletariat als revolutionärem Subjekt Organisierung lange als Organisierung gegen die Arbeit am Arbeitsplatz gedacht wurde. Während revolutionäre Organisierung von unten in Betrieben u.a. durch den starken Einfluss reformistischer Gewerkschaften und flexibilisierten Arbeitsplätzen erschwerten Bedingungen ausgesetzt sind, scheint mit der Idee, sich im Stadtteil zu organisieren, der Gedanke einherzugehen, dass gesellschaftliche Kämpfe in vielen Bereichen des Lebens stattfinden (Arbeit, Reproduktion, Miete, Diskriminierung). Der Stadtteil wird in dieser Folge als der Ort gesehen, an dem verschiedene Menschen in ihren unterschiedlichen Lebensrealitäten zusammenkommen. Der Stadtteil wird so zu einer Art Ausgangsort, um eine Organisierung von Arbeiter*innen, Arbeitslosen, Mieter*innen, usw. zu erreichen und unterschiedliche soziale Kämpfe zu verbinden. Von bisherigen revolutionären Erfahrungen – aktuell z.B. in Rojava – kommt zudem der Gedanke, dass der Kern einer selbstverwalteten Gesellschaft Räte auf der Ebene des Stadtteils sein werden, weshalb es sinnvoll erscheint, dort mit der Basisorganisierung zu beginnen.

Die Priorisierung des Kampffeldes Arbeit existiert also in ihrer klassisch linken Tradition nicht mehr, trotzdem stellt es im Kampf gegen den Kapitalismus und der Praxis einiger Gruppen eine zentrale Säule dar. Eine wichtige Frage ist daher, wie eine Verbindung von Stadtteilorganisierung und Organisierung in bzw. gegen die Lohnarbeit aussehen kann.

 

Den Punkt, der die hier beschriebenen Ansätze von sozialarbeiterischen oder reformistischen Ansätzen unterscheidet, sahen viele Teilnehmer*innen in der Politisierung von Menschen – teilweise auch konkreter: politischer Bildungsarbeit -, die mit entsprechenden Methoden der Basisarbeit einhergehen muss. Also ein Prozess, der neben dem Aufbau von organisierten Strukturen im Stadtteil Menschen auch die Möglichkeit bietet, ihre eigene Situation in Verbindung mit den gesellschaftlichen Ursachen zu bringen und daraus die Motivation zu entwickeln, kollektiv und emanzipatorisch gegen diese Ursachen zu kämpfen. Die Frage auf die die oben genannten Feststellungen hinauslaufen, lautet also: Wie können wir die lokalen, kollektiven und widerständischen Alltagspraxen, die bei konkreten Problemen in der Gesellschaft ansetzen, mit einer revolutionären Perspektive verbinden? Wie kann in der Lokalen eine gesamtgesellschaftliche Perspektive aufgezeigt werden? Was macht Basisarbeit revolutionär?

 

Die Diskussionen schlossen Debatten um Methoden und Praxen der Basisarbeit mit ein, die sowohl von politischer Bildungsarbeit handeln als auch von der dauerhaften Einbindung der Menschen und persönlichen Beziehungen: Wie schaffen wir es, im Gespräch mit den Menschen über ihre Alltagsprobleme konkret auf die Auswirkungen des Kapitalismus zu sprechen kommen? Wie schaffen wir es, konkrete Beziehungen zu den Leuten aufzubauen und wie müssen diese Beziehungen aussehen, die ja nicht nur reine Politbeziehungen sein können? Wie kann politische Bildungsarbeit emanzipatorisch und auf Augenhöhe in der Basisarbeit aussehen?

Erfahrungen, die diese Fragen relevant machen, sind z.B. eine Bürgerinitiative, die ihre Struktiuren nach einem erfolgreichen Kampf gegen Mieterhöhungen und Zwangsräumungen dazu nutze, gegen den Zuzug von Geflüchteten zu mobilisieren. Oder auch die Erfahrung von z.B. 'Zwangsräumung verhindern!', dass Menschen oft überhaupt nur dann kämpfen, wenn sie ein konkreter Anlass direkt betrifft, eine Organisierung und Politisierung darüber hinaus sich jedoch schwierig gestaltet. Von verschiedenen Teilnehmer*innen wurde hier die wichtige Rolle einer revolutionären Kultur stark gemacht, die durch die Kraft von Bildern und Symbolen, aber auch durch kulturelle Wärme in Form von Umgangsweisen, Musik, politischem Liedgut eine Kollektivität schaffen kann, die auch über einen konkreten Kampf hinaus 'zusammenschweißt'. An diesem Punkt wurde auch die Wichtigkeit einer konkreten Utopie betont, um gemeinsam ein langfristiges Ziel zu verfolgen, sowie das Verweisen-Können auf positive Beispiele und in diesem Zuge die Wichtigkeit einer internationalistischen Perspektive, um das Gefühl von Sinnlosigkeit und Hoffnungslosigkeit zu überwinden.

 

 

Schluss

Wir haben versucht, in diesem Text die Grundzüge der vielen Debatten einzuordnen, die auf der Konferenz geführt wurden und die wir als grundlegend für eine weitere Diskussion um linksradikale Strategie erachten. Natürlich kommen damit vermutlich viele Einzelheiten und wichtige Positionen, Beiträge, Diskussionen, usw. zu kurz. Wir stellen uns den Text als eine Art Grundgerüst vor, der mit der Einladung einhergeht, Kritik, eigene Positionen und Ziele der jeweiligen Praxis zu formulieren – an dem Geschriebenen hier, zu Diskussionen auf der Konferenz oder als Begründung oder Reflektion der eigenen Praxis und Strategie. Um so dieses Gerüst mit euren Inhalten und Erfahrungen aus der Praxis zu füllen. Dass viele Fragen auf der Konferenz und auch hier im Text nur angerissen werden konnten und offen bleiben, sehen wir auch als ein Zeichen eines positiven Suchprozesses innerhalb der radikalen Linken, den wir weiterführen sollten. Unser Wunsch ist es, solche strategischen Diskussionen auch außerhalb der 'großen Konferenzen', aber trotzdem durch überregionale Bezugnahme führen zu können. Wir denken, die schriftliche Form kann unsere persönlichen Begegnungen dahingehend ergänzen, ein tieferes Verständnis für die verschiedenen Praxen von anderen Gruppen zu bekommen und letztlich Diskussionen zu vereinfachen. Unsere (methodische) Trennung der verschiedenen Ansätze soll nicht zu einer Vertiefung der Gräben zwischen verschiedenen Gruppen führen. Vielmehr geht es uns darum, auch bei inhaltlichen Differenzen Verständnis zu entwicklen, Gemeinsamkeiten zu finden und eine mögliche strategische Verbindung verschiedener Ansätze zu diskutieren. In knackig aus der Auswertung des Kongresses:

 

„Also skizziert eure Diskussionen, veröffentlicht sie, bezieht euch aufeinander! Und neben all dem Theoretischem, vergesst die Praxis nicht! Vernetzt und organisiert euch weiter, tauscht Erfahrungen aus und lernt voneinander. Wir hoffen der 'Selber-Machen'-Kongress 2017 war auch für euch Motivation und Anstoß für die fortlaufende Auseinandersetzung rund um Theorie und Praxis von Selbstverwaltung und Basisorganisierung!“

 

Solidarische Grüße,

 

einige Teilnehmer*innen des Selber-Machen-Kongresses 2017

 

Der Text wird unterstützt von:

Internationalistisches Zentrum Dresden

Radikale Linke Berlin

Komitee für eine revolutionäre Perspektive (Münster)

Hände Weg vom Wedding

Antifa Kritik & Klassenkampf (Frankfurt)

 

webadresse: 
Lizenz des Artikels und aller eingebetteten Medien: 
Creative Commons by-nc-sa: Weitergabe unter gleichen Bedingungen - nicht kommerziell