Und bist du nicht willig, so...

Berlin zwingt Obdachlosen Menschen 3G-Regel im ÖPNV auf, ansonsten droht der Hausverbot und Kältetod. Willkommen im Pandemiewinter.

Und so ist es geschehen. Die Berliner Sozialverwaltung einer rot-rot-grünen Landeregierung hat im Kampf gegen Covid-19 es für richtig befunden, Obdachlosen Menschen beim nicht entsprechen der "3G" Regel der Berliner S und U Bahnhöfe zu verweisen.1 Richtig, ein links-liberal regierter Senat beschließt, Menschen ohne festen Wohnsitz im Winter der einzigen Orte zu verweisen, welche für viele von ihnen bisher ohne (krasse) Restriktionen zugänglich waren. Am Berliner Bahnhof Zoo macht sich die Polizei nebst profaschistischer BVG-Sicherheitsmiliz bereits ans Werk. Keine 200 Meter Luftlinie entfernt vom letzten Eingang zur U-2 nimmt das bunte Treiben des Weihnachtsmarktes an der Berliner Gedächtniskirche seinen Lauf, geschützt durch weißgott wieviele Tonnen Stahlbeton weil ja Breitscheidplatz und LKW und ISIS und "Kampf der Kulturen", "die neiden uns unsere freie Lebensweise"; heute Nacht hat es geschneit, ein weißer Film bedeckt die Stadt und bald die steifen Leiber derjenigen, welche aus Gründen des Infektionsschutzes ihrer letzten Zuflucht beraubt worden sind.

 

Jeder, der die Berliner Untergrundwelt kennt, weil er darin zirkulieren muss, kann nur entsetzt sein. Die Schwächsten der Schwachen, die Subalternsten der Subalternen, jene, welche zu hunderten seit 1989 meist von organisierten Rechtsradikalen totgeprügelt, verbrannt, zu Tode gefoltert werden 2, werden nun in den Kältetod geschickt. Aber nein, natürlich nicht, sie könnten sich ja impfen und testen lassen. Und darauf sei man in der Sozialverwaltung ja besonders stolz, man arbeite daran, die Hilfsangebote zu erweitern. Der hier sprechende Hohn ist an paternalistischem Menschenhass und Sozialchauvinismus kaum zu überbieten. "Sollen sie doch Kuchen essen!" Jeder, wirklich jeder, der schon einmal auch nur ein Wort oder Blick mit Obdachlosen Menschen getauscht hat, weiß, dass hier ganz andere Sorgen vonstatten gehen; weiß, dass Obdachlosigkeit meist kulminiert mit anderen Problemen, wie Sprachelosigkeit, körperlicher Beschädigung, Hunger, Sucht, Trauma, Flucht, Einsamkeit, Deprivation; weiß, dass die durchschnittliche Lebenserwartung 30 fucking Jahre weniger beträgt und dass das Gründe haben muss!3 Und weiß verdammtnochmal, dass Obdachlose Menschen vorallem in Ruhe gelassen werden wollen, dass sie DIE vulnerable Gruppe überhaupt darstellen. Markiert Oury Jalloh den Homo Sacer par excellence in der deutschen Nachkriegsgeschichte, teilt er sich diesen Status mit so gut wie jedem Obdachlosen Menschen in Deutschland. Der bürgerliche Klassenhass manifestiert sich an denen, welche aus der auferzwungenen Homo Homoni Lupus est - Konkurrenzgesellschaft rausfallen "sieh Schatz, das passiert mit Verlierern, die sind selber Schuld, hätten sich ja mehr anstrengen können".

Nun vollendet sich der Hygiene-Wahn und der debile Reigentanz um die "X-G(plus/minusX" Staatsräson scheißt einen riesigen Haufen Elend auf das größte Elend überhaupt. Wie war das nochmal mit dem Teufel?!...Und das in einer Stadt wie Berlin, wo die Frage nach Wohnraum DIE soziale Frage ist, wo täglich zwangsgeräumt wird, wo mehr als die Hälfte der Bewohner Anrecht auf einen WBS hätten (aber Hand aufs Herz: wozu ist der schon gut, WBS-Wohnungen sind damit jedenfalls nicht herbeizuzaubern4).

 

All das gesagt folgt kein Aufschrei. Mich wundert das nicht, schließlich ist das Leben des "Penners", des "Asozialen", des "Junkies", des "Arbeitsscheuen", des "Idioten", des "Dreckigen" in diesem Land generell billig. "Eure Armut (Obdachlosigkeit/Krankheit/Sucht/Vorurteil-hier-einfügen) kotzt uns an!". Aber das die sich progressiv/links(radikal)/alternativ/etc. bezeichnenden Menschen schweigen, ist mehr als bedrückend. Was ist die eigene so gehegte und gepflegte Identität überhaupt wert, wenn mir ob des sozialchauvinistischen Klassenhasses und der Menschenverachtung nicht spei-übel wird? Nicht nur gibt es kaum ernstzunehmende Positionen bezüglich der Pandemie (und die, welche es gibt, werden wie die letzten Einhörner gejagt und zur Strecke gebracht, RIP Zündlumpen5), jeder Pfaffe, der was von Nächstenliebe schwafelt und zumindest moralisch den Zeigefinder erhebt angesichts dieser Verachtung, ist progressiver als die (radikale)Linke. Eine verdammt niedrige Messlatte! Seit Jahren gibt es ritualisiertes antifaschistisches Gedenken an von Rechtsradikalen ermordete Obdachlose, aber wenn im Zuge der mittlerweile evidenzbefreiten autoritären (Pandemie)Krisenlösungsstrategien die Menschen in den Kältetod geprügelt werden, wird mit den Achseln gezuckt? Kollateralschaden, schließlich darf ich ja die Omi nicht anstecken... Althusser sagt an einer Stelle, Ideologie sei, wenn der Widerspruch zweier unvereinbaren Aussagen von dem Sprecher nicht mehr erkannt wird; hier tun sich Abgründe auf und entgegen harmlosen Meinungsverschiedenheiten im pluralen Wettstreit der Ideen sind diese für die Betreffenden Menschen sehr schnell sehr tödlich. Nochmal, es ist Winter, es schneit und selbst im Sommer ist Berlin hässlich genug für Menschen ohne eigene feste Wohnung.

 

Ich weiß nicht, was tun. Ich bin entsetzt, dass es soweit gekommen ist, dass dieser unsägliche Panikmodus im Umgang mit Covid-19 nicht nur das eigene Denken bei vielen ausgestellt hat und diese nun Zuflucht in autoritären Krisenlösungen suchen. Sondern auch, dass die Grundlagen eines gemeinsamen Antagonismus mittlerweile schlicht nicht mehr vorhanden sind. Wer sich nicht einmischt, wenn ein Obdachloser Mensch von den Repressionsorganen (nebst links-grünen Aktivbürgern) gegängelt wird, hat schlicht die Seiten gewechselt. Wer nicht mehr weiß, dass Solidarität nichts mit Impfen, Lockdown und Covid-Regeln zu tun hat, sondern vielmehr davon handelt, sich ins Verhältnis zum Anderen zu setzen, nach gemeinsamen Grundlagen des Handelns jenseits Staatsräson, Ismen und Profitinteresse zu suchen, ist schlicht verloren, bzw. umgefallen. Wer es richtig findet, aufgrund ominöser Regeln Obdachlose Menschen in den Kältetod zu schicken, ist ein kleinbürgerlicher Faschist.

Ich weiß nicht, was zu tun ist, was getan werden kann. Im Traum besetze ich zusammen mit möglichst vielen Betroffenen die Berliner Sozialverwaltung (Oranienstraße 106, 10969 Berlin) und bin auf tausenden Scherbendemos mit dabei und eigne mir das für mich und andere aus geplünderten Läden an, was zum Überwintern gebraucht wird. All das wird nicht passieren, schließlich sind wir in Deutschland. Aber solange, wie ich kann, versuche ich mich im Einzelfall einzumischen und fordere alle Antagonistischen auf, es mir gleich zu tun.

 

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