Kommune von Kronstadt

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Zu der Textreihe von Kronstadt hier die Ausgrabung des Textes von Ida Mett zum Aufstand und zur Kommune von Kronstadt

Kommune von Kronstadt

 

Ida Mett

 

 

Vorwort 1971

 

 

Am 18.3.1971 jährt sich zum 50. Male der Tag, an dem die Kommunarden von Kronstadt „wie Enten auf dem Teich“ (Trotzki) zusammengeschossen wurden. Zur gleichen Zeit tagte in Moskau der 10. Parteitag der KPdSU, der sich neben der offiziellen Einführung des Staatskapitalismus und des Fraktionsverbotes innerhalb der bolschewistischen Partei (die militanten Anarchisten und Syndikalisten saßen in den Gefängnissen oder waren liquidiert) dadurch auszeichnete, dass die Parteidelegierten in Festversammlungen und Ansprachen dem 50 jährigen Bestehen der Pariser Kommune gedachten.

 

Die Delegierten der bolschewistischen Partei, die für diesen Parteitag, der für die weitere Entwicklung der Parteidiktatur über das Proletariat entscheidend war, durch gekonnte Manipulation ausgesucht waren, entblödeten sich nicht, sowohl die Festansprache über die revolutionäre Pariser Kommune über sich ergehen als sich auch vom ZK der Lenin-Partei an die „Front“ schicken zu lassen, um die gegen den Schießbefehl auf die Kronstädter Kommunarden revoltierenden Rotarmisten moralisch aufzurüsten.

 

Die Kommune von Kronstadt wurde liquidiert. Toukhatschewskij, ein ehemaliger zaristischer General, schrieb einige Jahre später: „Ich bin fünf Jahre im Krieg gewesen, aber ich kann mich an ein derartiges Gemetzel nicht erinnern … Eine ganze Kompanie kämpfte um ein Haus und als sie es schließlich eingenommen hatten, fand man nur zwei oder drei Soldaten mit einem Maschinengewehr.“

 

Warum war es für die Leninisten notwendig, Kronstadt zu liquidieren? Die Antwort auf diese Frage kann man Punkt für Punkt den programmatischen Forderungen der Kronstädter Kommunarden entnehmen: „Hier in Kronstadt wurde der Grundstein zur dritten Revolution gelegt, die die letzten Ketten des Arbeiters zerbrechen und ihm den neuen und breiten Weg des sozialistischen Aufbaues eröffnen wird. Diese neue Revolution wird die arbeitenden Massen in Ost und West aufrütteln. Sie wird das Beispiel eines neuen sozialistischen Aufbaues im Gegensatz zum mechanischen und regierungsmäßigen bolschewistischen „Aufbau“ geben … Die Arbeiter und Bauern gehen unaufhaltsam voran. Sie lassen hinter sich die Konstituante, mit ihren bürgerlichen Regime und die kommunistische Parteidiktatur mit ihrer Tscheka und ihrem Staatskapitalismus, der die Schlinge um den Hals der Arbeiter warf und sie zu erwürgen drohte. Die nunmehr vollzogene Änderung gibt den arbeitenden Massen endlich die Möglichkeit, frei gewählte Räte zu verwirklichen, die ohne gewaltsamen Druck einer Partei funktionieren. Diese Änderung wird ihnen auch die Möglichkeit geben, die verstaatlichten Gewerkschaften in freie Organisationen der Arbeiter, Bauern und Intellektuellen zu verwandeln …“ (Leitartikel der Kronstädter Iswestija vom 8.3.1921)

 

Die praktische Kritik der Kronstädter Kommunarden an der massenfeindlichen, selbsternannten Avantgarde der Bolschewiki war der wirkliche Versuch des Volkes, „sich selbst zu befreien und die soziale Revolution zu verwirklichen“ (Voline). Dieser Schritt kann nicht durch die Schmähung und Denunzierungen der Kronstädter Kommunarden als „weißgardistische Konterrevoltionäre“ von der Bildfläche gefegt werden. Vielmehr liegt der Umstand, das Kronstadt nach wie vor – und hier bewahrheitet sich eine SUPEREINHEITSFRONT aller Parteifetischisten aller Länder – als antikommunistische Rebellion, die von Menschewiki, Anarchisten, Sozialrevolutionären, Weißgardisten und ausländischen Imperialisten angezettelt wurde, denunziert wird, darin, das der sozialhistorische Gegensatz zwischen der selbstständigen Klassenbewegung und den bürgerlichen-revolutionären Parteistrategen nach wie vor ein entscheidendes Hindernis auf dem Weg der sozialen Revolution ist, der historisch bisher immer mit der Niederlage der Rätebewegung endete. Wenn wir etwas aus der Geschichte lernen können, so dies, das die Überwindung der Partei als historisch überholter Form der Arbeiterbewegung in den neuen und notwendigen Kämpfen der heutigen Bewegung der Arbeiter praktisch und theoretisch erkämpft werden muss. Noch mehr als 1930, wo Karl Korsch diese Einschätzung über die Möglichkeiten des revolutionären Klassenkampfes gab, gilt für uns heute, dass die „auf einer neuen Basis unter neuen Bedingungen ihre Klassenkraft zu neuen unvermeidlichen Kämpfen sammelnde Arbeiterklasse sich hüten werden muss, den lebendigen Inhalt ihrer heutigen Aktion noch einmal an jene längst zu leblosen Formeln erstarrten ideologischen Formen zu binden, mit denen schon gestern und vorgestern die verschiedenen Richtungen der sogenannten „revolutionären“ Marxorthodoxie vergeblich versucht haben, reformistische und bürgerliche Entartung ihrer „Arbeiterpolitik“ aufzuhalten und abzuwenden.“

 

Die Bekämpfung des Neo-Leninismus unter seiner dogmatischsten und borniertesten Form, wie er sich in den zahlreichen Sekten und Zirkeln der „Liquidierungsbewegung der anti-autoritären Phase“ großmäulig produziert, ist an historische Jahresfeiern nicht gebunden. Kronstadt soll für uns nur der Anlass sein, die verschiedensten Gruppen, die sich in ihrer praktischen und theoretischen Arbeit auf den Boden der selbstständigen Klassenbewegung gestellt haben, zu einer solidarischen Diskussion über die Probleme, Bedingungen und Organisation unserer heutigen Arbeit zusammenfassen.

 

Selbstständige Klassenbewegung heißt für uns, dass wir versuchen wollen, in den gegenwärtigen Kämpfen der Arbeiter, die unter verschiedenen Formen tagtäglich stattfinden, die Ansätze der neuen Arbeiterbewegung zu erkennen und von diesen Ansätzen her unsere praktische Arbeit zu bestimmen. Für uns gilt, dass die Befreiung der Arbeiter das Werk des Arbeiter selbst sein muss, das die Arbeiter über das, was sie produzieren, über wie und warum selbst entscheiden müssen. Das bedeutet für uns, dass wir all das unterstützen werden, was die Selbstorganisation der Arbeiter, Schüler und Studenten fördern kann und all das bekämpfen, was dieser Selbstorganisation entgegensteht.

 

Kronstadt-Komitee, Westberlin 1971

 

 

 

Vorwort von 1938

 

Der Augenblick scheint gekommen, sich ein besseres Verständnis für Kronstadt zu erarbeiten, auch wenn seit 1921 kaum mehr neue Fakten bekannt geworden sind. Die Archive der russischen Regierung und der Roten Armee sind für eine objektive Analyse nicht zugänglich. In einigen offiziellen Veröffentlichungen sind jedoch einige Vorgänge näher dargelegt worden, wenn gleich stark verzeichnet. Aber schon die Kenntnis der Sachlage, wie man sie direkt nach dem Ereignis besaß, hätte ausgereicht, dessen politischen Kern zu enthüllen und das Symptomatische und Wesentliche für die russische Revolution herauszustellen.

 

Die militanten Arbeiter der westlichen Hemisphäre hatten ein absolutes Vertrauen in die bolschewistische Regierung. Sie hatte die Arbeiter in ihrem umfassenden Kampf gegen die feudal-bürgerliche Reaktion geführt. Damit war sie in den Augen der Arbeiter die personifizierte Revolution.

 

So konnte man nicht glauben, dass eben diese Regierung einen revolutionären Aufstand mit grausamsten Mitteln niedergeschlagen haben sollte. Es war daher den Bolschwisten ein leichtes, diese Bewegung als reaktionär zu disqualifizieren und die Behauptung zu verbreiten, sie sei von der russischen und europäischen Bourgeoisie organisiert und unterstützt worden:

 

„Eine Meuterei der weißen Generäle mit Ex-General Koslowskij an der Spitze“, geiferte die russische Presse damals, während die Matrosen Kronstadts einen Apell an die ganze Welt richteten:

 

„Genossen, Arbeiter, Rotarmisten und Matrosen,

 

wir wollen die Macht der Sowjets und nicht die Macht einer Partei. Wir wollen die freie Vertretung der Arbeiter. Genossen, lasst Euch nicht verwirren: In Kronstadt ist die Macht in den Händen der Matrosen, der Roten Soldaten sowie der revolutionären Arbeiter, nicht in den Händen der Weißen Garde mit General Koslowskij an der Spitze, wie Euch Radio Moskau weißmachen will.“

 

Das waren die entgegengesetzten Interpretationen der Kronstädter Matrosen und der Kreml-Regierung. - In der Absicht, mit einer objektiven Analyse der geschichtlichen Ereignisse den vitalen Interessen der Arbeiterbewegung zu dienen, sind wir entschlossen, diese divergierenden Thesen im Licht der Fakten und Dokumente zu prüfen und in Zusammenhang mit den direkt auf die Niederwerfung Kronstadts folgenden Ereignissen zu setzen.

 

„Die Arbeiter der ganzen Welt werden über uns urteilen“, hieß es im Radioapell der Kronstädter, „und das Blut der Unschuldigen wird über alle kommen, die im Machtrausch handeln.“ Traf diese Voraussage zu?

 

Wir bringen im folgenden eine Liste derjenigen kommunistischen Funktionäre, die in der Niederwerfung des Aufstandes eine aktive Rolle gespielt haben; man mag daraus ersehen, wie sich ihr Schicksal gestaltete.

 

SINOWJEW, allmächtiger Diktator Petersburgs, der den mitleidlosen Kampf gegen die Streikenden und Matrosen inspirierte: ERSCHOSSEN.
TROTZKI, Volkskommissar für Krieg und Marine: von einem stalinistischen Agenten in Mexiko ERMORDET.
LATSCHWITSCH, Mitglied des revolutionären Verteidigungsrates und Mitglied des Verteidigungskomitees gegen die Streikenden von Petersburg: SELBSTMORD.
DYBENKOW, ehemaliger Matrose, organisierte vor der Oktoberrevolution die Zentrale der Baltischen Flotte, tat sich in der militärischen Niederwerfung Kronstadts hervor, bis 1938 Kommandant der Garnison und Region Petersburg: ERSCHOSSEN.
KUSMIN, Kommissar der Baltischen Flotte: VERBLEIB UNBEKANNT, er wurde nie wieder erwähnt.
KALININ blieb als Strohmann im Amt und Würden. Starb eines natürlichen Todes.
TOUKHATSCHEWSKIJ, Kommandant der 7. Armee, plante und leitete den Angriff auf Kronstadt: ERSCHOSSEN.
PUTNA, ausgezeichnet für seine Teilnahme bei der militärischen Niederwerfung, später Militärattaché in London: ERSCHOSSEN.

 

 

Delegierte des X. Parteitages, die an den Operationen gegen Kronstadt teilnahmen:

 

PIATAKOW: ERSCHOSSEN; RUKIMOWITSCH: ERSCHOSSEN; BUBNOW: ABGESETZT und VERSCHOLLEN; ZATONSKIJ: ABGESETZT und VERSCHOLLEN.

 

Einzig WOROSCHILOW spielte im II. Weltkrieg noch eine gewisse Rolle.

 

 

 

Zweites Vorwort – 1948

 

Die Niederwerfung des Kronstädter Aufstandes liegt nun mehr als ein Vierteljahrhundert zurück. Inzwischen ist auf der ganzen Welt soviel Blut geflossen, so viele aufwühlende Ereignisse haben die Gemüter bewegt, dass man sich über das immer noch vorhandene Interesse an dem Drama wundern könnte, das sich seinerzeit auf dem Eis der Ostsee abspielte. Dennoch erwacht heute – nach dem II. Weltkrieg – angesichts eines Russlands, das eine von jedem sozialistischen Inhalt entblößte imperialistische Macht geworden ist, von neuem und in den verschiedenen politischen Kreisen die leidenschaftliche Debatte um Kronstadt.

 

 

Es geht dabei um die erregenden Fragen:
- Seit wann datiert der Machthunger Russlands?
- Herrschte er schon unter Lenin?
- oder ist er charakteristisch erst für die stalinistische Phase der bolschewistischen Diktatur?

 

 

Und wann immer man den präzisen Ausgangspunkt dieser Neuorientierung Russlands auszumachen versucht, fällt der berechtigte Hinweis auf Kronstadt. Der Aufstand der Kronstädter Matrosen markiert tatsächlich eine Zeitwende: vorher die Phase der Spontaneität, der umfassenden Bewegung im Volk, der Hoffnung auf die Revolution – danach, bis jetzt, die Phase der Diktatur, des Oktrois.

 

In den Resolutionen der Aufständischen hat sich der russische common sense zum letzten Mal machtvoll ausgedrückt und die zwei entscheidenden politischen Fragen gestellt, von denen jede objektive Beurteilung des heutigen Russlands ebenso auszugehen hat wie jeder auf die Zukunft gerichtete Versuch, das totalitäre Regime zu vermeiden.
Es sind die Fragen:
- Ist der Aufbau des Sozialismus ohne Freiheit denkbar?
Und:
- Heiligt der Zweck die Mittel?
In erbitterten Kämpfen fiel die Antwort: sie war negativ. Deshalb bleibt die Sache der Aufständischen unvergesslich.

 

Wir haben die tragische Anwendung des Prinzips „Der Zweck heiligt die Mittel“ sowohl im Deutschland Hitlers als auch im Russlands Stalins miterlebt. Wir können jene Ereignisse nicht mehr ignorieren und jene großen Fragen, die uns die revolutionären Matrosen Kronstadts aufgegeben haben, nicht ohne Antwort lassen.

 

Die vorliegende Studie über den Kronstädter Aufstand wurde vor dem Krieg geschrieben, zu Lebzeiten Trozkis. Ihm haben wir darin, als dem einzigen autorisierten Repräsentanten des Bolschewismus, immer wieder unsere bohrenden Fragen nach er Kronstädter Tragödie gestellt. Trotz seines tragischen Todes wollen wir diesen Text nicht verändern, denn die gestellten Fragen sind nach wie vor gültig. Wenn dieser Text eines Tages einigen noch lebenden Altbolschewisten in Russland in die Hände fallen sollte , mögen sie wissen, dass wir an sie dachten, als wir diese Probleme erneut aufwarfen.

 

 

Ida Mett – Oktober 1948

 

 

 

I. DIE ROLLE DER FLOTTE IN DER RUSSISCHEN REVOLUTION

 

 

I.1 – 1904 – 1906

 

 

Die Flotte hat in der revolutionären Bewegung Russlands eine hervorragende Rolle gespielt. In der Revolution von 1905 nahmen die Matrosen als erste den bewaffneten Kampf auf, um ihn, Jahre später, als letzte aufzugeben.

 

Die erste Meuterei der Matrosen am 3. und 4. November 1904 in Sebastopol hatte keine bestimmte politische Zielsetzung, immerhin aber ein bestimmtes revolutionäres Potenzial. Direkter Anlass dieser Revolte war das an die Matrosen ergangene Verbot, ohne besondere Erlaubnis die Kasernenhöfe zu verlassen. Es wurden die Flottenkasernen angegriffen, das See-Militärgericht und Wohngebäude der Offiziere. Durch einige Kanonenschüsse des Panzerkreuzers Pamiat Merkuria wurde der Aufstand niedergeschlagen. 36 Beteiligte standen am 5. Januar 1905 vor dem See-Militärgericht von Sebastopol; sie wurden zu harter Zwangsarbeit verurteilt oder in Strafkompanien eingewiesen.

 

Dieser Aufstand eröffnete das revolutionäre Kapitel in der Geschichte der Schwarzmeerflotte.

 

1905, aber auch noch 1906, als die revolutionäre Woge wieder aufzuflauen begann, kam es gehäuft in der Marine zu Aufständen, die 1905 mehr die Schwarzmeerflotte, 1906 die Ostseeflotte betrafen.

 

Im Schwarzen Meer begann die Epoche der Aufstände im eigentlichen Sinne mit der Revolte auf dem Panzerkreuzer Potemkin am 27. Juni 1905; am 30. Juni schloss sich ihr die Besatzung des Panzerkreuzers Georgij Pobiedonossiets an, am 2. Juli folgte das Schulschiff Prut. Die Potemkinergab sich elf Tage darauf in einem rumänischen Hafen in Constanza, die Georgij Pobiedonossiets blieb nur einen Tag im Aufstand, die Prut drei Tage.

 

Während der Zeit von Juli bis Oktober 1905 führte die Regierung Massenverhaftungen durch, allein in Sebastopolwurden im Juli 1905 an die tausend Seeleute verhaftet.

 

Die Matrosen schienen sich von diesen Maßnahmen nicht einschüchtern zu lassen. Im Oktober 1905 erheben sich die Kronstädter Matrosen, am 25. November kommt es zum massenhaften Aufstand in Sebastopol, an dem sich die Mannschaften von elf Kriegsschiffen beteiligen; diese Ereignisse beeinflussen sehr schnell die Moral der Flotte. Die Bewegung wird mit unerhörter Härte niedergekämpft. Trotzdem ergibt sich die Flotte nicht; die Initiative zum Aufstand kommt nun von der Ostseeflotte. Allein im Juli 1906 sind drei Meutereien zu verzeichnen: in Sveaborg, wo der Aufstand auf alle Inseln und sogar die Festung übergreift; in Helsingfors, in Kronstadt (zweiter Aufstand) und in Reval auf dem Panzerkreuzer Pamiat Asova.

 

Welchen Grund hatten die langandauernden Unruhen? Anscheinend bestand über die für das damalige Russland eigentümlichen politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse hinaus eine besondere Situation für die Flotte. Zunächst war die Disziplin äußerst streng und willkürlich: Die Offiziere behandelten den Matrosen als Untermenschen. Der Matrose kannte seinerseits nicht seine Rechte noch wusste er genau, was ihm verboten war. Alles hing von der Laune der Offiziere ab. Aber das moralische Niveau der Marineoffiziere, die sich ausschließlich aus dem ungebildeten Adel rekrutierten, war außerordentlich niedrig. Folgendes Beispiel findet sich in der damaligen Presse: Trifft in Kronstadt ein Offizier einen Matrosen und fragt ihn: „Kennst du mich?“ - Jawohl, Euer Exzellenz“, antwortet der Matrose. „Wie ist mein Name“, will jetzt der Offizier wissen. „Kennst du meinen Namen nicht?“ „Nein, Euer Exzellenz“, antwortet der Matrose. „Dann will ich mich vorstellen“ - und er versetzt dem Matrosen einen Fausthieb. Dieser Vorfall galt gewissermaßen als normal; das Schicksal des Matrosen hing von der Willkür der Offiziere ab, die ungeachtet der Vorschrift, „die menschliche Würde der Untergebenen zu achten“, auf körperliche Bestrafung härtester Art nicht verzichteten. Nach Berichten von Besatzungsmitgliedern der Potemkin war mehreren von ihnen bei Schlägen ins Gesicht das Trommelfell geplatzt.

 

Aus technischen Gründen wurden meistens Facharbeiter zur Flotte rekrutiert, die mit der revolutionären Propaganda schon stark in Berührung gekommen waren. Dieser Umstand wie auch die im Land herrschende Stimmung spielte eine wichtige Rolle bei den Aufständen der Flotte. Dies steigerte sich in dem Maße, wie das Proletariat zum Bewusstsein seiner Würde und seines sozialen Wertes gelangte. Die Brutalität und Dummheit der Befehlshaber gossen noch Öl in das Feuer. Die feindliche Einstellung gegenüber den Offizieren wuchs und wurde durch ihr arrogantes Benehmen weiter genährt.

 

Ein Beispiel ist der Befehl 184 vom 29. April 1905 des Admirals der Schwarzmeerflotte: Er verbot den Matrosen bei Arreststrafen, bestimmte Straßen Sebastopols zu betreten. Einige Tage später befindet sich eine Gruppe von verwundeten Matrosen, von Port Arthur zurück, auf dem Boulevard Istoritscheskij. Hier stand das Denkmal für die bei der Belagerung Sebastopols im Jahre 1855 Gefallenen. Ein Offizier trifft auf die Matrosen und macht ihnen mit rüden Worten klar, das der Boulevard für „ nijnje tschiny“, für einfache Soldaten, gesperrt sei. Die Frage eines Soldaten: „Haben wir nicht das Recht, Euer Exzellenz, den Boden zu betreten, auf dem wir unser Blut vergossen haben?“ wird mit einigen Ohrfeigen beantwortet … Solche Vorfälle ereigneten sich häufig und vertieften von Tag zu Tag den Graben zwischen Matrosen und Offizieren. Je brutaler die Offiziere in ihrer Reaktion auf den Geist des Ungehorsams wurden desto entschlossener zeigten sich die Matrosen aufgeklärt und unterstützt durch die revolutionäre Propaganda. Der Matrose Retznitschenko von der Potemkin berichtet in seinen Erinnerungen, dass eines Tages während einer illegalen Versammlung der Matrosen eine von einem Offizier geführte Patrouille zu ihrer Verhaftung erschien. Ein Matrose fragte den Offizier: „Was wünschen sie, Euer Exzellenz?“ - „Ich befehle ihnen, auseinanderzugehen.“ - „Aber wir tun hier nichts Kriminelles.“ Der Offizier insistierte: „Sie gehen auseinander oder ich lasse schießen.“ - „Befehlen Sie nur zu schießen?“, antwortete ihm der Matrose, „Kein Mensch wird Ihnen gehorchen. Denn: heute bin ich hier, aber morgen bin ich vielleicht in einer Patrouille unter Ihrem Befehl und wenn Sie mir dann, wie jetzt, befehlen, auf meine Kameraden zu schießen, werde ich zuerst auf sie schießen.“ Daraufhin zog der Offizier wortlos mit seiner Patrouille ab.

 

Es muss betont werden, das von den beiden konfigierenden Gruppen der Matrosen und Offiziere die Matrosen moralisch und bildungsmäßig überlegen waren. Während die Offiziere sich ihren Ausschweifungen hingaben, interessierten sich die weit aufgeschlosseneren Matrosen für politische, moralische und kulturelle Fragen. So brachten sie Helden hervor, die für ihre Klasse zu sterben bereit waren. Um sich ein Bild davon zu machen, braucht man nur aus dem letzten Brief des Matrosen Matiutschenkow, des Kronisten des Potemkin-Aufstandes, zu zitieren: „Heute wird das Urteil gefällt, stolz sterbe ich für die Wahrheit, wie es sich für einen Revolutionär gehört. Adieu!“ Matiutschenkow war keine Ausnahme, das russische Volk brachte viele Proletarier seines Formats hervor. In ähnlicher Weise lehnte der Matrose Petrow von der Prut, dem vom Kommandanten Begnadigung und Wahl in die Duma garantiert wurden, wenn er die Namen seiner Kameraden nannte, dieses Angebot mit Empörung ab. Er wurde mit dreien seiner Kameraden am 24. August 1905 in Sebastopol erschossen.

 

Der Offizier Daschkievitsch Gorbatskij fürchtete diese Entschlossenheit, als er am 2. März 1906 an den Kommandanten der Schwarzmeerflotte schrieb: „Euer Exzellenz, entlassen Sie alle Matrosen und Mechaniker der Schiffe Otschakow und Pantelejmon; weiterhin alle, die am 15. November die rote Fahne hissten oder indirekt an dem Aufstand teilhatten. Euer Exzellenz, die ober erwähnten Matrosen sind eine ansteckende Gefahr, ein Wanzennest für die Flotte. Es ist besser, wenn die Matrosen, die sich durch ihre Handlungen am 15. November bloßgestellt haben, die Marine verlassen und in ihre Heimat zurück geschickt werden; für sie gibt es keinen Platz mehr in der Flotte. Es sind bewusste und rachsüchtige Kanaillen, zu Lebzeiten unverbesserlich. Sie werden nur neuerliche Unruhen und Meutereien anstiften.“

 

Die Matrosen litten auch materielle Not. Sie wurden schlecht ernährt, schlecht gekleidet und ihr Sold war erbärmlich niedrig, zumal für die, die eine Familie zu ernähren hatten. In ihren Flugschriften prangerten sie die Tatsache an, dass der russische Soldat schlechter ernährt wurde als der japanische (das war im russisch-japanischen Krieg); während der japanische Staat pro Person umgerechnet 56 Rubel zahlte, waren es in Russland nur 24 Rubel. Hingegen erhielt Admiral Togo als Oberbefehlshaber der japanischen Marine 5.6000 Rubel an Jahresbezüge, während Großfürst Alexeij, erster Befehlshaber der russischen Flotte, eine Jahresapanage von 108.000 Rubeln bezog. Schließlich machen die Matrosen den Offizieren, die sie zu ernähren und zu kleiden hatten, den schweren Vorwurf, sie zu übervorteilen und ihnen lediglich Nahrungsmittel schlechtester Qualität zu liefern. Es ist also kein Zufall, das der Anlass für den Aufstand auf der Potemkin das verdorbene Fleisch war, das die Matrosen an jenem Mittag erhalten hatten.

 

In einem heimlichen Zirkular, abgefasst und unterzeichnet von Matrosen und Panzerkreuzers Jekaterina II in Zusammenarbeit mit der sozial-demokratischen Partei, werden folgende Forderungen erhoben:

 

1. Verkürzung der Wehrdienstzeit auf drei Jahre (damals sieben Jahre);
2. Genaue Festlegung der täglichen Dienstzeit (einschließlich militärischer Übungen und Ausbildungszeiten);
3. Sold in einer den Unterhalt der Familie sichernden Höhe;
4. Kranken- und Unfallversicherung;
5. Direkte Kontrolle der für die Beköstigung der Matrosen bestimmten Gelder;
6. Wahl der Köche aus den Reihen ihrer Kameraden.

 

 

Unter den moralischen Forderungen finden sich:

 

1. Beseitigung militärischer Titel und der Grußpflicht gegenüber Vorgesetzten;
2. Behandlung von Delikten der Matrosen durch ordentliche Gerichte;
3. Neubesetzung der Militärgerichte – paritätisch durch Offiziere und von ihren Kameraden zu wählende Matrosen, wobei die Vertreter der Matrosen dieselben rechte wie die Richter im Offiziersrang haben sollten;
4. Das Recht für eine Schiffsmannschaft als Kollektiv, ihre Offiziere vor Gericht zu zitieren.

 

 

Es waren verschiedene Parteien, die damals bei den Matrosen Propaganda machten: Sozialdemokraten, Revolutionäre Sozialisten, Anarchisten. Die gezielteste Arbeit wurde von der Krim-Sektion der sozialdemokratischen Partei geleistet, die eine eigene Zentrale für die Flotte organisiert hatte. Eine organisierte Aufständischen-Gruppe auf der Potemkin gehörte den Sozialdemokraten an, unter ihnen Matiutschenkow. Es muß aber betont werden, dass der russische Matrose damals in erster Linie Antizarist, Antifeudalist und Antikapitalist war; für die feinen Unterschiede in Parteiprogrammen war er wenig empfänglich. Nach dem Aufstand auf der Potemkin kam es zu einer Polemik zwischen dem Organ der Sozialdemokraten, Iskra, und der Zeitschrift der Revolutionären Sozialisten über die Frage, welche Partei den größeren Einfuß in der Marine habe. Matitutschenkow schrieb dazu in der Emigration, er gehöre keiner Partei an (vorher war er Mitglied der Sozialdemokraten gewesen), denn er habe sich unter den verschiedenen Programmen nicht orientieren können; aber er werde sich jeder Partei anschließen, die einen wirkungsvollen Kampf gegen die Herrschenden führe. Im Pariser Exil wurde er Mitglied einer anarcho-syndikalistischen Gruppe. Später kehrte er illegal nach Rußland zurück, wo er verhaftet und gehenkt wurde.

 

 

 

I.2 – 1917

 

Der bewaffnete Kampf der russischen Marine gegen den Zarismus und das feudal-bürgerliche System endete mit der materiellen Niederlage der Matrosen. Aber das konnte den kämpferischen Geist der Marine nicht erschüttern; die Matrosen hofften auf die Zukunft, auf die Chance, ihre Toten rächen zu können. So sagte der Matrose Tschastnik (er wurde zusammen mit Leutnant Schmidt und zwei anderen Matrosen – Gladkow und Antonekow – nach dem Novemberaufstand 1905 standrechtlich erschossen) seinen Feinden ins Gesicht: „Jetzt seid ihr es, die uns töten. Aber wartet nur – in einigen Tagen, in einem Jahr vielleicht, mag sein in einigen Jahren, werdet ihr dasselbe Schicksal erleiden, wenn nicht ein schlimmeres. Werde auch nicht ich es sein, andere werden sich finden, die uns rächen.“ (Auszug aus der Anklageschrift)

 

Damit hatte die russische Flotte ihre revolutionäre Tradition, die ihr während der folgenden reaktionären Phase erhalten blieb. Der Weltkrieg trug nur zu einer Verschärfung der revolutionären Erbitterung bei. In einem offiziellen Bericht heißt es: „Seit Juli 1915 wurden alle Matrosen der ersten Besatzung der Baltischen Flotte wegen ihres politischen Nonkonformismus unter polizeiliche Bewachung gestellt und anschließend zum Ausgleich von Verlusten der Marinebataillone an die Front entsandt.“ Die Matrosen, die so an die Front von Riga gelangten, sollten eine wichtige Rolle in der Zersetzung der Armee spielen.

 

Während des Krieges wurde die Flotte seit 1915 mit Erfolg von den Militärorganisationen der Sozialdemokratie, der Revolutionären Sozialisten (dem linken Flügel der Internationale), der Sektion Nord der Anarcho-Kommunisten, von Tolstoianern und den verschiedenen religiösen Sekten agitiert. Aber die Kriegsschrecken, die Niederlage an der Front, die kritische Situation insbesondere auf dem Land (den Matrosen aus Briefen ihrer Eltern bekannt) trugen vielleicht mehr als die eigentliche revolutionäre Propaganda zur Beschleunigung der politischen Entwicklung in der Flotte bei. Dennoch blieb die militärische Disziplin in der Flotte genauso streng und unmenschlich wie vor dem Krieg.

 

All dies hat auf die Moral der Flotte gewirkt, als die Revolution begann. Der erste revolutionäre Ausbruch in Kronstadt war dann auch von besonderer Heftigkeit. Eine Kronstädter Matrose: „Es war eine spontane Entladung – aber genug, um die Vergangenheit auszuradieren.“

 

Admiral Virren, Festungskommandant und Organisator des Bagno-Regimes, unter dem die Kronstädter Matrosen lebten, wurde getötet. Dies war der erste Sieg einer spontanen Matrosenrevolte, die von der Nachricht der Petersburger Revolution ausgelöst wurde. Dasselbe geschah Admiral Boutakow, Virrens engstem Mitarbeiter, sowie vierzig Marineoffizieren. Weitere 236 Offiziere wurden in den Gefängnissen von Kronstadt festgehalten.

 

Um auch die letzten Schatten der Vergangenheit zu tilgen, führten die Matrosen und Garnisonssoldaten die prinzipielle Wählbarkeit der Kommandoträger ein. „Wir Matrosen und Soldaten haben nach dem Willen des alten Regimes nur mit Händen und Füßen, freilich nicht mit dem Kopf zu arbeiten gelernt. Aber Ihre Drohungen (dies richtete sich an Marschall Schukow, Kriegs- und Marineminister der ersten provisorischen Regierung) gehen an die falsche Adresse…Hier in Kronstadt haben wir mit unseren bescheidenen Geistesgaben zu denken begonnen, und wir haben unsere Vorgesetzten selbst bestimmt, angefangen bei den Kaporalen bis zum Festungskommandanten. Wollen Sie sich von unseren Fähigkeiten überzeugen, so kommen Sie, sehen Sie selbst. Ich versichere Ihnen, dass die Festung besser als vor dem 1.März auf eine Verteidigung vorbereitet ist. Dies sagt Ihnen ein einfacher Matrose, Vertreter des freien Volkes. Dies wird Ihnen Festungskommandant General Gerassimow bestätigen.“ Diese Verteidigung des Wählbarkeitsprinzips wurde am 25. April 1917 in der Kronstädter Iswestija veröffentlicht.

 

Um auch nach außen hin die Demokratisierung der Flotte zu symbolisieren, wurde in Kronstadt das Tragen von Schulterklappen bei der Marine und der Festungsgarnison als Zeichen militärischer Autorität abgeschafft. Der Kriegsminister wurde veranlasst, diese Änderungen zu bestätigen. Admiral Maximow veröffentlichte die Order: „Da die militärische Uniform in ihrem Aussehen an das alte Regime erinnert, befehle ich hiermit allen Einheiten, das Tragen von Epauletten zu unterlassen. An ihre Stelle treten Tressen; Muster werden kürze dafür übersandt.“ Zwei Tage später, am 30. April 1917, erließ der Kriegsminister eine Order, in der er die Abschaffung der Schulterstücke bestätigte – aber nur für die Flotte. Übergriffe gegen Epaulettenträger in der Armee wurde mit strenger Strafe bedroht.

 

Bald wurde Kronstadt zum Mekka der Revolution: Delegationen von der Front, Delegationen aus dem Hinterland pilgerten dorthin. Zum Teil war es übrigens die bürgerliche Presse, die Kronstadt seinen revolutionären Ruf aufprägte; sie gab ihm auch die Bezeichnung „Republik Kronstadt“ , was den Vorwurf des Separatismus und Anarchismus enthielt.

 

Die im folgenden abgedruckte Entschließung einer Kronstädter Rätesitzung vom 26. Mai 1917 musste allerdings auch die Bourgeoisie in besondere Erregung versetzen (diese Resolution, die erstmals alle Macht in die Hände des Sowjets von Kronstadt legte, leitete die Machtübernahme der Räte im ganzen Lande ein):

 

„Die Regierungsgewalt der Stadt Kronstadt liegt von nun an in den Händen der Deputiertenräte der Arbeiter und Soldaten. Angelegenheiten, die das ganze Land betreffen, werden von diesen Sowjets im Einvernehmen mit der provisorischen Regierung beschlossen.
Alle Verwaltungsbehörden der Stadt Kronstadt werden mit Mitgliedern des Exekutivausschusses besetzt, der zu diesem Zweck um eine entsprechende Anzahl von Mitgliedern aus den Reihen der Sowjets erweitert wird.
Die einzelnen Funktionen in den Verwaltungsbehörden werden im Verhältnis ihrer Stärke auf die politischen Fraktionen verteilt; diese sind für die Geschäftsführung ihrer Repräsentanten verantwortlich.

 

 

Der Vorsitzende des Exekutivausschusses des Deputiertenrates der Arbeiter und Bauern: Deputierter Lamanow
Der Sekräter: Prisselkow“

 

 

(Diese Resolution wurde mit 211 gegen 41 Stimmen bei einer Enthaltung angenommen.)

 

Diese Entscheidung des Kronstädter Sowjets wirkte wie ein Donnerschlag. Sowohl die provisorische Regierung als auch die Presse starteten eine Verleumdungskampagne gegen die „Republik von Kronstadt“, warfen ihr die verschiedensten Ausschreitungen vor, insbesondere eine verbrecherische Disziplinlosigkeit, die die Sicherheit der Nordfront bedrohte und das revolutionäre Petersburg strategisch gefährdete. Dieses Gerücht breitete sich an der ganzen Front aus, bis in die entlegensten Provinzen. Aber es zeitigte eine Reaktion, die die Interessen seiner Urheber durchkreuzte: die Delegation, die nach Kronstadt kamen, waren desto mehr begeistert von dem dort herrschenden Enthusiasmus für die Arbeiterdemokratie.

 

Diese Delegationen besichtigten Schiffe, Kasernen, Fabriken und Werften. Ihre Eindrücke gibt ein Bericht der Nordfront-Delegation wieder: „Kameraden, an der Front geht ein Gerücht um, das besagt, in Kronstadt herrsche die vollkommene Anarchie, Petersburg sei den Feinden ausgeliefert, die dortige Festung sei zerstört. Mit diesem Gerücht versucht man, unser Vertrauen in Kronstadt zu erschüttern. Unsere Kameraden haben uns gewählt, um die Vorgänge in diesem Zentrum der Revolution zu beobachten. Zu unserer Freude können wir sagen: Wir haben hier eine vorbildliche Organisation angetroffen.“ (Iswestija Kronstadt, 5. Mai 1917)

 

In Kronstadt konzentrierte der Sowjet alle Macht auf sich, wobei ihm die Matrosen und Soldaten bedingungslos Folge leisteten. Er entschied in politischen Fragen genauso wie in moralischen; beschloss zum Beispiel in einer Sitzung vom 17.-19. Mai das völlige Verbot des Alkoholgenusses. Nach zeitgenössischen Berichten wurde dieses Verbot von der Mehrheit der Matrosen befolgt, was angesichts der Situation von beträchtlicher Bedeutung war.

 

Der Sowjet stand in ständigem Kontakt mit dem Jakornaijaplatz, dem Forum von Kronstadt. Jeden Abend fanden dort Massenversammlungen statt, in denen in aller Freiheit die aktuellen politischen Probleme diskutiert wurden.

 

Nach Auskunft verschiedener Quellen war die Stimmung in diesem Publikum von Matrosen und Soldaten weit radikaler als die Ansichten der Redner, die sich oftmals, wollten sie nicht ihre Beliebtheit verlieren, diesem allgemeinen Ton anpassen mussten. Den größten Erfolg hatten wie gewöhnlich Sprecher aus den Reihen der Bolschewiken, der Anarchisten und zum Teil der Linken Revolutionären Sozialisten. Dieses Forum von Kronstadt war gewissermaßen ein politisches Stimmungsbarometer, nach dessen Ausschlägen die Parteien ihre Taktik richteten.

 

In Kronstadt hatte man ein wachsames Auge auf die Situation im Land und an der Front, wobei man ständig Kontakt mit Petersburg hielt. In jeder Situation, die eine rasche Entscheidung erforderte, schickte Kronstadt seine Delegierten zu den Beratungen. Umgekehrt versicherte sich Petersburg vor jeder größeren Unternehmung der Unterstützung der Kronstädter Matrosen. Diese ließen sich nie lange bitten, zumal nach den Ereignissen im Juli und Oktober.

 

Am 3. Juli marschierten mehr als 2000 bewaffnete Matrosen durch die Straßen von Petersburg. Sie verbreiteten Furcht und Schrecken in der Bourgeoisie der Hauptstadt. Im Oktober schickte Kronstadt neben anderen Zentren der Baltischen Flotte, beispielsweise Helsingfors, Kriegsschiffe an die Nevamündung – ein entscheidendes Element in der Entwicklung des Aufstandes. Dazu Trotzki in seiner Geschichte der Russischen Revolution (Band 4. Seite 304): „In der Planung des Aufstandes setzte Smolny große Hoffnungen auf die baltischen Matrosen. Er sah in ihnen Kampftruppen von proletarischer Entschlossenheit, die zugleich eine vorzügliche militärische Ausbildung besaßen.“ Es waren dann auch die Matrosen, die im Oktober die Telegraphenzentrale der Regierung, die Staatsbank und andere Punkte besetzen, die strategische Bedeutung für den Ausgang des Aufstandes hatten. Und es waren die Matrosen, die sich mit am aktivsten für die Stabilisierung des neuen Regimes einsetzten. An allen Fronten des Bürgerkrieges kämpften ihre Truppen.

 

Nach der Niederlage des Juli-Aufstandes glaubte die provisorische Regierung, über den linken Flügel der Revolution gesiegt zu haben. Ihre ersten Repressalien waren gegen Kronstadt gerichtet. Am 7. Juli 1917 schickte Kerenskij diese Depesche an den Sowjet von Kronstadt: „Seit dem Beginn der Revolution sind in Kronstadt und auf einigen Kriegsschiffen unter dem Einfluss deutscher Agenten stehende Personen aufgetreten, die zu Handlungen auffordern, welche die Revolution und die Sicherheit des Vaterlandes gefährden. Während unsere wachsende Armee unter großen Verlusten ihren heldenhaften Kampf mit dem Feind aufnimmt, während die der Demokratie treue Flotte tapfer und unverweilt ihre schweren Aufgaben versieht, fallen Kronstadt und einige Kriegsschiffe – an ihrer Spitze die Respublica und die Petropawlowsk – ihren Kameraden in den Rücken. Sie befürworten Resolutionen gegen den Angriff an den Fronten, sie fordern auf zum Ungehorsam gegen die in der provisorischen demokratischen Regierung verkörperte revolutionäre Macht, sie versuchen, den Willen der Volksrepräsentanten in den Deputiertenräten der Arbeiter, Soldaten und Bauern unter Druck zu setzen. Gleichzeitig mit der Offensive unserer Armee kam es in Petersburg zu Unruhen, die die Revolution bedrohten und unsere Armee gefährdeten. Als auf Anforderung der provisorischen Regierung, im Einvernehmen mit dem Exekutivausschuss der Deputiertensowjets der Arbeiter, Soldaten und Bauern, rasch und entschlossen gegen jene Kronstädter vorgegangen werden sollte, die an volksfeindlichen Umtrieben teilgenommen hatten und die Rückführung der Kriegsschiffe nach Petersburg befohlen wurde, haben die Feinde des Volkes und der Revolution unter Einschaltung des Zentralkomitees der Baltischen Flotte Uneinigkeit in den Mannschaften provoziert, indem sie diese Maßnahmen verzerrt zur Darstellung brachten; diese Verräter haben sich der Rückführung revolutionstreuer Schiffe nach Petersburg widersetzt, sie haben Maßnahme verhindert, die darauf zielten, dem vom Feind gesteuerten Unruhen ein Ende zu setzen. Dieselben Verräter haben die Mannschaften zu angeblich spontanen Aktionen verleitet, wie zu der Absetzung des Generalkommissars Onipko, zu der Verhaftung des Adjutanten des Kriegsministers, Kapitän Dudorow, zur Vorlage einer ganzen Reihe von Forderungen an den Exekutivausschuss des Panrussischen Sowjet-Kongress. Der Verrat einiger Personen zwingt die provisorische Regierung dazu, die Verhaftung der Rädelsführer sowie der nach Petersburg gekommenen Delegation der Baltischen Flotte zu befehlen.

 

Aufgrund der angeführten Fakten befehle ich:
1. die unverzügliche Auflösung und Neuwahl des Zentralkomitees der Baltischen Flotte;
2. sämtliche Mannschaften der Baltischen Flotte von meinem Befehl Kenntnis zu geben, das jeder Verdächtige unverzüglich zu verhaften ist, der zu Widerstand gegen die provisorische Regierung auffordert oder sich öffentlich gegen die Offensive ausspricht. Diese Personen sind zu Verhör und Verurteilungen nach Petersburg zu bringen;
3. Ich befehle den Mannschaften der Schiffe Petropawlowsk, Respublica und Slava, innerhalb von 24 Stunden die Rädelsführer der Revolte zu verhaften und zum Zwecke der Einvernahme und Verurteilung nach Petersburg zu bringen; ich befehle ihnen ferner, sich allen Maßnahmen der provisorischen Regierung zu unterwerfen.

 

Falls die Bevölkerung von Kronstadt und die Mannschaften der genannten Schiffe meinem Befehl nicht nachkommen, werden sie als Hochverräter ab Revolution und Vaterland betrachtet und behandelt werden, und die Regierung wird mit den härtesten Mitteln gegen sie einschreiten.

 

Genossen, dieser Verrat bringt das Vaterland an den Rand des Abgrundes; seine Freiheit und die Errungenschaften des Revolution sind tödlich bedroht. Schon beginnt die deutsche Armee den Angriff auf unsere Front; jederzeit ist mit einem entscheidenden Vorstoß der feindlichen Flotte zu rechnen, die sich unsere Verwirrung zunutze macht. Um das zu verhindern, bedarf es entschiedener und strenger Maßnahmen. Die Armee hat diese Maßnahmen bejaht, die Flotte wird sie ebenfalls anzunehmen haben.

 

Im Namen des Vaterlandes, der Revolution, der Freiheit, für das Glück der arbeitenden Bevölkerung fordere ich euch auf: steht geschlossen hinter der provisorischen Regierung und den demokratischen, panrussischen Staatsorganen, pariert die Attacken der Feinde, schützt euch vor dem Dolchstoß der Verräter.

 

 

Der Minister für Krieg und Marine: Kerenskij“

 

 

Selbstverständlich lehnte Kronstadt alle Forderungen Kerenskijs ab. Anlässlich der Diskussion über diese Depesche im Koronstädter Sowjet bemerkte der Bolschewik Raskolnokow: „Solange es in Russland eine Arbeiterbewegung gibt, haben streikende Arbeiter ähnliche Aufforderungen zur Denunzierung ihrer Anführer mit dem mutigen Satz beantwortet: ‘Unter uns gibt es keine Rädelsführer, wir alle sind Rädelsführer des Streiks.‘ Wenn wir dem Beispiel unserer revolutionären Väter folgen wollen, sind wir zu der selben Antwort verpflichtet.“

 

Dreieinhalb Jahre später verlangte die bolschewistische Regierung von den Kronstädter Matrosen abermals: Nennt eure Anführer! Und die Kronstädter Matrosen antworteten abermals mit einem kategorischem Nein – gemäß den alten revolutionären Traditionen von Flotte und Proletariat.

 

Das Kronstadt von 1921 stand in der ungebrochenen Tradition von 1917. Jene, die im Jahre 1921 mitgemordet haben, wollen das nicht wahrhaben. Aber Trotzkis Theorie , nach der Kronstadt damals seine besten Elemente schon verloren haben soll, ist nicht aufrechtzuerhalten. Kronstadt war nicht weniger erschöpft als das ganze Land, das sich mühsam vom Bürgerkrieg erholte. Hatten die Matrosen wertvolle Kräfte verloren, so hatte es die bolschewistische Partei nicht minder. (Aber das hinderte sie nicht an der Ausübung einer absoluten Herrschaft über das Land und das Proletariat.) Trotzki spricht von „Kulakengeist“ in der Flotte. Wenn es solches 1921 in einem gewissen Ausmaß tatsächlich gegeben hat, so fand es sich auch schon 1917. (Und wie will Trotzki übrigens „Kulakengeist“ identifizieren?) Und das hinderte die Flotte nicht daran, ihre bedeutende Rolle in der sozialen Revolution zu spielen.

 

Alle Quellen berichten übereinstimmend, das der Hass der Kronstädter Matrosenauf die provisorische Regierung hauptsächlich deren Agrarpolitik galt. Bei einer Demonstration in der Petersburger Straße verhafteten am 3. Juli Kronstädter Matrosen den Landwirtschaftsminister Tschernow, einen Mann des rechten Flügels der Revolutionären Sozialisten, zweifellos wegen seiner Politik der Sabotage. „Man hegte für diesen ‘Minister der Statistik‘ die allergrößte Abneigung“ in der Kreisen landstämmiger Matrosen und Soldaten, die Raskolnikow in seinen Erinnerungen berichtete. Dieser Vorfall hinderte Trotzki übrigens nicht, der eben noch Tschernow vor der Lynchjustiz der Matrosen gerettet hatte, sie am selben Tag als den „Stolz und den Ruhm der russischen Revolution“ zu bezeichnen.

 

Tatsächlich hatten 1917 weder das russische Proletariat noch insbesondere die Kronstädter Matrosen ihre Beziehung zum Land verloren. Aber es wäre falsch zu sagen, dass zwischen 1917 der Anteil der Kulaken in der Flotte zugenommen hätte.

 

Trotzkis Theorie erweist sich mithin als untauglich, die Tragödie von Kronstadt zu erklären. Wir versuchen, Einsicht zu gewinnen, in dem wir den Akten und Dokumenten folgen, wenngleich Trotzki uns lehrt, die wahre historische Forschungsmethode bestehe nicht darin, den Dokumenten „aufs Wort“ zu glauben. Diese Maxime wurde schon vor Trotzki aufgestellt; wir aber werden ihr nicht folgen.

 

 

 

II. DIE ENTWICKLUNG ZUM AUFSTAND VON KRONSTADT

 

 

II.1 – Funktionärskarrieren und Massenelend

 

 

Der Kronstädter Aufstand ereignete sich drei Monate nach der Auflösung der letzten Fronten des Bürgerkrieges im europäischen Russland.

 

Nach dem siegreichen Ende dieses Krieges befand sich die arbeitende Bevölkerung in einer permanenten Hungersnot, auf Gnade und Ungnade dem diktatorischem Regime eines totalitären Staates ausgeliefert, der von einer einzigen Partei beherrscht wurde. Aber der Generation der Oktoberkämpfer standen die Parolen der Revolution noch frisch im Gedächtnis, erinnerten sie an das Ziel: eine neue Welt zu bauen. Diese Oktobergeneration, zu der hervorragenden proletarische Kräfte zählten, hatte mit blutendem Herzen die zeitweilige Außerkraftsetzung der Parolen von Freiheit und Gleichheit akzeptiert, die, wenn nicht unverträglich, so doch schwer vereinbar mit einer kriegerischen Ausnahmesituation waren. Als aber nun der Krieg siegreich beendet war, gab es für das Stadtproletariat, die Matrosen, die roten Soldaten, die Tagelöhner, für alle, die im Bürgerkrieg ihr Blut gelassen hatten, keinen plausiblen Grund für die Hungersnot und den Zwang zum blinden Gehorsam gegenüber einer militärisch strengen Disziplin.

 

Während die einen an der Front kämpften, hatten die anderen, die Organisatoren des Staates, ihre Position gefestigt und dabei zusehens den Kontakt zur arbeitenden Bevölkerung verloren. Die Bürokratie hypertrophierte, der Staat geriet immer mehr in die Hände von Karrieremachern. Bald galt im Alltagsleben ein Proletarier ohne Parteimitgliedschaft unendlich viel weniger als ein Angehöriger des alten Adels oder der Bourgeoisie, wenn dieser nur Parteimitglied war. Die Freiheit der Kritik war beseitigt. Jeder Proletarier konnte in dem Versuch, seine Rechte oder seine Klassenehre zu verteidigen, von jedem beliebigen Kommunisten als konterrevolutionär diskriminiert werden.

 

Mit der industriellen und landwirtschaftlichen Produktion ging es in schwindelerregendem Tempo abwärts. Den Fabriken mangelte es vollkommen an Rohmaterialien, die Maschinen waren abgenutzt und vernachlässigt. Das Proletariat verwandte seine ganze Kraft darauf, lediglich den individuellen Hunger zu stillen. Diebstähle in der Fabriken wurde zur selbstverständlichen Entschädigung für unterbezahlte Arbeit; die täglichen massenhaften Ausschließungen durch Tscheka-Trupps änderten daran nichts.

 

Die Proletarier, die noch Verbindung zur Landbevölkerung hatten, gingen auf Hamsterfahrt; Lebensmittel im Tausch gegen alte Kleider, Zündhölzer, Salz. Die Züge waren voll von ihnen, die tausend Schwierigkeiten meisterten, um Lebensmittel in die ausgehungerten Städte zu bringen und die oftmals erbittert zusehen mussten, wie ihnen Milizstreifen die von weither transportierte Last Mehl oder Kartoffeln wieder abnahmen.

 

Bei den Bauern überwog die Angst vor hohen Naturalabgaben die Angst vor Hungersnot nach schlechter Ernte – und sie drosselten die Aussaat. Schlechte Ernten waren zwar nicht selten, in normalen Zeiten wurden aber viel größere Ackerflächen bestellt, um Reserven für schlechte Zeiten zu bringen.

 

Die Situation vor dem Aufstand von Kronstadt war also durch eine schreckliche Diskrepanz zwischen Versprochenem und Verwirklichtem gekennzeichnet. Diese Diskrepanz war die eigentliche Ursache der Revolte.

 

Für die Flotte kam aber noch ein weiterer Konflikt hinzu. Nach dem Frieden von Brest-Litowsk hatte die Regierung eine totale Reorganisation der Armee initiiert. Insbesondere wurde eine strenge Disziplin eingeführt, die unvereinbar war mit dem Prinzip der Wählbarkeit der Offiziere durch ihre Untergebenen. An die Stelle des demokratischen Geistes, der zu Beginn der Revolution geherrscht hatte, trat die Herrschaft einer ganzen neuen Hierarchie. In der Flotte hingegen war aus sachlichen Gründen eine entsprechende Reorganisation unmöglich, da hochqualifizierte Kräfte nicht einfach ersetzt werden konnten. Hier hatten die alten revolutionären Bräuche bestand; ein Rest der 1917 errungenen Freiheiten blieb den Matrosen erhalten.

 

Der Zustand war unvereinbar mit den in der Armee herrschenden Verhältnissen, also konnte er nicht dauern. Diese Spannung zwischen der Massenbasis der Flotte und dem Oberkommando der Armee verschärfte sich schlagartig mit dem Ende des Bürgerkrieges im europäischen Russland.

 

Unzufriedenheit fand sich genauso bei parteilosen Matrosen wie bei Mitgliedern der Partei. Alle Versuche, die Flotte „durch Einführung des Geistes der Armee zu disziplinieren“, stießen seit 1920 auf aktiven Widerstand. Zof, ein Mitglied des Revolutionären Kriegsrates der Baltischen Flotte, wurde öffentlich als „Diktator“ gebrandmarkt. Der Bürokratismus und die Distanz zwischen Masse und Führung wurde wiederholt seit der II. Konferenz der kommunistischen Matrosen von 1921 kritisiert. Diese Haltung fand auch ihren deutlichen Ausdruck anlässlich der Wahlen zum 8. Sowjet-Kongress im Dezember 1920, als eine große Anzahl von Marinesoldaten demonstrativ die Wahlversammlung auf dem Petersburger Ankerplatz verließ, um öffentlich gegen die Wahl von Funktionären des Politotdijel und des Komflott zu protestieren. Diese beiden Organisationen besaßen die politische Kontrolle über die Flotte.

 

Am 15. Februar 1921 verabschiedete die II. Konferenz kommunistischer Matrosen der Baltischen Flotte mit einer Beteiligung von 300 Delegierten diese Resolution:

 

„Die II. Konferenz kommunistischer Matrosen beurteilt die Arbeitsweise der Pubalt (der politischen Sektion der Baltischen Flotte) als schlecht und erkennt in ihr die Ursache folgender Missstände:

 

 

1. Der Pubalt hat sowohl den Kontakt zu den Massen als auch zu den aktiven Funktionären verloren. Er ist zu einem bürokratischen Organ geworden, dessen Autorität von den Matrosen nicht anerkannt wird;
2. In der Arbeit des Pubalt lässt sich ein vollkommener Mangel an Planung und System erkennen; sie geschieht nicht in Übereinstimmung mit dem ZK und den Beschlüssen des 9. Parteitages;
3. Der Pubalt hat in seiner Loslösung von den Massen jede lokale Initiative erstickt und die gesamte politische Arbeit in Papierkrieg verwandelt, was sich negativ auf die Organisation der Massen in der Flotte ausgewirkt hat; in der Zeit von Juni bis November haben 20% der kommunistischen Matrosen die Parteimitgliedschaft aufgegeben, was den falschen Methoden und Verfahrensweisen des Pulbalt zuzuschreiben ist;
4. Die Konferenz unterstellt, dass die Ursachen dieser Missstände direkt im Organisationsprinzip des Pubalt zu suchen sind und das dieses Prinzip in Richtung auf eine größere Demokratisierung zu modifizieren ist.“

 

Eine Reihe von Abgeordneten forderte in ihren Ausführungen die „völlige Abschaffung der politischen Sektionen in der Flotte“, eine Parole, die später von den Kronstädter Aufständischen übernommen werden sollte. All dies waren Argumente der berühmten Syndikalismus-Diskussion, die dem 10. Allrussischen Parteikongress vorausging.

 

In den zeitgenössischen Dokumenten erkennt man immer wieder den Willen der bolschewistischen Führer, unter ihnen Trotzki, sich den Gründen für die Unzufriedenheit der Arbeiter und ehemaligen Soldaten zu verschließen, neben der Absicht, ihre militärischen Methoden auf das Alltagsleben zu übertragen, insbesondere in den Fabriken und Gewerkschaftsorganisationen.

 

In dieser Syndikalismus-Diskussion bezogen die baltischen Matrosen einen von Trotzki deutlich abgesetzten Standpunkt. In den Wahlen zum 10. Parteitag entschied sich die Flotte gegen ihre unmittelbaren Führer: gegen Trotzki, den Volkskommissar für Krieg und Marine, und gegen Raskolnikow, den Chef der Baltischen Flotte, die beiden in der Gewerkschaftsfrage gleicher Ansicht waren.

 

Gleichzeitig protestierten die Matrosen gegen die allgemeine Situation im Lande durch massenhaften Austritt aus der Partei. Allein im Januar 1921 verließen nach Aufzeichnungen Sorins, des Kommissars von Petersburg, 5000 Matrosen die Partei.

 

Es steht außer Zweifel, dass die parteiinternen Diskussionen eine erhebliche psychologische Rolle spielten: das Problem war wichtig genug, um über die Parteiorganisation hinaus die Massen der Arbeiter, Soldaten und Matrosen zu beschäftigen. Die leidenschaftliche Diskussion hatte als Katalysator gewirkt; das Proletariat hatte logisch überlegt: Wenn den Parteimitgliedern Diskussion und Kritik erlaubt waren, warum dann nicht den breiten Massen, die alle Belastungen des Bürgerkrieges erduldet hatten?

 

In seiner Rede auf dem 10. Parteitag unterstrich Lenin sein Bedauern, diese Diskussion überhaupt zugelassen zu haben: „Mit der Zulassung dieser Diskussion haben wir zweifellos einen Fehler begangen. Zu Beginn des Frühjahres voller Schwierigkeiten konnte diese Debatte nur Schaden stiften.“

 

 

 

II.2 – Die Entwicklung in Petersburg

 

 

Der Winter 1920/21 brachte für Petersburg besondere Härten, obwohl die Bevölkerung der Stadt damals um zwei Drittel abgenommen hatte. Schon vor der Revolution im Februar hatte ein gewisser Mangel geherrscht, der von Monat zu Monat zunahm. Die Lage wurde dadurch verschärft, dass Petersburg schon immer zu einem großen Teil durch Einfuhr aus anderen Landesteilen versorgt worden war. Während der Revolution war die Landwirtschaft jener Gebiete kaum in der Lage, die Hauptstadt zu ernähren. Zudem machte der katastrophale Zustand der Transportmittel eine Einfuhr unmöglich. Die unablässig wachsende Spannung zwischen Stadt und Land tat ein übriges, auch anderwärts die Bevölkerung der Städte hungern zu lassen.

 

Dazu kamen noch die Schwerfälligkeit der Bürokratie und die Habsucht der für die Versorgung zuständigen Stellen, deren Funktion in der Ernährung der Bevölkerung fast nur negativ zu werten war. Wenn die Einwohner Petersburgs damals nicht verhungert sind, so haben sie das nur ihrer Eigeninitiative zu verdanken. Man besorgte sich zu essen, indem man nahm, wo man fand.

 

In Russland blühte der Tauschhandel. Obgleich auf dem Lande der Anbau reduziert war, hatte man doch noch Vorräte, die man allerdings nur gegen Mangelware wie Salz, Zündhölzer, Schuhe, Petroleum und ähnliches einzutauschen bereit war. Diese suchte sich die Stadtbevölkerung mit allen Mitteln zu beschaffen. Das gelang zwar nur in ganz geringem Ausmaß, immerhin repräsentierten diese Güter, wie man damals sagte, die einzige Währung von Wert. Dafür gab es einige Kilo Kartoffeln, ein wenig Mehl. So hielt man sich am Leben, vorausgesetzt, man entging den ansteckenden Krankheiten. Damals fuhren lediglich ungeheizte Güterwagen, dicht gedrängt die Menschen darin, Rucksack an Rucksack. Oft blieb der Zug auf der Strecke stehen, der Brennstoff war ausgegangen, die Reisenden stiegen aus und sammelten Holz.

 

Offiziell gab es keine Märkte mehr. Aber in fast jeder Stadt blühte der Schwarze Markt, halb im geheimen, halb unter den zugedrückten Augen des Gesetzes. So auch in Petersburg, als plötzlich im Sommer 1920 auf Anordnung Sinowjews der Handel völlig liquidiert wurde.

 

Doch der Staat war nicht bereit und in der Lage, die Stadt zu ernähren. Die wenigen noch existierenden Geschäfte wurden behördlich geschlossen und versiegelt. In diesem Augenblick nahm das Hungerelend überhand, da es durch keine private Initiative mehr kompensiert werden konnte. Im Januar 1921 erhielten: Arbeiter am Hochofen – 800 Gramm Schwarzbrot; in der Metallverarbeitung – 600 Gramm; Inhabern von Lebensmittelkarten zwischen 400 und 200 Gramm pro Tag. Dabei muss man bedenken, dass Schwarzbrot damals noch das Hauptnahrungsmittel des russischen Arbeiters war.

 

Diese offiziellen Rationen wurden nun aber weder regelmäßig noch in voller Höhe ausgeteilt. So kamen etwa Transportarbeiter nur in den Genuss von 700 bis 1000 Kalorien pro Tag und auch das nur unregelmäßig. Dazu kam der Mangel an Heizmaterial, Kleidung und Schuhen.

 

Nach offiziellen Angaben betrug der Arbeitslohn eines Petersburger Arbeiters 1920 etwa 8,9% seines Einkommens von 1913 (ca. 3 Rubel monatlicher Reallohn).

 

Stadtflucht setzte ein. Was blieb, war jenes echte Stadtproletariat, das keine Verbindung zur Landbevölkerung hatte. Wer noch Eltern auf dem Land hatte, ging zu ihnen. Dies muss im Gegensatz zur offiziellen Version gesagt werden, die die Petersburger Streikbewegung aus der Anwesenheit eines von der proletarischen Ideologie unzureichend belehrten Landvolkes herleiten will. Die paar tausend Arbeitsdienstsoldaten in Petersburg konnten dieses Bild nicht verändern. Es waren die Proletarier Petersburgs, Veteranen zweier vergangener Revolutionen, die das klassische Klassenkampfproblem zur Anwendung brachten – den Streik.

 

Am 23. Februar wird in den Trubotschnij-Werken der erste Streik ausgerufen. Am 24. organisieren diese Streikenden eine Straßendemonstration. Sinowjew stellt ihnen Offizierskadetten entgegen. Die Streikenden suchen Kontakt mit der Besatzung der „Finnland-Kaserne“. Gleichzeitig greift der Streik auf die Baltisky-Werke über, auf die Fabrik Laferm und eine Anzahl anderer Industriebetriebe. Die Arbeiter der Schuhfabrik Skorokhod legen die Arbeiter nieder, die Belegschaften drei weiterer Fabriken schließen sich an, am 28. erreicht der Streik die Putilow_Werft.

 

Die Streikparolen betrafen die wirtschaftlichen Verhältnisse, die Organisation der Versorgung. Die Belegschaft mehrerer Fabriken forderte die Wiedereröffnung der Märkte, den freien Verkehr innerhalb der 50-km-Zone und die Abschaffung von Milizkontrollen gegen Hamsterer.

 

Aber auch politische Forderungen wurden erhoben: die Freiheit der Meinung und der Presse sowie die Freilassung politischer Häftlinge. In einigen Fabriken wurde den Kommunisten die Gefolgschaft aufgekündigt.

 

Angesichts der verzweifelten Lage des russischen Arbeiters, aus der er legitimerweise einen Ausweg suchte, fanden Sinowjew (der sich nach zahlreichen übereinstimmenden Quellen in Petersburg wie ein morgenländischer Satrap gebärdete) und sein opportunistisches örtliches Parteikomitee keine anderen Argumente als die der Waffe. „Es galt“, so schreibt Poukhow, offizieller Chronist des Kronstädter Aufstandes, „entschiedene, klassenbewusste Maßnahmen zu ergreifen. Die Feinde der Revolution versuchten, Teile des Proletariats zu verführen, um mit ihrer Hilfe der Arbeiterklasse und ihrer Vorhut, der Kommunistischen Partei, die Macht zu entreißen.“

 

Am 24. Februar wurde ein dreiköpfiger Verteidigungsausschuss mit Sondervollmachten ernannt, der über einen Stab technischer Funktionäre verfügte. Auch in jedem Stadtviertel wurde eine „Troika“, ein Dreierausschuss, eingesetzt, bestehend aus dem Parteisekretär des Viertels, einem kommunistischen Bataillonskommandanten und einem Vertreter des Militärgerichts. Für die Distrikte wurden Komitees ernannt, in denen der zuständige Parteisekretär, der Vorsitzende des Exekutivrates des örtlichen Sowjets und der Militärkommissar des Bezirks saßen.

 

Der Verteidigungsausschuss rief noch am selben Tag den Belagerungszustand aus und erließ folgende Anordnung:

 

„Erlass des Verteidigungsausschusses für die Festung Petersburg.

 

Nach Anordnung des Exekutivrates des Petrosowjets vom 24. Februar ist der Verteidigungsausschuss verpflichtet, für die Stadt Petersburg den Belagerungszustand auszurufen. In Ausführung dieser Anordnung geben wir der Bevölkerung Petersburgs bekannt:

 

1. Der Verkehr auf den Straßen ist nach 23.00 Uhr strengstens verboten;
2. Sämtliche Versammlungen, Aufläufe und Kundgebungen sind sowohl unter freien Himmel als auch in geschlossenen Räumen ohne ausdrückliche Genehmigung durch den Verteidigungsausschuss verboten;
3. Personen, die diesem Befehl nicht folge leisten, werden nach Kriegsrecht bestraft.

 

Diese Anordnung tritt mit ihrer Veröffentlichung in Kraft.

 

 

Der Militärkommandant von Petersburg: Awrow

 

Für den Verteidigungsrat: Laschewitsch

 

Der Festungskommandant: Bulin“

 

 

Gleichzeitig wurde die Mobilmachung der Parteimitglieder ausgerufen. Die aktivsten Streikbeteiligten wurden verhaftet, die Spezialeinheiten wurden in Verteidigungsbereitschaft gesetzt – hingegen stellte am 28. Februar die Zollmiliz ihre Arbeit im Departement Petersburg ein.

 

 

 

II.3 – Die Resolution der Kronstädter Matrosen

 

 

Die Matrosen von Kronstadt waren selbstverständlich an dem Geschehen in Petersburg interessiert und entsandten am 26. Februar ihre Deligierten dorthin, um sich über den Streik zu unterrichten. Diese Delegation besuchte eine Reihe von Fabriken und kehrte am 28. Februar nach Kronstadt zurück. Am selben Tag fasste die Mannschaft des Kreuzers Petropawlowsk nach Anhörung der Berichte diese Resolution ab:

 

„Wir haben den Bericht des Ausschusses angehört, den die Versammlung aller Matrosen der Ostseeflotte nach Petersburg entsandte, um die Lage dort zu erkunden, und wir beschließen daraufhin:

 

 

1. Da die gegenwärtigen Sowjets den Willen der Arbeiter und Bauern nicht mehr ausdrücken, augenblicklich neue, geheime Wahlen auszuschreiben und für den Wahlkampf die volle Freiheit für die Agitation bei den Arbeitern und Soldaten zu garantieren;
2. Den Arbeitern und Bauern sowie allen anarchistischen und linkssozialistischen Gruppen die Rede- und Pressefreiheit zu gewähren;
3. Die Versammlungs- und Koalitionsfreiheit aller Gewerkschaften und Bauernorganisationen zu garantieren;
4. Eine überparteiliche Konferenz der Arbeiter, der Soldaten der Roten Armee und der Matrosen von Petersburg, Kronstadt und der Petersburger Provinz einzuberufen, die spätestens am 10. März stattfinden soll;
5. Alle politischen Gefangenen, die sozialistischen Parteien angehören, freizulassen und alle Arbeiter, Bauern und Matrosen aus der Haft zu entlassen, die im Zusammenhang mit Arbeiter- und Bauernunruhen inhaftiert worden sind;
6. Zur Überprüfung all jener, die in Gefängnissen und Konzentrationslagern festgehalten werden eine Überprüfungskommission einzusetzen;
7. Alle Politotdijel (politischen Büros der Kommunisten) abzuschaffen, da keine Partei besondere Privilegien zur Verbreitung ihrer Ideen oder finanzielle Hilfen von seiten der Regierung beanspruchen darf; an ihrer Stelle sind Kommissionen für Kultur und Erziehung zu bilden, die lokal zu wählen und von der Regierung zu finanzieren sind;
8. Alle Sagraditelnije ortrajdi (bewaffnete Ordnungspolizeitruppen der Bolschewiki) sind sofort aufzulösen
9. Die Lebensmittelrationen für alle Arbeitenden sind gleich hoch anzusetzen; auszunehmen sind nur diejenigen, die durch ihre Arbeit gesundheitlich besonders gefährdet sind;
10. Die kommunistischen Spezialabteilungen in allen Formationen der Roten Armee und die kommunistischen Betriebsschutztruppen sind abzuschaffen; sie sind – wo nötig – durch Einheiten zu ersetzen, die aus der Armee selbst hervorgehen und in den Fabriken von den Arbeitern selbst zu bilden sind;
11. Den Bauern ist die volle Verfügungsgewalt über ihr Land zu geben, auch das Recht, eigenes Vieh zu halten, unter der Bedingung, dass sie mit ihren eigenen Mittel, das heißt ohne gedungene Arbeitskräfte auskommen;
12. Alle Soldaten und Matrosen sowie die Militärkadetten sind aufzufordern, sich unseren Beschlüssen anzuschließen;
13. Es ist dafür zu sorgen, dass unsere Beschlüsse durch die Presse weithin bekanntgemacht werden;
14. Es ist eine reisende Kontrollkommission zu benennen;
15. Die freie Kustarnoe-Produktion (das heißt die individuelle Handwerks- und Gewerbearbeit) ist zuzulassen, soweit sie nicht auf der Ausbeutung von Arbeitskräften beruht.“

 

 

Diese Resolution, die von der Vollversammlung der Kronstädter Matrosen wie auch von Einheiten der Roten Armee angenommen wurde und die Zustimmung der arbeitenden Bevölkerung fand, verdient als politisches Programm des Aufstandes eine genauere Analyse.

 

 

 

II.4 – Analyse der Resolution

 

 

Die Kronstädter Matrosen waren sich ebenso wie die Streikenden in Petersburg darüber im klaren, dass die wirtschaftlichen Verhältnisse in Russland in direkter Beziehung zu den politischen standen. Ihre Unzufriedenheit bezog sich genauso auf die Hungersnot wie auf die politischen Zustände. Die russischen Proletarier hatten ihre großen Hoffnungen auf die Sowjets gesetzt und mussten nun enttäuscht zusehen, wie deren Macht immer mehr von einer einzigen Partei absorbiert wurde, die zudem in der Ausübung absoluter Herrschaft und unter dem Einfluss von Karrieremachern degenerierte. Ihre Resolution wandte sich gegen die Alleinherrschaft dieser Partei.

 

Punkt 1 der Resolution kennzeichnet eine Vorstellung, die gerade von den besten der russischen Arbeiter geteilt wurde; dass nämlich die vollkommen bolschewisierten Sowjets nicht mehr den Willen der Arbeiter und Bauern ausdrückten. Daher die Forderung nach Neuwahlen bei gleichen Chancen für alle politischen Richtungen.

 

Sollte es zu einer solchen Neubelebung der Sowjets kommen, mussten jedoch alle politischen Richtungen ohne Furcht vor Verleumdung und Verfolgung zu Worte kommen können. Daher die Forderung nach Rede-, Presse-, Versammlungs- und Koalitionsfreiheit.

 

Es ist zu berücksichtigen, dass die Landbevölkerung damals weitgehend materiell nivelliert war; die Kulaken waren enteignet. Die Behauptung, durch Meinungsfreiheit auf dem Lande waren den Kulaken politische Rechte zugestanden worden, ist also unzutreffend. (Tatsächlich wurde schon wenige Jahre später der Landbevölkerung nahegelegt, sich „zu bereichern“ - übrigens von Bucharin, dem damaligen Parteiideologen.)

 

Die Resolution der Kronstädter hatte den Vorzug der Klarheit – nicht der Neuheit. Ihre Leitidee waren überall verbreitet, sie lagen gewissermaßen in der Luft. Überall füllten sich die Gefängnisse und neugegründeten Konzentrationslager mit Arbeitern und Bauern, die sich zu diesen Ideen bekannt hatten. Die Kronstädter vergaßen diese Kampfgenossen nicht. Sie widmeten ihnen zwei Punkte ihrer Resolution; mit Punkt 6 ist eine Kontrolle der unzureichend objektiven Sowjetjustiz beabsichtigt, eine Forderung, die ganz in alter proletarischer Tradition steht. Als Kerenskij im Juli 1917 in Petersburg die baltische Delegation verhaften ließ, hatte Kronstadt unverzüglich eine Delegation geschickt, die ihre Freilassung erwirken sollte. - Die Resolution von 1921 nimmt diesen Gedanken wieder auf.

 

Die Punkte 7 und 10 wenden sich gegen das Monopol einer herrschenden Partei, die ausschließlich und unkontrolliert von Staatskasse, Militär und Polizei Gebrauch macht.

 

Punkt 9, in dem gleiche Rationen für alle Arbeiter gefordert werden, widerlegt eine spätere Äußerung Trotzkis aus dem Jahre 1938, der damals behauptet (in seiner Antwort an Wendelin Thomas): „Während das Land Hunger litt, verlangten die Kronstädter Privilegien.“

 

Punkt 14 greift auf eine alte Forderung des Vor-Oktober zurück: Kontrolle durch die Arbeiter. Man erkannte in Kronstadt, dass die Basis keine echte Kontrollmöglichkeiten besaß und wollte diese nun endlich einführen.

 

Punkt 11 schließlich bringt Forderungen der Bauern zur Sprache, mit denen sich die Kronstädter Matrosen – wie Übrigens das ganze russische Proletariat – nach wie vor verbunden wussten. Diese Verbindung erklärt sich aus der besonderen Entwicklung der russischen Industrie, die sich aufgrund der relativ lang anhaltenden feudalen Strukturen nicht aus dem städtischen Handwerk, sondern aus der Landbevölkerung rekrutiert hatten. Bleibt also festzuhalten: Die baltische Matrosen hatten 1921 im Vergleich zu 1917 eine ungebrochen starke Beziehung zur Landbevölkerung. Sie nahm eine der großen Parolen der Oktoberrevolution auf, indem sie das Recht des Bauern auf eigenes Land und Vieh unter der Voraussetzung unterstützen, dass damit keine Ausbeutung von Arbeitskräften verbunden sein durfte.

 

In der damaligen Situation bedeutete das zugleich einen Versuch, die nahezu tödliche Versorgungskrise der Bevölkerung, ein Ergebnis andauernder Requisitionen, zu sanieren.

 

Es stellt sich die Frage, ob in Punkt 11 tatsächlich konterrevolutionäres Denken zum Ausdruck kommt, dass den allrussischen Kreuzzug gegen die Kronstädter Matrosen rechtfertigen könnte. Ein Regime, das sich als Staat der Arbeiter und Bauern ausgab und nicht ausschließlich mit Lüge und Terror arbeiten wollte, musste die Belange der Bauern berücksichtigen könnten, ohne damit seine revolutionären Charakter einzubüßen. Übrigens standen die Kronstädter mit diesen Forderungen für die Bauern nicht allein. Auch in der Ukraine gab es jener Zeit eine Machno-Bewegung, die auf revolutionäre Ursprünge zurückging, ihre eigenen Forderungen aufstellte und sie mit dem unbestreitbaren Hinweis auf ihr Mitwirken bei der Niederschlagung der feudalen Söldnertruppen unterstrich. Damit, meinten die Machnoanhänger, hätten sie das Recht erworben, über ihr Zusammenleben selbst zu bestimmten. Diese Machno-Bewegung war, entgegen den zwar sehr kategorischen, aber unbewiesenen Behauptungen Trotzkis, nicht von Kulaken inspiriert. Kubanin, ihr bolschewistischer Chronist , weist vielmehr mit Hilfe von Statistiken nach, dass diese Bewegung in solchen Gebieten entstand und sich entwickelte, wo allergrößte Armut herrschte.

 

Die Machno-Bewegung wurde blutig niedergeschlagen.

 

Es steht jedenfalls fest, dass die inkonsequente Agrarpolitik der Bolschewisten schädlich war; 1931, zehn Jahre nach Kronstadt, mündete sie schließlich in die berüchtigte Kulakenverfolgung. In seiner sehr differenzierten Untersuchung dieser Angelegenheit kommt Suwarin zu diesem Schluss: „Es wurden wenigstens fünf Millionen Dorfbewohner ohne Ansehen des Geschlechts oder Alters aus ihren Häusern vertrieben und damit zu unverdientem Elend, wenn nicht dem Tod verurteilt.“ Und auch das konnte übrigens die Agrarprobleme nicht lösen denn die heutigen Kolchosen scheinen nur unter dem Zwang der allmächtigen GPU zu funktionieren. Es steht zu vermuten, dass dieser „Sozialismus mit der Knute“ keine großen Früchte tragen wird.

 

Die Forderung des Punktes 15 schließlich nach der Freistellung handwerklicher Produktion hatte augenscheinlich keinen prinzipiellen Stellenwert. Das Handwerk sollte nach Absicht der Kronstädter lediglich vorübergehend den totalen Produktionsausfall der Industrie überbrücken helfen.

 

 

 

III. Der Aufstand von Kronstadt

 

 

III. 1 – Der Anlass (1. und 2. März 1921)

 

 

Der Sowjet von Kronstadt war jeweils am 2. März zu wählen. Für den 1. März war ein Meeting der 1. und 2. Brigade der Linienschiffe ordnungsgemäß durch Veröffentlichung in der Kronstädter Tageszeitung einberufen worden.

 

Bei dieser Gelegenheit sollten unter anderen Kalinin, Präsident des Allrussischen Exekutivrates der Sowjets, und Kusmin, Politkommissar der Baltischen Flotte, öffentlich sprechen. Kalinin wurde bei seiner Ankunft mit Musik, Fahnen und militärischen Ehren empfangen. 16.000 hatten sich zu dem Meeting unter Vorsitz des örtlichen Sowjetpräsidenten Wassilijew eingefunden. Die am Vortag nach Petersburg entsandte Delegation erstattete Bericht; ebenfalls wurde die am 28. Februar von der Petropawlowsk-Besatzung verabschiedete Resolution verlesen. Kalinin, der mit Kusmin die Resolution ablehnte, wies darauf hin, dass „Kronstadt nicht für ganz Russland sprechen könne“. Dennoch votierte die ganze Versammlung für diese Resolution, bei zwei Gegenstimmen, denen von Kalinin und Kusmin. Weiter wurde die Entsendung einer dreißigköpfigen Delegation nach Petersburg beschlossen; gleichzeitig wurde eine Petersburger Delegation eingeladen, die Verhältnisse unter den Kronstädter Matrosen kennenzulernen. Schließlich wurde für den folgenden Tag eine Versammlung einberufen, an der Delegierte der Kriegsschiffe, der Roten Armee, der Behörden, der Werften, Fabriken und Gewerkschaft teilnehmen sollten, um über die Frage der Neuwahlen zum örtlichen Sowjet zu beraten. Kalinin gelangte übrigens unbehelligt nach Petersburg zurück.

 

Am 2. März tagte die Delegiertenversammlung. Nach Angaben der Kronstädter Iswestija waren diese Delegierten ordnungsgemäß gewählt. Man kam überein, ordentliche Wahlen durchzuführen. Als erste sprachen Kusmin und Wassilijew. Kusmin betonte in seinen Ausführungen, die Kommunisten würden ihre Macht nicht kampflos aufgeben. Die beiden Reden waren so aggressiv und provokant, dass die Versammlung die Entfernung und Arrestierung der beiden Sprecher verlangte. Andere anwesende Kommunisten kamen jedoch ausführlich zu Wort.

 

Die Delegiertenversammlung nahm mit großer Mehrheit die Resolution der Petropawlowsk an. Danach wollte man die Frage der Neuwahlen detailliert untersuchen. Dazu kam es jedoch nicht; plötzlich verbreitete sich das Gerücht, die Bolschewisten planten einen bewaffneten Angriff auf die Versammlung. In dieser alarmierenden Situation wurde ein provisorisches Revolutionskomitee durch die Versammlung ernannt, dem alle Vorsitzenden der Delegiertenversammlung angehörten und das seine Beratungen auf der Petropawlowsk aufnahm, wo auch Kusmin und Wassilijew festgehalten wurden.

 

Das Provisorische Revolutionskomitee bestand aus folgenden 15 Mitgliedern:

 

 

Petritschenkow – Obermaat auf der Petropawlowsk;
Jakowenkow – Telefonist im Bezirk Kronstadt;
Ososow – Maschinist auf der Sewastopol;
Archipow – Maschineningenieur;
Perepelkin – Mechaniker auf der Sewastopol;
Patruschew – Erster Mechaniker auf der Petropawlowsk;
Kupolow – Ärztlicher Oberassistent;
Werschinin – Matrose auf der Sewastopol;
Tukin – Elektriker;
Romanenkow – Vorarbeiter im Trockendock;
Oreschin – Leiter der 3. Technischen Schule;
Walk – Zimmermann;
Pawlow – Arbeiter bei den Seeminen-Werkstätten;
Bajkow – Fuhrmann beim Festungsbau;
Kilgast – Vollmatrose.

 

 

Diese Liste macht deutlich, dass die Mitglieder des Komitees zum großen Teil altgediente Matrosen waren. Die offizielle Version lautet hingegen, dass die Revolte von Elementen angeführt wurde, die erst vor kurzem in die Marine eingetreten waren und nichts mit den Helden von 1917 gemein hatten.

 

Während des 2. März besetzten die Kronstädter unter der Führung des Komitees die strategischen Punkte der Stadt, die Gebäude der staatlichen Verwaltung, des Generalstabs, die Telegraphen- und Telefonbüros. Auf den Schiffen und in den Armeekorps wurden Dreiergremien (Troikas) eingesetzt. Gegen 9 Uhr abends hatte sich ein Großteil der Festungsbesatzung und der roten Armeekorps angeschlossen. Es erschien eine Delegation von Oranienbaum und erklärte die Bereitschaft der dortigen Garnison, sich dem Komitee zu unterstellen.

 

Am selben Tage wurde die Druckerei des Iswestija besetzt, am folgenden Tag erschien die erste vom Provisorischen Revolutionskomitee herausgegebene Nummer mit der Mitteilung: „Die Kommunistische Partei, als Herrscher im Staat, hat sich von den Massen gelöst. Sie hat ihre Unfähigkeit bewiesen, das Land aus dem Chaos herauszuführen. Die Unruhen in Petersburg und Moskau machen deutlich, dass sie das Vertrauen der Arbeitermassen verloren hat. Sie kümmert sich nicht um die Forderungen der Arbeiter, denn sie sieht in ihren Unruhen nur konterrevolutionäre Umtriebe. Das ist ihr grundlegender Irrtum. Am 2. März hatten sich die Delegierten aller Arbeiterorganisationen, der Flotte und der Roten Armee im Kulturhaus mit der Absicht versammelt, die Voraussetzungen für Neuwahlen zu schaffen, um den friedlichen Wiederaufbau der Herrschaft der Sowjets zu beginnen. Veranlasst aber durch Drohungen der Repräsentanten der Macht, Kusmins und Wassilijews, und in der Furcht vor Repressalien, beschloss die Versammlung die Einsetzung eines Provisorischen Revolutionskomitees, dem sie für alle Angelegenheiten der Stadt und der Festung die volle Verantwortung übertrug.

 

Das Provisorische Revolutionskomitee hat die Absicht, kein Blut zu vergießen. Es hat zu außergewöhnlichen Maßnahmen gegriffen, die in der Stadt, der Festung und in den Bastionen eine revolutionäre Ordnung garantieren. Das Komitee will, vereint mit den Kräften von Stadt und Festung, die Voraussetzungen für ordentliche Wahlen zum neuen Sowjet schaffen.“

 

Am selben Tag verbreitete Radio Moskau diesen „Aufruf zum Kampf gegen das Komplott der Weißen Garde“: „Die Meuterei General Koslowskijs und des Kriegsschiffes Petropawlowsk ist ebenso wie andere Aufstände der Weißen Garde das Werk von Agenten der Entente; das erhellt aus der Tatsache, dass die französische Zeitung „Le Matin“ zwei Wochen vor dem Aufstand General Koslowskijs folgende Depesche aus Helsingfors veröffentlichte: ‚Wie wir aus Petersburg erfahren, haben die militärischen Befehlshaber der Bolschewisten infolge der letzten Revolte in Kronstadt eine Reihe von Maßnahmen ergriffen, die diese Stadt isolieren und den Matrosen und Soldaten aus Kronstadt den Aufenthalt in Petersburg untersagen.‘ Es liegt auf der Hand, dass der Aufstand in Kronstadt von Paris aus gesteuert wird …, dass die französische Gegenspionage ihre Hände im Spiel hat. Die Geschichte wiederholt sich immer. Die Revolutionären Sozialisten mit ihrer Zentrale in Paris bereiten den Boden für einen neuen Aufstand gegen die Macht der Sowjets. Ist ihnen das gelungen, so taucht hinter ihnen als wirklicher Führer der zaristische General auf. Genauso war es, als Koltschak nach Vorarbeit der Revolutionären Sozialisten die Macht an sich reißen konnte.“

 

So verschieden stellten sich die Fakten und deren Interpretation bei den beiden Antagonisten dar.

 

Der Aufruf von Radio Moskau kam zweifellos von der Spitze des Politbüros der Partei. Er war mit Genehmigung Lenins lanciert worden, der über die Situation in Kronstadt unterrichtet sein musste. Selbst wenn er Ratschläge von Sinowjew eingeholt haben sollte, dessen panische Ängstlichkeit er kennen musste, ist nicht anzunehmen, dass ihm der wirkliche Tatbestand unbekannt war, denn Kronstadt hatte am 2. März eine Delegation zu ihm geschickt, die er nach den wahren Motiven des Aufstandes hätte fragen können. Es steht außer Zweifel, dass Lenin, Trotzki und die ganze Parteispitze sehr genau wussten, dass es sich nicht um eine Revolte der Generäle handelte. Warum erfand man die Legende vom General Koslowskij als angeblichem Kopf der Meuterei? Die Antwort findet sich in der den Bolschewiken eigenen Moral, die manchmal übrigens sehr blind ist, da sie nicht sieht, dass eine Lüge sich auch gegen ihren Urheber wenden kann. Die Legende von General Koslowskij ebnete einer späteren Legende den Weg, die in den Jahren 1928/1929 Trotzki eine „Verschwörung“ mit einem Wrangel-General andichtete. Wer war überhaupt dieser General Koslowskij, den der offizielle Sender als Führer des Aufstandes ausgab? Er war Artilleriegeneral, einer der ersten, der sich vonseiten der Roten anschloss. Als einfacher Techniker schien er über keinerlei Führungsqualitäten zu verfügen. Als es zum Aufstand kam, kommandierte er die Kronstädter Artillerie, hätte aber nach der Flucht des kommunistischen Festungskommandanten gemäß dem herrschenden Festungsreglement dessen Stelle einnehmen müssen. Er weigerte sich mit dem Vorwand, die Festung stünde unter dem Befehl des Provisorischen Revolutionskomitees, damit sei das alte Reglement außer Kraft gesetzt. Koslowskij blieb also in Kronstadt, aber lediglich als Artillerie-Spezialist. Übrigens machte er nach dem Fall Kronstadts in Interviews mit finnischen Zeitungen den Matrosen den Vorwurf, sie hätten wertvolle Zeit mit anderen Fragen vertan, als mit der Verteidigung der Festung. Er erklärte das mit der Absicht der Kronstädter, jedes Blutvergießen zu verhüten. Später beschuldigten auch andere Offiziere der Kronstädter Garnison die Matrosen der militärischen Unfähigkeit und des absoluten Misstrauens ihren technischen Beratern gegenüber. - Koslowskij war also der einzige in Kronstadt verbliebene General, dessen Namen sich die Regierung bedienen konnte und bediente.

 

Dennoch stimmt es, dass die Kronstädter teilweise auf die militärischen Fähigkeiten von Offizieren zurückgriffen, die sich im Augenblick des Aufstandes in der Festung befanden. Es ist möglich, dass diese Offiziere den Aufständischen ihren Rat nur aus Feindschaft gegen die Bolschewisten zur Verfügung stellten. Aber auch die Regierungstruppen bedienten sich der militärischen Erfahrung alter Offiziere bei ihrem Angriff auf Kronstadt. Wenn also auf der einen Seite ein Koslowskij, ein Salomianow, ein Arkannikow und einige andere wenig bekannte Offiziere standen, so setzte man auf der Gegenseite Toukhatschewskij, Kamenew, Amrow und andere Militärspezialisten des alten Regimes ein. Auf beiden Seiten aber wirkten die Offiziere niemals als unabhängige, eigenständige Kraft.

 

 

 

III.2 – Der Höhepunkt (2. bis 7. März 1921)

 

 

Am 2. März hatten die Kronstädter im Bewusstsein ihrer Rechte, ihrer Pflichten und der moralischen Kraft ihrer revolutionären Tradition mit der Wiederherstellung des von der Einheitspartei korrumpierten Rätesystems begonnen.

 

Am 7. März eröffnete die Zentralregierung ihre militärischen Operationen gegen Kronstadt.

 

Was war in der Zwischenzeit geschehen?

 

 

In Kronstadt organisiert das um 5 kooptierte Mitglieder erweiterte Provisorische Revolutionskomitee das Leben in der Stadt und der Festung. Es beschließt, zur inneren Verteidigung der Stadt das Proletariat zu bewaffnen. Es setzt weiterhin Neuwahlen innerhalb einer Frist von 3 Tagen für die Leitungsorgane der Gewerkschaften und den Gewerkschaftsrat an, dem es wichtige Aufgaben zugedacht hatte.

 

Einfache KP-Mitglieder verließen massenhaft die Partei, um ihr Vertrauen in das Provisorische Revolutionskomitee zu manifestieren. Das von einer Fraktion von ihnen gegründete provisorische Parteibüro verfasste einen Aufruf:

 

„Traut nicht den absurden Gerüchten von Elementen, die nur Blutvergießen provozieren wollen. Sie behaupten, verantwortliche Kommunisten würden hingerichtet und daher sei aus ihren Kreisen mit einem militärischen Angriff zu rechnen.

 

Das ist eine absurde Propagandalüge von Ententeagenten mit der Absicht, die Macht der Sowjets zu stürzen.

 

Das provisorische Büro der Kommunistischen Partei hält die Neuwahl zum Sowjet für unabdingbar und forderte alle Mitglieder zur Teilnahme auf.

 

Das provisorische Büro der Kommunistischen Partei fordert weiterhin alle Mitglieder auf, ihre Posten nicht zu verlassen und nichts gegen die Maßnahmen des Provisorischen Revolutionskomitees zu unternehmen.

 

Es lebe die Macht der Sowjets.

 

Es lebe die weltweite Union der Arbeiter.

 

Für das provisorische Büro der Kommunistischen Organisation von Kronstadt

 

Ilin (ehem. Versorgungskommissar)

 

Perwuschin (ehem. Vorsitzender des lokalen Exekutivrates)

 

Kabanow (ehem. Vorsitzender des Bezirksbüros der Gewerkschaft)

 

 

Poukhow sagt in einer Stellungnahme zu diesem Dokument:

 

„Man kann dieses Dokument nur als Verrat betrachten: ein opportunistischer Schritt zur Kollaboration mit den Rädelsführern des Aufstandes, der tatsächlich konterrevolutionären Charakter hatte.“

 

Poukhow bestätigt den Einfluss dieses Dokuments auf die Massenaustritte an der Parteibasis; nach seinen Angaben verließen 780 Kommunisten die Organisation.

 

Die Iswestija empfing eine Reihe von Zuschriften, in denen Parteiaustritte begründet wurden. Hier der Brief des Lehrers Denissow:

 

„Ich erkläre öffentlich vor dem Provisorischen Revolutionskomitee, dass ich mit dem ersten Kanonenschuss auf Kronstadt meine Mitgliedschaft in der Partei für beendet halte und mich der Parole der Arbeiter Kronstadts anschließe: ‚Alle Macht den Räten – nicht der Partei!‘.“

 

Ein anderer Kommunist, Baranow, Chef der Hafenwache, schreibt:

 

„Die Partei repräsentiert nicht mehr den Willen weiter Bevölkerungskreise; das wird u. a. in Briefen aus der Provinz bestätigt, die von dem Unglück und der Verfolgung berichten, die den Bauern von der Partei zugefügt werden. Ich will nicht mehr als Mitglied der KP betrachtet werden; Ich schließe mich der Resolution vom 1. März an und werde die Anordnungen des Provisorischen Revolutionskomitees befolgen.“

 

Mitglieder einer Spezialkompagnie für Disziplin erklären:

 

„Die Unterzeichneten sind in die Partei mit der Annahme eingetreten, dass diese den Willen der Massen der Arbeiter ausdrückt. Tatsächlich betätigt sich aber die Partei als Folterknecht der Arbeiter und Bauern. Das beweisen die letzten Vorfälle in Petersburg, die den unehrlichen Charakter der Parteiführer demaskieren, denen nach Moskauer Radioberichten jedes Mittel zur Erhaltung ihrer Macht genehm ist.

 

Wir wollen fortan nicht mehr als Mitglieder der Partei gelten und schließen uns vorbehaltlos der Resolution an, wie sie von der Versammlung der Kronstädter Garnison am 2. März verabschiedet wurde.

 

Auch bitten wir alle Genossen, die ihren Irrtum einsehen, dies öffentlich zuzugeben.

 

Gezeichnet: Gutman, Jerimow, Kudriatzew, Andrejew“

 

(Iswestija vom 7. März)

 

Die Kommunisten der Festung „Rif“ veröffentlichen diese Resolution:

 

„In den letzten drei Jahren hat unsere Partei vielen Karrieremachern und Revolutionsgewinnlern Aufnahme gewährt und damit Bürokratismus und Sabotage im Kampf gegen das wirtschaftliche Debakel ins Kraut schießen lassen. Unserer Partei lag immer der Kampf gegen die Feinde des Proletariats und der Arbeiterklasse am Herzen; wir erklären öffentlich, dass wir auch weiterhin als Söhne des Volkes die Errungenschaften der Arbeiter verteidigen werden.

 

Wir werden es keiner Weißen Garde erlauben, dass sie sich die schwierige Situation der Sowjetrepublik zunutze macht und werden ihr schon beim ersten Versuch die gehörige Antwort erteilen.

 

Wir erklären abermals, dass wir uns dem Provisorischen Revolutionskomitee unterstellen, dessen Ziel die Schaffung der Sowjets der Arbeiter- und Bauernklasse ist.

 

Es lebe die Macht der Räte, der wahren Verteidiger der Arbeiterrechte.

 

Gezeichnet: Der Vorsitzende der Versammlung der Kommunistischen Festung „Rif“

 

Gezeichnet: Der Sekretär“

 

(Iswestija vom 7. März)

 

Gewiss könnte man glauben, dass derartige Erklärungen von Parteimitgliedern unter dem Diktat oder Zwang eines in Kronstadt herrschenden Terrorregimes zustande gekommen wären. Aber während der ganzen Zeit des Aufstandes ist in Kronstadt kein einziger inhaftierter Bolschewist hingerichtet worden, obwohl sich unter ihnen die verantwortlichen Flottenchefs, Kusmin und Batys, befanden. Bleibt noch zu erwähnen, dass die Mehrheit der Bolschewisten sich überhaupt in Freiheit befand.

 

In der Iswestija vom 7. März finden wir einen Artikel unter der Überschrift: „Wir rächen uns nicht!“.

 

„Die lang erduldeten Repressionen der bolschewistischen Diktatur haben in der Masse zu einer verständlichen Verärgerung geführt, die sich an einigen Orten im Boykott oder der Entlassung der Eltern von Bolschewisten Luft macht. Das darf nicht geschehen! Wir rächen uns nicht; wir verfolgen lediglich unsere Interessen als Arbeiter. Wir müssen uns Zurückhaltung auferlegen und lediglich die Saboteure entfernen sowie die lügnerischen Agitatoren, die die Wiederherstellung der Macht und der Rechte der Arbeiter zu verhindern suchen.“

 

In Petersburg hatte man ganz andere Vorstellungen von Humanität. Auf die Nachricht von der Verhaftung Kusmins und Wassilijews verfügte das Verteidigungskomitee die Verhaftung aller in Petersburg ansässigen Familienangehörigen von Kronstädter Matrosen. Über Kronstadt wurden vom Flugzeug aus Zettel mit dieser Warnung abgeworfen:

 

„Das Verteidigungskomitee gibt die Verhaftung von Familien von Kronstädter Matrosen bekannt, die als Geiseln für unsere von den Aufständischen verhafteten Genossen, insbesondere den Flottenkommissar Kusmin und den Vorsitzenden des Kronstädter Sowjet, Wassilijew, festgehalten werden. Wenn ihnen auch nur ein Haar gekrümmt wird, werden diese Geiseln es zu büßen haben.“ (Iswestija vom 5. März)

 

Das Provisorische Revolutionskomitee antwortet auf diese Botschaft über Radio:

 

„Im Namen der Garnison von Kronstadt verlangt das Provisorische Revolutionskomitee innerhalb von 24 Stunden die Freilassung jener Familien von Arbeitern, Matrosen und Soldaten, die vom Petrosowjet als Geiseln festgehalten werden. Die Garnison von Kronstadt betont, dass in Kronstadt die Kommunisten volle Freiheit genießen und dass ihre Familien absolut unangetastet bleiben; sie weigert sich, dem Beispiel des Petrosowjet zu folgen, denn sie betrachtet eine solche Handlungsweise, selbst wenn sie von Hass diktiert ist, als unendlich niedrig und verwerflich.

 

Gezeichnet: Der Vorsitzende des PRK: Petritschenkow, Matrose; Kilgast, Sekretär“

 

(Iswestija vom 7. März 1921)

 

Um Gerüchten zu begegnen, wonach inhaftierte Kommunisten gefoltert wurden, beschloss das Provisorische Revolutionskomitee die Einsetzung einer Spezialkommission zur Untersuchung aller Fälle von Kommunistenvehaftungen. In diese Kommission wollte man auch einen Vertreter der KP aufnehmen, wie die Iswestija vom 4. März meldet. Diese Kommission scheint sich jedoch nie konstituiert zu haben, da schon 2 Tage später die Bombardierung Kronstadts begann. Tatsache ist jedoch, dass das Provisorische Revolutionskomitee eine KP-Delegation empfing, die zur Inspektion der Gefangenen auf der Petropawlowsk autorisiert wurde. Die dort Festgehaltenen hatten übrigens Versammlungsfreiheit und sogar das Recht zur Herausgabe einer Wandzeitung ‚Aus dem Gefängnis der Kommunarden‘ (nach Zaikowakij, „Kronstadt 1917 – 1922“).

 

Man darf also den Schluss ziehen, dass in Kronstadt kein Terror herrschte und dass die Aufständischen sich unter den schwierigen und tragischen Umständen alle Mühe gaben, ihre Begriffe von Arbeiterdemokratie aufrecht zu erhalten.

 

Auch die massenhaften Ergebenheitsadressen von Angehörigen der Parteibasis an das Provisorische Revolutionskomitee drückten diesen Willen der arbeitenden Bevölkerung aus. Im Rückblick erscheint dieser demokratische Wille der Kronstädter beinahe unerhört angesichts des Denkens und der Taten jener, die in Petersburg und Moskau herrschten: verständnislos, taub und blind für die Forderungen der Kronstädter und der arbeitenden Massen in der UdSSR.

 

Ein objektiver Beobachter wird nicht verstehen können, wie man in jenen tragischen Tagen, da sich die Katastrophe noch hätte abwenden lassen, eine solche Sprache sprechen konnte wie das Verteidigungskomitee von Petersburg, es sei denn in der festen Absicht, ein Blutbad zu provozieren und die bedingungslose Übergabe der Matrosen durchzusetzen. Am 5. März richtete das Verteidigungskomitee von Petersburg einen Appell an die Aufständischen:

 

„Das habt ihr nun erreicht! - Man will Euch einreden, Petersburg, Sibirien und die Ukraine stünden auf Eurer Seite. Das ist eine unverschämte Lüge! In Petersburg wird Euch auch der letzte Matrose im Stich lassen, sobald er erfährt, dass Ihr von Generälen vom Schlage eines Koslowskij geführt werdet.

 

Sibirien und die Ukraine stehen fest zur Macht der Sowjets. Petersburg lacht über die unglücklichen Anstrengungen einer Handvoll Revolutionärer Sozialisten und Weißgardisten.

 

Ihr seid von allen Seiten eingeschlossen. In wenigen Stunden werdet Ihr Euch ergeben müssen. Kronstadt hat kein Brot und Brennmaterial. Weigert Ihr Euch, so wird man Euch wie Enten auf dem Teich abschießen.

 

Alle Generäle vom Schlage Koslowskij und Bourkser, solche Canaillen wie Petritschenkow und Turin werden sich im letzten Augenblick zu den Weißgardisten nach Finnland absetzen. Wo aber werdet Ihr hingehen, die einfachen Matrosen und Soldaten? Wenn Ihr an die versprochene Aufnahme in Finnland glaubt, täuscht Ihr Euch. Habt Ihr nicht gehört, wie es den Wrangelsoldaten ergangen ist, die nach Konstantinopel gebracht wurden und dort hungrig und krank wie Fliegen starben? Gleiches droht Euch, wenn Ihr nicht schnell zur Besinnung kommt! Verliert keine Minute und ergebt Euch sofort. Sammelt die Waffen ein und kommt zu uns. Entwaffnet und verhaftet die Rädelsführer und vor allem die zaristischen Generäle. Wer sich sofort ergibt, wird nicht bestraft!

 

Ergebt Euch sofort!

 

Das Verteidigungskomitee“

 

Gleichzeitig gab der Petrosowjet einen Aufruf an die Arbeiter, Matrosen und Soldaten Kronstadts heraus:

 

„Eine Handvoll Abenteurer und Konterrevolutionäre hat Kronstadt in Verruf gebracht.

 

Im Rücken der Petropawlowsk-Matrosen treiben sicherlich Agenten der französischen Gegenspionage ihre Machenschaften.

 

Sie reden den Matrosen ein, es ginge um den Kampf für die Demokratie, sie würden kein Blut vergießen, nicht ein Schuss werde fallen und all das im Namen irgendeiner Demokratie. Für so eine Demokratie können Agenten der französischen Kapitalisten, zaristische Generäle und ihre ergebenen Helfershelfer, die Menschewiken und Revolutionären Sozialisten, kämpfen. Die Aufrührer des Komplotts behaupten, ohne einen Schuss an die Macht gekommen zu sein. Das war nur möglich, weil die Sowjetmacht den Konflikt friedlich lösen wollte. Aber dabei kann sie es länger nicht belassen: die internationale Bourgeoisie wird schon aufmerksam, im Lager der Feinde des Proletariats wird Jubel laut, jedem Tag ist mit einem neuen Kreuzzug gegen das Russland der Räte zu rechnen.

 

Unsere Errungenschaften sind bedroht. Die Abenteurer, die behaupten, die Kommunisten würden mit dem wirtschaftlichen Aufbau nicht fertig, drängen Sowjetrussland in einen neuen Krieg. Der Petrosowjet und die Zentralregierung können und dürfen das nicht zulassen. Die Sache der belagerten Konterrevolutionäre in Kronstadt ist hoffnungslos. Sie stehen ohnmächtig dem Russland der Sowjets gegenüber. Ihr Aufstand ist in kürzester Frist zu liquidieren.

 

Genossen Arbeiter, Matrosen und Soldaten seht ein:

 

Man hat Euch getäuscht; von Euch allein hängt der mögliche blutige Ausgang dieses Abenteuers ab, in das Euch die Weißen Garden verwickelt haben; von Euch hängt es ab, dass die Banden der Weißgardisten nicht ungestraft davonkommen.

 

Genossen, verhaftet auf der Stelle die Anführer des konterrevolutionären Komplotts. Setzt unverzüglich den Kronstädter Sowjet wieder ein. Die Regierung der Sowjets wird zwischen arglos verführten Arbeitern und den vorsätzlichen Konterrevolutionären zu unterscheiden wissen.

 

Genossen, abermals sagt Euch der Sowjet von Petersburg:

 

Auf Euch kommt es an, dass Bruder nicht auf Bruder schießt, dass die mörderischen Absichten des Feindes der Arbeiterklasse auf ihn selbst zurückfallen. Dies ist unsere letzte Aufforderung; die Zeit vergeht, entschließt Euch und zögert nicht; zieht mit uns gegen den gemeinsamen Feind oder Ihr werdet gemeinsam mit den Konterrevolutionären kläglich zugrunde gehen.

 

Gezeichnet: Der Arbeiter-, Bauern- und Soldatensowjet von Petersburg“

 

(nach: Radio Novaja Hollandia)

 

Diese Meldung beantwortete das Provisorische Revolutionskomitee mit einem Aufruf:

 

„An Alle, an Alle, an Alle! -

 

Genossen Arbeiter, Soldaten und Matrosen. Wir in Kronstadt wissen, was Ihr, Eure Frauen und Kinder unter der Kommunistischen Diktatur erlitten habt. Wir haben den kommunistischen Sowjet gestürzt und das Provisorische Revolutionskomitee eröffnet heute die Wahlen zu einem neuen Sowjet, der frei gewählt wird und der den Willen der gesamten arbeitenden Bevölkerung und der Garnison vertreten soll, nicht nur den einer Handvoll wahnsinniger Bolschewisten.

 

Unsere Sache ist gerecht:

 

Wir sind für die Macht der Räte, gegen die Macht einer einzigen Partei; wir sind für die frei gewählte Vertretung der arbeitenden Massen. Die korrupten, von der KP gekauften Sowjets, waren für unsere Forderungen taub, Schüsse waren ihre einzige Antwort.

 

Nun, da die Geduld der Arbeiter erschöpft ist, will man uns mit Almosen den Mund stopfen. Auf Anordnung Sinowjews sind die Milizpatrouillen im Bezirk Petersburg eingestellt worden. Moskau wendet 10 Millionen Goldrubel auf, um im Ausland Lebensmittel und Bedarfsgüter zu kaufen. Wir aber wissen: mit solchen Almosen lässt sich das Proletariat von Petersburg nicht bestechen; über die Köpfe der Kommunisten hinweg reichen wir Euch die brüderliche Hand des revolutionären Kronstadt.

 

Genossen, man erzählt Euch nicht nur einfach Lügen; Ihr erfahrt die durch schäbigste Verleumdungen entstellte Wahrheit. Lasst Euch durch diese Taktik nicht verwirren!

 

In Kronstadt ist die Macht in den Händen der Matrosen, der Roten Soldaten sowie der revolutionären Arbeiter, nicht in Händen der Weißen Garde mit General Koslowskij an der Spitze, wie Radio Moskau Euch weismachen will.

 

Gezeichnet: Das Provisorische Revolutionskomitee“

 

Ausländische Kommunisten, die sich damals in Petersburg und Moskau aufhielten und in Regierungskreisen verkehrten, bestätigen, dass die Regierung überstürzt Nahrungsmittel im Ausland aufkaufte (es wurde sogar Schokolade angeschafft, was für russische Verhältnisse immer schon Luxus war). Moskau und Petersburg hatten abrupt die Taktik gewechselt. Und die Regierung war psychologisch den Kronstädtern überlegen: sie wusste, wie bestechend Weißbrot auf eine ausgehungerte Bevölkerung wirken musste. Vergebens predigten die Kronstädter den Petersburgern, das Proletariat lasse sich nicht mit Almosen kaufen. Die Almosen taten ihre Wirkung zweifellos, zumal im Verein mit anderen Maßnahmen, wie der konsequenten Verfolgung der Streikenden.

 

Immerhin blieb ein Teil des Petersburger Proletariats noch während der Kronstädter Revolte im Ausstand. Ihre Streikforderung war: Freilassung der politischen Häftlinge.

 

In einigen Betrieben fand man die Kronstädter Iswestija an den Wänden; in den Straßen Petersburgs verkehrte sogar ein Lieferwagen, der Flugschriften aus Kronstadt abwarf. In einigen Fabriken, wie etwa der 26ten Staatsdruckerei lehnten die Arbeiter eine Resolution zur Verurteilung der Kronstädter Matrosen ab. In den Arsenal-Betrieben organisierten die Arbeiter am 7. März (als Kronstadt zum ersten Male bombardiert wurde) eine Versammlung, die die Resolution der aufständischen Matrosen annahm. Diese Versammlung bestimmte eine Spezialkommission, die von Betrieb zu Betrieb ziehen und zum Generalstreik auffordern sollte.

 

Die größten Betriebe Petersburgs wurden weiterhin bestreikt: Putilow, Baltiskij, Oboukow, Niewskaja Manufactura und andere. Die Leitung der Betriebe entließ das Personal der bestreikten Fabriken und übertrug die Direktion auf die örtlichen Troikas. Diese begannen sofort mit Neueinstellungen, setzten aber zugleich die Verfolgung der aktivsten Streikenden fort.

 

Zur gleichen Zeit wie in Petersburg brachen in Moskau, Nijni Nowgorod und anderen Städten Streiks aus. Aber auch hier führte die sofortige Ausgabe von Lebensmitteln, repressive Maßnahmen und das ausgestreute Gerücht über zaristische Generäle in Kronstadt zu einer Desorientierung des Proletariats und die Kommunisten erreichten ihr Ziel. In Petersburg und den anderen Industriestädten geriet das Proletariat in Verwirrung. Die Kronstädter aber, die mit der Hilfe der ganzen Arbeiterbevölkerung gerechnet hatten, standen einsam einer Regierung gegenüber, die entschlossen war, sie um jeden Preis zu vernichten.

 

 

 

III. 3 – Das Eingreifen der Roten Armee

 

 

Am 6. März erhielt das Provisorische Revolutionskomitee ein Radiotelegramm aus Petersburg:

 

„Bittet in Petersburg um die Entsendung einiger Sowjetmitglieder, jeweils einiger Parteilosen und KP-Mitglieder nach Kronstadt, um die Lage zu diskutieren.“

 

Die umgehende Antwort des Provisorischen Revolutionskomitee lautete:

 

„Wir haben kein Vertrauen in Eure angeblichen Parteilosen. Wir schlagen daher vor, im Beisein unserer Delegierten in den Betrieben sowie unter den Soldaten und Matrosen eine Anzahl Parteiloser wählen zu lassen. Zusätzlich könnt Ihr, im Verhältnis von 15 Prozent, Kommunisten benennen.

 

Wir erbitten Antwort bis spätestens 6. März, 18 Uhr, mit Angaben des Termins für den Austausch von Delegationen. Sollte dieser Termin nicht eingehalten werden können, bitten wir um Mitteilung unter Angabe von Gründen. Transportmittel werden Euren Delegierten zur Verfügung gestellt.

 

Das Provisorische Revolutionskomitee“

 

Die Depesche des Petrosowjet scheint in krassem Widerspruch zu dem Ton des o.a. Appells zu stehen, in dem nur von bedingungsloser Unterwerfung die Rede war. Offenbar trafen im Petersburger Rat verschiedene Einflüsse aufeinander. Die Regierung war aber nach wie vor Entschlossen, mit eiserner Faust aufzuräumen. Trotzki erließ am selben Tag einen Befehl an die Garnison von Kronstadt:

 

„Die Regierung der Arbeiter und Bauern ist entschlossen, Kronstadt und die Schiffe unverzüglich wieder unter die Verfügungsgewalt der Räterepublik zu stellen. Daher befehle ich allen, die gegen ihr sozialistisches Vaterland sich erhoben haben, die Waffen niederzulegen. Wer sich weigert, wird entwaffnet und den sowjetischen Behörden übergeben. Die verhafteten Kommissare und andere Vertreter der Staatsmacht sind unverzüglich freizulassen. Nur wer sich bedingungslos ergibt, kann auf die Gnade der Sowjetrepublik rechnen. Gleichzeitig befehle ich alle nötigen Vorbereitungen für die Niederwerfung der Aufständischen mit Waffengewalt. Die Verantwortung für das der Zivilbevölkerung zugefügte Unglück werden die Weißen Garden in jeder Konsequenz zu tragen haben. Der Vorsitzende des militärischen Revolutionsrates der Sowjetrepublik: Trotzki“

 

Der Oberbefehlshaber: Kamenew

 

Während also noch am 6. März der Petrosowjet über die Entsendung einer Untersuchungskommission unterhandelte, entsandte am 7. März das Oberkommando bereits Truppen der Roten Armee zur militärischen Einnahme der Festung.

 

Kommuniqué der Iswestija am 8. März:

 

„Um 6 Uhr 45 haben die Batterien von Sestroretzk und Lissinios das Feuer auf die Bastionen von Kronstadt eröffnet.

 

Die Bastionen nahmen die Herausforderung an und brachten die Geschütze der Regierung schnellstens zum Schweigen.

 

Daraufhin eröffnete die Bastion ‘Krasnaja Gorka‘ das Feuer, das von dem Panzerkreuzer Sebastopol erwidert wurde. Das Artilleriegefecht dauert an.

 

Kronstadt, 7. März 1921 – Das Provisorische Revolutionskomitee“

 

Am 8. März wird die erste Fliegerbombe über Kronstadt abgeworfen. In den folgenden Tagen hält die Artillerie der Regierung die Festung und die umliegenden Bastionen weiterhin unter Beschuss, wobei sie auf energische Gegenwehr stößt. Auf den fortgesetzten Abwurf von Bomben reagiert die Zivilbevölkerung mit so erbittertem Gewehrfeuer auf die Flugzeuge, dass das Provisorische Revolutionskomitee einen Befehl zur Unterbindung von Munitionsverschwendung erlassen muss.

 

Welche Verteidigungsmittel besaß Kronstadt?

 

Kronstadt liegt auf der Insel Kotlin, 26,5 km von Petersburg, 7 km von Oranienbaum, 13 km von Lissi Nos und 21 km von Terioki entfernt. Es wurde 1711 von Pierre Le Grand zur Verteidigung Petersburgs gegen Angriffe von See erbaut.

 

Kronstadt besaß eine große Artillerie, allerdings von geringer Reichweite. Die modernsten Geschütze hatten einen Aktionsradius von 15 km. Somit lag Petersburg bereits außer ihrer Reichweite. Zudem waren die Batterien zur Seeseite hin installiert und nur einige wenige Geschütze waren beweglich. Eine Anzahl von 12-Zoll-Geschützen befand sich u.a. in der Bastion ‘Krasnaja Gorka‘ auf der Höhe von Oranienbaum, aber diese Festung war regierungstreu.

 

Zur Zeit der Revolte standen vier Panzerkreuzer zur Verfügung: die Petropawlowsk, Sebastopol, Gangout und Poltawa, die jeweils mit 12-Zoll-Geschützen bestückt waren; die Schlachtschiffe Riurik und Rossia mit 10-Zoll-Kanonen und die Baijan, Bogatir und Aurora mit 6-Zöllern.

 

Doch man hatte keine Eisbrecher, und alle Schiffe waren durch das Eis praktisch nicht einsatzfähig. Hinzu kam, dass die Sebastopol und Petropawlowsk direkt nebeneinander lagen, so das die eine nur das rechte, die andere nur das linke Schussfeld belegen konnte. Man konnte aber auch nicht trennen, denn die Sebastopol hatte keine eigenen Brennstoffe und war an das Stromnetz der Petropawlowsk angeschlossen. Die Garnison von Kronstadt war 1921 stark dezimiert. Nach den Zahlen der Stabsabteilung der Kronstädter Verteidigung betrug die Stärke der Infanterie maximal 3.000 Mann. Nach Angaben Koslowkijs war die gesamte Artillerie der Festung für die Verteidigung Kronstadts eingesetzt (mit Ausnahme der Bastion Krasnaja Gorka und des Armeeregiments 560, das sich gleich zu Anfang ergab). Hinzu kam eine aus Matrosen bestehende Küstenwache und bunt zusammengewürfelte Bataillone, die sich aus den Behörden und Schulen rekrutierten. In der Verteidigungslinie der Kronstädter Infanteristen betrug die Distanz von Mann zu Mann nicht weniger als zehneinhalb Meter!

 

Der Vorrat an Munition und Granaten war ebenfalls höchst gering. Um die bescheidene Anzahl der Geschütze auszugleichen, verdreifachten die Matrosen die Schussfrequenz – von 150 Schuss normal auf 450 Schuss.

 

Am Nachmittag des 3. März hatte das Provisorische Revolutionskomitee mit einigen Militärspezialisten konferiert. In dieser Sitzung wurde ein militärischer Verteidigungsrat eingesetzt, der einen Abwehrplan für die Festung erstellte. Als aber die militärischen Berater eine Offensive auf Oranienbaum empfahlen, wo sich in der Station ‘Spassatelnaija‘ ein ziemlich umfangreiches Nahrungsmitteldepot befand, lehnte das Provisorische Revolutionskomitee ab; es setzte seine ganze Hoffnung nicht in die militärischen Fähigkeiten seiner Matrosen, sondern in die Solidarität der ganzen Arbeiterbevölkerung des Landes. Man muss annehmen, dass die Kronstädter bis zum ersten Kanonenschuss nicht an die Entschlossenheit der Regierung zu einem militärischen Angriff glaubten. Deshalb wohl ließ das Provisorische Revolutionskomitee nicht rings um die Festung das Eis brechen, was den Infanterieangriff über das Eis unterbunden hätte. Deshalb auch wohl wurden die voraussichtlichen Einfallswege nicht mit armierten Barrikaden versehen.

 

Die Kronstädter hatten recht: militärisch konnten sie nicht siegen. Sie konnten höchstens hoffen, sich zwei Wochen lang zu halten, bis erfahrungsgemäß das Eis schmolz, was Kronstadt zu einer ziemlich uneinnehmbaren Festung gemacht hätte. Man darf aber nicht vergessen, dass ihre Mannschaftsreserven minimal waren im Vergleich zur Zahl der Soldaten, die die Rote Armee gegen sie ins Feld schickte.

 

Wie aber stand es mit der Kampfmoral dieser Soldaten?

 

 

 

III.4 – Die Moral der Roten Armeeregime

 

 

In einem Interview mit der Krasnaja Gasetta sagte Dybenkow damals, dass alle militärischen Einheiten, die bei Kronstadt eingesetzt wurden, vorher einen Revirement unterzogen werden mussten. Das war absolut notwendig, denn in den ersten Gefechtsphasen zeigte die Rote Armee einen starken Widerwillen, gegen die Matrosen, die „baltischki“, die Brüderchen, wie ihr volkstümlicher Spitzname lautete, zu kämpfen. Denn gerade den aufgewecktesten Vertretern der russischen Arbeiterklasse galten diese Matrosen als engagierte Bannerträger der Revolution. Außerdem hatten die Soldaten der Roten Armee dieselben Sorgen, die die Kronstädter zum Aufstand veranlasst hatten: Hunger, Kälte, mangelhafte Kleidung und schlechtes Schuhwerk, was im russischen Klima einiges bedeutet, zumal wenn man in Eis und Schnee marschieren und kämpfen soll.

 

In der Nacht zum 8. März, als der Angriff der Roten Armee auf Kronstadt begann, fegte ein fürchterlicher Schneesturm über die Ostsee. Dichter Nebel verhüllte den Weg. Die Soldaten trugen weiße Schneehemden, die sie vor dem verschneiten Hintergrund nahezu unsichtbar machten. Im südlichen Abschnitt, wo man sich Kronstadt von Oranienbaum her näherte, war die Leitung dem Regiment O.N. (Regiment für Spezialaufgaben) und dem 561. Jägerregiment übertragen. Über die geistige Verfassung dieses Regimentes weiß Poukhow zu berichten: „Zu Beginn der militärischen Operation hatte das 2. Bataillon die Teilnahme am Kampf verweigert. Schlecht und recht konnte man die Soldaten mit Hilfe der Kommunisten überzeugen; endlich waren sie bereit, das Eis zu betreten. Kaum bei der ersten Batterie im Süd-Abschnitt angelangt, lief eine Kompanie des 2. Bataillons zum Feind über, die Offiziere kehrten allein zurück.

 

Das Regiment machte halt. Es begann zu tagen. Man hatte keine Nachricht vom 3. Bataillon. Dieses Bataillon aber marschiere in Richtung 1. und 2. Batterie im Süd-Abschnitt: zunächst wurde in Kolone vorgerückt, als man von den Bastionen unter Beschuss genommen wurde, bildete man Kette und begab sich nach Erreichen von Hörweite der 2. Kompanie auf die linke Seite der Batterie der Bastion Miljutin, woher mit roten Flaggen Zeichen gegeben wurde. Bei einer Annäherung auf 40 Schritt erkannte man MG-Stellungen der Aufständischen. Diese drohten, die Soldaten zu erschießen, wenn sie sich nicht ergeben. Alle ergaben sich, mit Ausnahme des Bataillonskommissars und drei oder vier Soldaten. Diese kehrten um und konnten und konnten auf dem Rückweg das 7. Bataillon zur Umkehr bewegen, das ebenfalls überlaufen wollte.“

 

Dieses Zitat war eine Passage aus dem offiziellen Heeresbericht!

 

Ähnliche Vorfälle wurden bei den Kadetten-Einheiten im Nord-Abschnitt beobachtet, die Poukhow immerhin für die fähigsten Kräfte hielt. Um Ouglanow, Kommissar für den Nord-Abschnitt, schreibt am 8. März an das Bezirkskomitee der Partei (in Petersburg):

 

„Ich halte es für meine Pflicht als Revolutionär, Aufschluss über die Lage im Nordabschnitt und die Moral der dort Kämpfenden zu geben. Bei den Kadetten herrscht Angst vor dem Plan, über das Eis anzugreifen. Diese Haltung setzte sich auch heute morgen durch, als der Angriff auf die Bastionen begann. Am Anfang brachen nur die Kommunisten und einige mutige Gruppen der Parteilosen auf. Es gelang erst den vereinten Argumenten von Kommandant, Politkommissaren und Offizieren, die Kadetten zum Angriff zu bewegen, der dann unter starkem Beschuss von seiten der Bastionen und Kronstadts erfolgte. Dieser Angriff, der die Besetzung der 7. Bastion zum Ziel hatte, musste heute – angesichts der depressiven Moral der Truppe – abgeblasen werden.

 

Es ist unmöglich, die Armee einen zweiten Angriff auf die Bastionen ausführen zu lassen. Ich habe bereits die Genossen Laschewitsch, Avrow und Trotzki von der Moral der Kadetten unterrichtet. Ich musste ihnen diese Tendenzen mitteilen: sie, die Kadetten, wollen die Absichten der Kronstädter kennenlernen und beabsichtigen, Delegierte in die Stadt zu schicken. Die Anzahl der Politkommissare auf diesem Abschnitt ist vollkommen unzureichend!“

 

Die Moral der Armee wird auch deutlich im Falle der 79. Brigade und der 27. Division von Omsk. Diese aus drei Regimentern bestehende Division hatte sich im Kampf gegen Koltschak militärisch ausgezeichnet. Am 12. März wurde sie an der Kronstädter Front eingesetzt. Ein Regiment, das von Orschan, weigerte sich, gegen die Kronstädter zu kämpfen. Am nächsten Tag hielten die beiden anderen Regimenter Versammlungen ab und diskutierten, welche Haltung sie einnehmen sollten. Zwei Regimenter mussten gewaltsam entwaffnet werden und wurden vom „revolutionären“ Tribunal mit schweren Strafen belegt.

 

Bezeichnend ist auch der Fall der Unteroffiziersschule der 93. Infanteriebrigade der 11. Division, die am 8. März dem 95. Regiment unterstellt wurde. Als der Kommandant und der Politkommissar die Front abschritten, tönte ihnen der Sprechchor entgegen: „Warum hat man uns hierher geführt?“ Zwei Tage später verweigerte die Schule den Befehl, und das Militärgericht griff abermals ein.

 

Ähnliche Fälle waren sehr zahlreich. Denn die Soldaten weigerten sich nicht nur, weil sie es ablehnten, gegen ihre Klassenangehörigen zu kämpfen, es war ihnen auch unheimlich, im März auf dem Eis zu operieren. Manche Einheiten waren aus anderen Landesteilen abgestellt, wo das Eis um Mitte März zu schmelzen begann und waren dementsprechend misstrauisch gegen das Eis der Ostsee. Außerdem hatten die ersten Gefechtsteilnehmer mitansehen müssen, wie die Granaten der Kronstädter enorme Löcher in das Eis rissen, in denen manch unglücklicher Verteidiger der Regierung versank. Solche Szenen waren recht entmutigend und trugen zum Misserfolg der ersten Angriffe bei.

 

 

 

III.5 – Reorganisation und Repression in der Roten Armee

 

Die letzten Kämpfe

 

 

Der Kommandant der Roten Armee setzte in dieser Situation verstärkt die Luftwaffe ein und ergriff Maßnahmen, um die Schlagkraft der Armee zu verstärken. Die auf Kronstadt angesetzten Einheiten wurden völlig neu organisiert. Alle, die offen mit Kronstadt sympathisiert hatten, wurden entwaffnet und auf andere Einheiten verteilt. Einige wurden durch die „revolutionären“ Tribunale mit strengen Strafen belegt. Die Mitglieder der KP wurden mobilisiert und zu Propaganda- und Überwachungszwecken in die Armee eingeschleust. Der 10. Parteitag der KP fand vom 8. bis 15. März in Moskau statt, während in Kronstadt Kanonenschüsse das Eis aufwühlten. Er entsandte mehr als 300 Deputierte an die Front. Dort wurden sie zu Politkommissaren ernannt, auf die einzelnen Frontabschnitte verteilt und in den Organen der Spezialabteilungen der Tscheka oder in Kommissionen zur Bekämpfung der Desertion eingesetzt. Einige von ihnen kämpfen auch als einfache Soldaten. Unter diesen Deputierten befanden sich Woroschilow, Boubnow, Zatonskij, Rukimowitsch, Piatakow und andere prominente Kommunisten. In einigen militärischen Einheiten betrug die Anzahl der KP-Mitglieder zwischen 15 und 30%, manche verfügten sogar über einen Anteil von bis zu 70%.

 

Die „revolutionären“ Tribunale entwickelten eine emsige Aktivität. Poukhow berichtet, dass „die Tribunale gegen alle schädlichen Tendenzen einschritten. Überführte Unruhestifter und Provokateure empfingen unverzüglich ihre Strafe. Die Urteile wurden den Soldaten sofort bekanntgegeben, teilweise auch in der Presse veröffentlicht“.

 

Aber ungeachtet dieses Instrumentariums von Propaganda-, Reorganisations- und Repressionsmaßnahmen blieb die Haltung der Soldaten widerspenstig. Noch am 14. März wurden Fälle von Befehlsverweigerung beim Angriff verzeichnet. So blieb zB das 561. Regiment auch nach seiner am 8. März erfolgten Reorganisation „renitent“. „Wir wollen nicht gegen unsere Brüder aus den Heimatdörfern kämpfen“, argumentierten die Soldaten des Regiments, das zum Großteil aus Ukrainern und Kosaken bestand – genauso wie das 560. Regiment, das an der Seite der Aufständischen kämpfte.

 

Nicht wenige Soldaten, die sich den Aufständischen ergeben hatten, setzten auf der Gegenseite den Kampf fort. Das Rote Oberkommando ging daraufhin unnachsichtig gegen alle potentiellen Überläufer vor. Augenzeugen berichten, dass einige Verbände beim Vorrücken schon die Hälfte ihrer Männer verloren hatten, ehe sie überhaupt in das feindliche Schussfeld gelangten: die Kommunisten der eigenen Seite hatten sie wegen Befehlsverweigerung oder Desertionsverdacht erschossen.

 

Die Desertion breitete sich überhaupt massenhaft in der Roten Armee aus. Immer wieder verschwanden Gruppen von 20 – 30 Soldaten, bewaffnet, unter Mitnahme weiterer Gewehre und Granaten. Um das zu verhindern, setzte die Regierung Spezialkommission ein: sie bestanden aus mobilisierten Parteimitgliedern und versuchten, sich der Mithilfe der Bauern im Bezirk Petersburg und in den umgebenden Bezirken als „Hilfsgendarmen“ zu versichern.

 

Nach offiziellen Angaben wurde in der Roten Armee die Kronstädter Iswestija mit großer Aufmerksamkeit gelesen. Auch kursierten Flugschriften, deren Verbreitung den Kronstädtern auf immer neuen Schleichwegen gelang. Zwar wachten Politkommissare darüber, dass diese Publikationen nicht in die Kasernen drangen, aber ihre Bemühungen verstärkten im Gegenteil nur das Interesse für die literarische Konterbande. Andererseits hatten, wie Poukhow zugeben muss, offiziellen Zeitungen mit ihrer Siegespropaganda nur einen höchst fragwürdigen Effekt. Die Propaganda konzentrierte sich besonders auf die zurückgebliebenen Truppen in der Etappe. Die unerschöpflichen Menschenreserven des ganzen Landes waren, selbst wenn man ihre widerspenstige Haltung berücksichtigt, überwältigend im Vergleich zu den schwachen Kräften der Kronstädter. Während die Züge nach Petersburg unaufhörlich neuer Kämpfer an die Front brachten, unter ihnen Kirgisen und Baschkiren, mit einer den aufständischen Matrosen völlig unverwandten Mentalität, nahm die Zahl der Verteidiger Kronstadts nicht nur durch Kampfverluste ab, ihre Kraft erschöpfte sich auch zusehens.

 

Schlecht gekleidet und noch schlechter ernährt, verharrten die Kronstädter in achtstündigen Schichten an ihren Geschützen. Die meisten konnten sich kaum mehr auf den Beinen halten.

 

Davon wusste, Toukhatschewskij, als er, nachdem alles Nötige an Organisation, Munitionsversorgung und Anhebung der Truppenmoral erledigt war, diesen Befehl herausgab (Nr. 534/0444, Serie B):

 

„An den Kommandanten des Abschnitts Nord, Kazanski an den Kommandanten des Abschnitts Süd, Sediakin durchschriftlich an das Glawkom

 

Petersburg, den 15. März, 23.45 Uhr

 

Ich befehle: in der Nacht vom 16. bis 17. März ist die Festung Kronstadt im Blitzangriff einzunehmen.

 

Hierzu:

 

1. Am 16. März ist um 14 Uhr das Artilleriefeuer zu eröffnen und bis zum Einbruch der Dunkelheit fortzusetzen.
2. Aufbruch der nördlichen Marschkolonne am 17. März um 3 Uhr, der südlichen Kolonne um 4.30 Uhr.
3. Der nördliche Verband greift die nord-westlichen, der südliche Verband die nord-östlichen und süd-westlichen Teile der Stadt an.
4. Die Verbände haben nur jene Bastionen zu besetzen, die andernfalls den Vormarsch unmöglich machen würden.
5. Der Kommandant des südlichen Verbandes benennt einen Befehlshaber für die Straßenkämpfe in Kronstadt.
6. Der Kommandant des südlichen Verbandes betreibt die Einnahme des nord-östlichen Teiles der Insel Kotlin zur beabsichtigen Zeit.
7. Die Disposition der Verbände ist sorgfältig zu beachten.
8. Der Erhalt des Befehls ist zu bestätigen, über die ergriffenen Maßnahmen ist Mitteilung zu machen.

 

 

Der Chef der 7. Armee: Toukhatschewskij

 

Chef des Generalstabs: Peremytov“

 

 

Toukhatschewskij Operationsplan sah den entscheidenden Schlag von Süden her vor, die endgültige Einnahme der Städte sollte dann von drei Seiten erfolgen. Der Einbruch sollte durch das Petersburger Tor geschehen, das nach Petersburg hin lag, nicht befestigt war und so die Achillesferse der Festung bildete. Zur selben Zeit sollte der Nördliche Verband von Nord-West angreifen, um die Kräfte der Aufständischen in den dortigen Bastionen zu binden; der Südliche Verband unternahm gleichzeitig einen Scheinangriff gegen die Bastion „Totleben“, um weitere Kräfte der Kronstädter abzulenken.

 

Am 16. März um 14.20 Uhr eröffnete die Artillerie im Südlichen Abschnitt das Feuer, um 17 Uhr schloss sich die Nördliche Batterie an. Von Kronstadt wurde zurück geschossen, das Gefecht dauerte ungefähr vier Stunden. Dann wurden Fliegerbomben eingesetzt, um die Zivilbevölkerung in Panik zu versetzen. Gegen Abend verstummte die Artillerie, die Kronstädter versuchten nun, mit Scheinwerfern die Sammelpunkte der Regierungstruppen auf dem Eis zu orten. Gegen Mitternacht brachen die Truppen nach Toukhatschewskijs Plan auf. Um 2.45 Uhr hatten die Nördlichen Verbände das verlassene Fort Nummer sieben eingenommen. Um 4.30 Uhr nahm die Kronstädter

 

Artillerie Truppen unter Beschuss, die die Bastionen vier und sechs angriffen. Um 6.40 Uhr war die Bastion sechs nach hartem Kampf in den Händen der Kadetten die nur geringe Verluste erlitten hatten. Die Kronstädter hatten erbittert Widerstand geleistet, als sich die Kadetten den Stacheldrahtverhauen nährten. Zu dieser Zeit endete das Artilleriefeuer der Bastion da die Munitionsvorräte erschöpft waren. Lediglich ein mobiles MG war noch im Einsatz. Ähnlich spielte sich die letzte Verteidigung Kronstadts auch an anderen Punkten ab.

 

Um 5 Uhr morgens griff die südliche Abteilung die Süd-Batterie an und zwang die Kronstädter zum Rückzug auf die Stadt. Damit begannen die Straßenkämpfe. Die Matrosen verteidigten jedes Haus und jede Lagerhalle. In der Innenstadt kamen zur Verstärkung der Matrosen Kampfabteilungen der Arbeiter, mit deren Hilfe es einmal gelang, die Regierungstruppen aus der Stadt zu werfen, die sich daraufhin in der Vorstadt verschanzten.

 

Unterstützt von Munitionsarbeitern, glückte den Matrosen auch die Wiedereinnahme der Technischen Schule, die bereits von der 30. Brigade gehalten wurde.

 

Die Straßenkämpfe wüteten furchtbar. Die Roten Soldaten büßten ihre Offiziere ein, Kronstädter und Regierungstruppen gerieten durcheinander, die feindlichen Brüder verloren jede Orientierung. Die Zivilbevölkerung versuchte noch jetzt, mit den Regierungstruppen Kontakt aufzunehmen und verteilte Flugblätter des Provisorischen Revolutionskomitee und bis zuletzt unternahmen die Matrosen Fraternisierungsversuche mit den Regierungssoldaten.

 

Die Regierungstruppen erlitten in den Straßenkämpfen hohe Verluste, ein Teil von ihnen ergriff die Flucht, zu ihrer Festnahme wurde das 27. Kaukasische Regiment eingesetzt. Gleichzeitig gelang es den aus Oranienbaum nachgeschobenen Reservetruppen im Verein mit einer kommunistischen Einheit, die Technische Schule abermals einzunehmen.

 

Der nördliche Verband war während des ganzen 17. März mit der Einnahme der Bastionen beschäftigt. Gegen Abend waren mit Ausnahme der Bastion 4 alle dortigen Bastionen in der Hand der Regierungstruppen.

 

In den Straßen wurde noch bis spät in die folgende Nacht (17. bis 18. März) gekämpft. Die Angriffe auf die verbliebenen Bastionen Miljutin, Constantin und Obrutschew wurden noch am 18. fortgesetzt. Als schließlich die Festung und alle Bastionen genommen waren, als die Verteidigung der Kronstädter zusammengebrochen war, gelang es noch einer Gruppe von 150 Matrosen, am Tolbukin-Leuchtfeuer die Regierungstruppen mit einigen MGs hartnäckig aufzuhalten.

 

 

 

III.6 – Repressalien und Massaker

 

 

Betrachten wir die Verlustbilianz des Kronstädter Cemetzels für die russischen Arbeiter:

 

Nach Angaben des Petersburger Militärischen Sanitätsdienstes wurden in den Krankenhäusern der Stadt zwischen dem 3. und 21. März

 

4.127 Verwundete

 

158 schwere Quetschungen

 

527 Todesfälle

 

 

verzeichnet. Unbekannt ist die Zahl der Ertrunkenen und der zahlreichen auf dem Eis zurückgelassenen Verletzten, die dort erfroren sind. Unbekannt auch die Zahl der Opfer, die zur „Anhebung der Truppenmoral“ von den „revolutionären“ Tribunalen hingerichtet wurden.

 

Über die Verluste auf Kronstädter Seite liegen überhaupt keine einigermaßen genauen Angaben vor; sie waren jedenfalls sehr hoch und erhöhten sich noch um die Zahl der Opfer des anschließenden Massakers bei der Liquidierung der Aufständischen. Hierüber kann man nur Vermutungen anstellen. Vielleicht werden eines Tages die Archive der Tscheka, der Ossoby Otdijel und der Tribunale die grausame Wahrheit enthüllen.

 

Hierzu Poukhow: „Gleichzeitig mit den ersten Maßnahmen zur Normalisierung des Lebens und zur Liquidierung der letzten Aufständischen hatte das revolutionäre Tribunal seine Arbeit auf breiter Basis fortgesetzt. … Die strafende Hand der Proletarier-Justiz machte mit den Verrätern kurzen Prozess. … Die Urteile wurden in der Presse veröffentlicht, was eine starke erzieherische Wirkung hatte.“

 

Diese Zitate sprechen wohl eine ebenso deutliche Sprache wie Zahlen, Aus offizieller Quelle überführen sie die Lügen der Trotzkisten, wonach die Festung „unter geringen Verlusten eingeschlossen und eingenommen wurde“.

 

In der Nacht vom 17. zum 18. März verließ ein Teil des Provisorischen Revolutionskomitee die Stadt in Richtung auf die finnische Grenze. 8000 Personen, Matrosen und die aktivsten Zivilisten, gingen den gleiche3n Weg ins Exil.

 

Am 18. März, als noch um die Bastionen gekämpft wurde, kam schon das „revolutionäre“ Tribunal aus Oranienbaum, um in einer „fliegenden Sitzung“ an den „Wiederaufbau der revolutionären Ordnung“ zu gehen.

 

Die Verteidiger der Macht der Sowjets hielten es für das beste, in Kronstadt keine neuen Sowjets einzusetzen und übertrugen dessen Aufgaben an die Abteilung für Politik und Zivilwesen beim Sekretariat des Festungsadjutanten.

 

Die ganze Flotte wurde radikal reorganisiert. Zunächst wurde eine bedeutende Anzahl von baltischen Matrosen an die Schwarzmeerküste, an das Kaspische Meer und auf Marinestationen in Sibirien verlegt. Diese Maßnahme traf, nach Poukhow, "die unsichersten Elemente, die am anfälligsten waren für den Geistvon Kronstadt. Sie gingen allerdings nicht freiwillig. Aber mit dieser Maßnahme wurde die ungesunde Atmosphäre wenigstens einigermaßen gereinigt."

 

Im April begann dann das neue Oberkommando der Flotte mit der "individuellen Reinigung":
Eine "Spezialkommission zur Selektion" wurde eingesetzt und entließ nacheinander "15.000 Matrosen der Kategorien V, G und D, dh entweder Leute, die leicht ersetzbar waren oder aber politisch völlig untragbar."

 

Nach dieser Reorganisation rekrutierte sich die Flotte nahezu ausschließlich aus Inhabern der Unbedenklichkeitsausweise A und B, ausgestellt von der "Spezialabteilung zur Selektion".

 

So wurde nach der materiellen Vernichtung Kronstadt auch noch sein Geist in der Flotte exorziert.

 

 

 

IV. KRONSTADT UND DIE POLITISCHEN TENDENZEN .

 

IV.1 - Die Anarchisten

 

Hatten die Kronstädter ihre Forderungen und Resolutionen selbst formuliert — oder handelten sie unter dem Einfluss politischer Gruppen, die ihnen die Parolen lieferten? Diese Frage lost meist einen Hinweis auf den Einfluss der Anarchisten aus. Aber gab es sie wirklich? Sicherlich fanden sich unter den Mitgliedern des Provisorischen Revolutionskomitees und Überhaupt in der Kronstädter Bevölkerung manche Individualisten, die sich zum Anarchismus bekannten. Wenn man aber, wie wir, lediglich den vorliegenden schriftlichen Belegen folgt, lässt sich ein direkter Einfluss anarchistischer Gruppen schwerlich feststellen. Der Menschewist Dan, der in Petersburg längere Zeit mit einer Gruppe von Kronstädtern zusammen inhaftiert war, erzählt in seinen Memoiren, dass Perepelkin, Mitglied des Provisorischen Revolutionskomitees, innerlich zum Anarchismus neigte. Er erwähnt auch, dass diese Kronstädter Matrosen enttäuscht und verbittert waren über die Politik der KP und von Parteien überhaupt nur mit Abneigung sprachen. In ihren Augen waren Menschewisten und Revolutionäre Sozialisten um nichts besser als die Bolschewisten, wenn es darum ging, im Besitz der einmal mit dem Vertrauen des Volkes errungenen Macht dieses Volk zu hintergehen. "Ihr steckt ja doch alle unter einer Decke. Wir brauchen keine Regierungsmacht, was wir brauchen, ist die Anarchie", sagten die Matrosen in ihrer Enttäuschung über die politischen Parteien zu Dan.

 

Vereinzelte Anarchisten haben sich für die Kronstädter engagiert; aber man darf annehmen, dass im Falle einer geschlossenen Teilnahme ihrer Organisationen am Aufstand dies seinen Niederschlag in der anarchistischen Presse gefunden hatte. In den Periodika der Anarchisten ist davon aber keine Spur zu entdecken.

 

Auch der alte Anarcho-Syndikalist Yartschouk, der zur Zeit der Oktoberrevolution großen Einfluss bei der Bevölkerung und den Matrosen Kronstadts besaß, erwähnt nichts Einschlägiges davon in seiner Schrift über den Aufstand, die er unmittelbar noch unter dem Eindruck der Ereignisse verfasste.. Auch das ist wohl ein beweiskräftiges Indiz.

 

Zur Zeit des Aufstandes hatte die Anarchistenverfolgung schon ihren Höhepunkt erreicht; die wenigen isolierten Libertären und noch existierenden Einzelgruppen unterstützten aber moralisch die Sache der Aufständischen, wie aus einer Flugschrift an das Petersburger Proletariat hervorgeht:
"... Der Aufstand von Kronstadt ist eine Revolution. Tag und Nacht hart Ihr den Lärm der Geschütze, aber Ihr unternehmt nichts gegen die Regierung, dass sie ihre Truppen von Kronstadt abzieht. Dabei ist doch die Sache Kronstadts ebenso gut die Eure!
Die Kronstädter ergreifen immer wieder die Initiative des Aufstandes. ... Dem Aufstand von Kronstadt muss der Aufstand in Petersburg folgen! Danach die Anarchie!"

 

Vier Anarchisten, die sich damals in Petersburg aufhielten und den blutigen Ausgang der Ereignisse voraussahen, Emma Goldmann Alexander Berkman, Perkus und Petrowkij, schrieben am 5. März an den "Rat für Arbeit und Verteidigung in Petersburg“ folgenden Brief:

 

"Jetzt zu schweigen, ist unmöglich, ja es ist verbrecherisch. Die jüngsten Ereignisse zwingen uns Anarchisten, zu sprechen und unsere Haltung in der gegenwärtigen Situation zu erklären. Es gart unter den Arbeitern und Matrosen. Die Grunde dafür verdienen eine ernsthafte Prüfung. Die Arbeiter und Matrosen sind unzufrieden. Sie leiden unter Kälte und Hunger. Gelegenheit zur Diskussion und zur Kritik wird ihnen nicht gegeben. Deshalb gehen sie auf die Straße.

 

Die Weißgardisten werden versuchen, diese Unruhe für ihre eigenen Klasseninteressen auszunutzen. Hinter dem Rücken der Arbeiter und Matrosen geben sie Parolen zu Gunsten der verfassungsgebenden Versammlung, der freien Wirtschaft usw. aus.

 

Wir Anarchisten haben von jeher gesagt, dass diese Parolen Schwindel sind, und wir erklären vor aller Welt, dass wir jedem konterrevolutionären Putsch, zusammen mit allen Anhängern der sozialen Revolution und Hand in Hand mit den Bolschewisten, mit der Waffe entgegentreten werden.
Was den Konflikt zwischen Arbeitern und Matrosen und der Sowjetnacht betrifft, so sind wir der Ansicht, dass er mit Waffengewalt nicht, sondern nur durch Verhandlungen zwischen Genossen beigelegt werden kann. Wenn die Sowjetregierung zum Blutvergießen schreitet, werden sich in der gegebenen Lage die Arbeiter dadurch weder einschüchtern noch beruhigen lassen. Ein solcher Schritt kann die Lage nur verschärfen. Er kam nach außen hin den feindlichen kapitalistischen Machten und nach innen hin der Gegenrevolution zugute.

 

Darüber hinaus wird jede Gewaltanwendung der Regierung gegen die Arbeiter und Matrosen die ganze internationale revolutionäre Bewegung demoralisieren und ihr unermesslichen Schaden zufügen.

 

Genossen Bolschewisten, überlegt, ehe es zu spät ist! Ihr spielt mit dem Feuer. Ihr seid im Begriff, einen Schritt zu tun, der nicht wieder gutzumachen ist. Wir unterbreiten Euch folgenden Vorschlag: Es soll eine Kommission gewählt werden, die aus fünf Personen, darunter zwei Anarchisten, besteht.

 

Diese Kommission soll nach Kronstadt gehen, um den Konflikt auf friedlichem Wege zu regeln. Unter den gegebenen Umständen ist dies die beste Losung. Sie wird für die ganze internationale revolutionäre Bewegung von großer Tragweite sein."

 

Diese Anarchisten haben mit dem Schreiben zweifellos als Anarchisten gehande1t, aber auf eigene Faust, ohne ersichtliche organisatorische Verbindung zu den Aufständischen. Außerdem beweist ihr Vermittlungsvorschlag, nämlich eine Delegation nach Kronstadt zu senden, dass sie nicht in direkter Verbindung mit den Matrosen stehen konnten, die ja bereits ihrerseits eine Delegation nach Petersburg geschickt hatten, mit der solche Unterhandlungen hatten geführt werden können. Und wenn sich schließlich in der Resolution der Kronstädter die Forderung nach Rede- und Pressefreiheit auch für die Anarchisten findet, so beweist das lediglich, dass die Kronstädter auch 1921 ihren Traditionen und Ideen aus der Oktoberrevolution treu blieben.

 

Vor der Oktoberrevolution hatten die Anarchisten neben den Bolschewisten eine so führende Rolle in Kronstadt gespielt, dass Trotzki im Sommer 1917 bei einer Sitzung des Petersburger Sowjet sagen konnte: "Ja, die Kronstädter sind Anarchisten. Wenn es aber zur Entscheidungsschlacht in dieser Revolution kommt, werden dieselben Herren, die Euch jetzt zur Vernichtung der Kronstädter überreden wollen, Euch ebenso wie uns den Strick drehen - und es werden die Kronstädter sein, die um unser Leben kämpfen!"

 

Wirklich waren die Anarchisten in Kronstadt als Revolutionäre berühmt. Deshalb hatten die Aufständischen, als sie allen politischen Schattierungen die Mitarbeit im Sowjet ermog1ichten, zuerst an die Anarchisten und die Linken Revolutionären Sozialisten gedacht.

 

Die Forderungen der Resolution vom 1. März - demokratische Freiheit für Arbeiter und alle Bauern, die keine Lohnabhängigen ausbeuteten; Beseitigung des politischen Monopols der KP — fanden sich auch in den Programmen anderer, inzwischen in die Illegalität verbannter sozialistischer Parteien. Die Anarchisten waren mit diesen Parolen einverstanden, aber sie hatten sie nicht erfunden.

 

Andererseits wiederholten die Kronstädter unermüdlich, dass sie für die Herrschaft der Sowjets eintraten. Es gab in Russland auch eine kleine Minderheit von Libertären, die unter der Bezeichnung "sowjetische Anarchisten" für die enge Zusammenarbeit mit staatsintegrierten Sowjets warben. Die Machnobewegung hingegen, die nicht ausschließlich anarchistisch war, aber geprägt von dem starken persönlichen Einfluss Machnos (selbst Anarchist seit früher Jugend), sprach nicht von der Herrschaft der Sowjets. Ihre Formel lautete auf "freie Sowjets", worunter sie Rate verstanden, in denen die verschiedenen politischen Strömungen koexistieren sollten und die keine staatlichen Hocheisrechte ausübten.

 

Wenn die Kronstädter den Gewerkschaftsorganen eine tragende Rolle zudachten, so war auch dies keine rein anarchistische Idee. Die Linken Revolutionären Sozialisten, die Arbeiter- Opposition innerhalb der KP (Kollontai und Kliapnikow) kämpften auch dafür. Später übernahmen andere oppositionelle Strömungen innerhalb der KP - so die Sapronowisten - diese Parole. Es war letztlich die Parole aller, die als Ergebnis der russischen Revolution die Arbeiterdemokratie wünschten und sich gegen das Monopol einer Einheitspartei wandten, die alle anderen Organisationen entweder liquidierte oder absorbierte.

 

 

IV.2 - Die Menschewisten

 

Die Menschewisten hatten bei den Matrosen nie großen Einfluss genossen. Die Zahl ihrer Delegierten im Kronstädter Sowjet stand in keinem Verhältnis zu ihrer geringen Popularität in der Marine. Die Anarchisten hingegen, die nach der 2. Wahl lediglich drei oder vier Sitze hatten, besaßen einen unvergleichlich größeren Einfluss. Dieses Missverhältnis für die Anarchisten ergab sich aus deren schwacher Organisation und der Tatsache, dass für die Masse der Unterschied zwischen Anarchismus und dem Bolschewismus von 1917 kaum wahrnehmbar war, den viele Anarchisten damals für eine bakuninsche Ausprägung des Marxismus hielten.

 

Die Menschewisten oder zumindest ihre offizielle Fraktion, waren ungeachtet ihrer feindlichen Einstellung zum Bolschewismus doch auch einem Kampf gegen die Herrschaft der Sowjets abgeneigt und daher für keine bewaffnete Intervention zu gewinnen. Sie versuchten, innerhalb der Sowjets und der Gewerkschaftsorganisation die Rolle einer legalen Opposition zu spielen. Als Gegner der Diktatur des Proletariats oder einer Einheitspartei und in der Überzeugung, dass Russland noch eine kapitalistische Durchgangsphase bevorstehe, betrachteten sie militärische Interventionen nur als Hindernis auf dem Wege der demokratischen Kräfte Russlands. Sie hofften, dass nach Beendigung des Kampfes die Sowjetherrschaft den Prozess allmählicher demokratischer Transformation werde zulassen müssen.

 

Zum Kronstädter Aufstand äußerte sich ihr (illegales) Petersburger Komitee in einer Flugschrift: "An die Arbeiter, Rotarmisten und Kadetten Petersburgs! Verhindert ein Attentat! Kanonen donnern: Kommunisten einer angeblichen Arbeiterpartei schießen auf die Arbeiter und Matrosen Kronstadts.
Wir kennen nicht die Einzelheiten. Aber soviel wissen wir: die Kronstädter haben freie Wahlen zum Sowjet gefordert, die Freilassung der verhafteten Sozialisten sowie der parteilosen Arbeiter und Soldaten und für den 10. März eine Konferenz, auf der die Arbeiter, Soldaten und Matrosen ohne Parteirücksichten die kritische Lage diskutieren können, in der sich Sowjetrussland befindet.
Eine Arbeiterregierung hätte die wahren Beweggründe des Geschehens aufdecken müssen. Eine wahre Arbeiterregierung hatte sich vor dem Russland der Arbeiter einer Diskussion mit den Arbeitern und Matrosen Kronstadts stellen müssen. Statt dessen haben die Bolschewisten mit Belagerung und Artilleriefeuer reagiert.

 

Genossen. wir können und dürfen nicht ruhig bleiben im Donner der Geschütze. Jede Salve kann Dutzende von Menschenleben fordern. Wir müssen. eingreifen und dem Gemetzel Halt gebieten! Erzwingt die sofortige Beendigung der militärischen Operationen gegen die Arbeiter und Matrosen Kronstadts. Zwingt die Regierung, sofort Verhandlungen aufzunehmen. Beginnt sofort mit der Wahl dieser Delegierten!

 

Verhindert ein Attentat!" (7. März 1921)

 

Auch das Zentralkomitee der menschewistischen Partei hatte einen Aufruf herausgegeben:

 

"Line Politik der Harte gegen die Bauern ist verfehlt, es bedarf einer Politik der Verständigung. Dazu ist erforderlich, dass sich die Macht wirklich in Händen der arbeitenden Massen befindet. Und dazu ist wiederum erforderlich: die freie Neuwahl der Sowjets. Mit einem Wort: zu realisieren ist endlich die Arbeiterdemokratie, von der so viel gesprochen wurde, von der bislang keine Spur zu sehen ist.“

 

Zur Bedeutung des Aufstandes nahm Sozialistitscheski Vestnik, der offizielle Pressebeauftragte der russischen Sozia1demokratie (der Menschewisten) für das Ausland Stellung:

 

"Es sind die Massen selbst, auf denen bislang der Bolschewismus fußte, die nun den Entscheidungskampf gegen das gegenwärtige Regime aufgenommen haben."

 

Martow, Führer der russischen Menschewisten verneint (in der Emigration) in einem Artikel der "Freiheit" vom 1. Mai 1921 eine Teilnahme von Menschewisten am Aufstand und schreibt die Initiative jenen Matrosen zu, die mit der Partei zwar in organisatorischen, nicht aber in prinzipiellen Fragen gebrochen hatten.

 

Sozialistitscheski Vestnik halt die Parolen der Kronstädter für menschewistische. Er fugt hinzu, dass die russische Sozialdemokratie "um so mehr Grund zur Freude hat, als die Partei keine Verbindung zum Aufstand unterhält, da es in der Flotte keine einzige menschewistische Organisation gibt."

 

Poukhow fuhrt ein anderes, von einer Menschewisten Gruppe unterzeichnetes Dokument an (es stammt wahrscheinlich von einer der vielen dissidenten Gruppen, die mit dem Zentralkomitee nicht konform gingen):

 

"Hort bloß mit dem Gerede von Konterrevolution auf: wer sind denn die wirklichen Konterrevolutionäre? Das sind doch die Bolschewisten, die Kommissare, die "Macht der Sowjets". Gegen sie wendet sich die wahre Revolution, die wir alle unterstützen müssen. Kronstadt muss geholfen werden, und wir sind aufgefordert, diese Hilfe zu leisten.

 

Es lebe die Revolution! Es lebe die Verfassungsgebende Urversammlung"

 

Das Zentralkomitee der Menschewisten lehnte jede Verantwortung für die Äußerungen dissidenter Gruppen ab.

 

 

IV.3 - Die Rechten Revolutionären Sozialisten

 

Die Einberufung einer Verfassungsgebenden Versammlung der Konstituante, war tatsächlich die Parole einer bestimmten Partei, nämlich der Rechten Revolutionären Sozialisten. In ihrem Parteiorgan Revolutzionnaija Rossija, das in der Emigration herausgegeben wurde, schreibt im März 1921 Victor Tschernow, ehemaliger Präsident der aufgelösten Konstituante und Führer der Rechten Revolutionären Sozialisten:

 

"Um Kronstadt müssen. sich jetzt alle scharen, die das abscheulich blutige Regime der bolschewistischen Diktatur überwinden und den Weg der Freiheit zu einer Demokratie ebnen wollen, deren Krönung die Verfassungsgebende Versammlung ist."

 

Tschernow wusste, was die aufständischen Matrosen in Nr. 6 der Iswestija geschrieben hatten: "Die Arbeiter und Bauern schreiten unaufhaltsam voran. Hinter sich lassen sie die Outschredilka (pejorative Bezeichnung für die Konstituante) mit ihrem bourgeoisen System ebenso wie die kommunistische Diktatur mit ihrer Tscheka und ihrem Staatskapitalismus, der die arbeitende Masse im Würgegriff halt und sie bald ganz zu erdrosseln droht." Tschernow jedoch tat den die Konstituante betreffenden Gehalt dieser Zeilen als Überbleibsel bolschewistischer Ideen ab.

 

In Absprache mit seinen politischen Freunden richtete Tschernow, dessen persönliche und politische Haltung derjenigen der Menschewisten absolut konträr war, einen flammenden Appell an die Matrosen:

 

"Die Bolschewisten haben Freiheit und Demokratie zu schaden gemacht, als sie dem Volk einredeten, Sowjets und Konstituante seien unvereinbare Gegensätze. Statt die Sowjets zur Stutze der Konstituante zu machen, zu einem starken Band zwischen ihr und dem Land, haben sie die Sowjets gegen die Verfassungssehende Versammlung ausgespielt und damit beiden, der Konstituante, genauso aber den Sowjets, einen schlechten Dienst erwiesen. Ihr musst das endlich begreifen, Ihr hintergangenen Arbeiter, Soldaten und Matrosen. Möge Eure Parole ’Freie Wahl der Sowjets!' lauter ertönen, möge sie auffordern, über die Sowjets zu einer Verfassungsgebenden Versammlung zu gelangen!"

 

Tschernow ging noch weiter. Von seinem Privatschiff aus depeschierte er an das Provisorische Revolutionskomitee von Kronstadt:

 

"Der Präsident der Verfassungsgebenden Versammlung, Victor Tschernow, sendet den heroischen Genossen Matrosen, Rotarmisten und Arbeitern, seine brüderlichen Grüße, ihnen, die zum dritten Male seit 1905 das Joch der Tyrannei zerbrechen. Erbietet Unterstützung an Menschen sowie seine Vermittlung, um die Versorgung Kronstadts mit Hilfe russischer Genossenschaften im Ausland sicherzustellen. Teilt mit, was Euch fehlt und in welcher Menge. Ich bin bereit, meine persönliche Kraft und Autorität in den Dienst der Revolution des Volkes zu stellen. Ich vertraue in den Endsieg des werktätigen Volkes. Von überall her erreichen mich Nachrichten von dem Willen der Massen, sich im Namen der Verfassungsgebenden Versammlung zu erheben; Lasst Euch nicht durch die Unterhandlungen mit den bolschewistischen Machthabern tauschen. Sie wollen nur Zeit gewinnen, um Kronstadt mit den zuverlässigsten Einheiten der privilegierten Sowjetgarde zu umzingeln.
Mögen jene leben, die als erste die Standarte der Volksbefreiung entrollt haben. Nieder mit dem Despotismus der Linken und der Rechten. Es lebe die Freiheit und die Demokratie."

 

Ein zweiter Aufruf wurde gleichzeitig durch Boten nach Kronstadt gebracht:

 

"Die Delegation der Revolutionären Sozialistischen Partei im Ausland - einer Partei, die sich aller Putschversuche enthalten hat und die immer wieder in Russland den Volkszorn besänftigte, indem sie den Kreml-Diktatoren durch den Willen des Volkes Zugeständnisse abzuringen versuchte - kann jetzt, da das Gefaß des Zornes am Überlaufen ist, da in Kronstadt das Banner der Revolution entfaltet wird, nicht umhin, den Aufständischen die Hilfe aller ihr zur Verfügung stehenden Kräfte für den Kampf um Freiheit und Demokratie anzubieten. Die Revolutionären Sozialisten sind bereit, Euer Los zu teilen und in Euren Reihen Tod oder Sieg zu suchen.

 

Sagt, wie wir Euch helfen können. Es lebe die Revolution des Volkes, es leben die freien Sowjets und die Verfassungsgebende Versammlung."

 

Auf seine verbindlichen Vorschläge hin erhielt Tschernow folgendes Antworttelegramm aus Kronstadt:

 

"Das Provisorische Revolutionskomitee von Kronstadt hat den Gruß des Genossen Tschernow aus Reval erhalten. Es druckt allen seinen Freunden im Ausland seinen tief empfundenen, Dank für ihre Sympathiebezeugungen aus. Das Provisorische Revolutionskomitee fühlt sich verpflichtet, dem Genossen Tschernow für sein Anerbieten zu danken, bittet ihn aber, vorläufig, dh bis zur Klärung der Frage, nicht zu kommen. Sein Vorschlag wird jedoch in näheren Betracht gezogen.

 

3. März 1921 gez.: Der Präsident des PRK Petritschenkow"

 

Die Bolschewisten haben behauptet, das Provisorische Revolutionskomitee habe seine prinzipielle Zustimmung zu Tschernows Kommen gegeben, Tschernow aber habe sein Hilfsangebot davon abhängig gemacht, dass die Aufständischen die Parolen der Konstituante übernahmen. Der Kommunist Komarow behauptete am 20. März 1921 in einer Sitzung des Petersburger Sowjet, das Provisorische Revolutionskomitee habe Tschernow gebeten, 12 Tage zu warten, bis die Versorgungssituation in Kronstadt so zugespitzt sein werde, dass die Parolen der Revolutionären Sozialisten akzeptabel erschienen. Komarow gab vor, diese Information aus den Verhören Perepelkins zu haben, der den Bolschewisten in die Hände gefallen war. Perepelkin habe sogar bestätigt, dass der Präsident des Provisorischen Revolutionskomitees heimlich eine positive Antwort an Tschernow geschickt habe. Der Matrose Perepelkin wurde erschossen, seine "Geständnisse" können also nicht überprüft werden. Jedenfalls aber traf er im Gefängnis mit dem Menschewisten Dan zusammen, dem er jedoch in ihren sonst offenen und detaillierten Gesprächen auf dem Gefängnishof nichts derartiges mitgeteilt hat. Es ist also zu vermuten, dass die bolschewistische "Justiz" schon damals Lugen zu fabrizieren wusste.

 

Petritschenkow bestätigt in einem Artikel in der Znamia Borby vom Januar 1922 (die Znamia war das Organ der Linken Revolutionären Sozialisten) die vom Provisorischen Revolutionskomitee an Tschernow ergangene Antwort und erklärt, das Provisorische Revolutionskomitee habe diese Frage nicht losen können und wollte sie dem neu zu wählenden Sowjet vorlegen.
Petritschenkow fugt hinzu:
"Ich teile diesen Sachverhalt unbeeinflusst Von meiner politischen Stellungnahme dazu mit." Tschernow seinerseits dementiert, den Aufständischen irgendwelche Bedingungen gestellt zu haben. Er erklärt, die Parolen der Konstituante offen vertreten zu haben, nämlich in der Annahme, die Aufständischen wurden sie früher oder später ohnehin Übernehmen.

 

 

IV.4 — Die Linken Revolutionären Sozialisten

 

Die Linken Revolutionären Sozialisten haben in einem programmatischen Artikel in der Znamia Borby vom Juni 1921 ihren politischen Standpunkt definiert:

 

"Das eigentliche Ziel der Linken internationalistischen Revolutionären Sozialisten besteht in der Wiederherstellung des Rätesystems, der Wiederherstellung der wahren Macht des wahren Sowjets....

 

Wir werden dafür. arbeiten, dass jeden Tag und jede Stunde die verletzte Verfassung der Sowjetrepublik vom 10. Juni 1918 wieder in Kraft treten kann. ... Die Bauernschaft muss als Rückgrat der russischen Arbeiterbevölkerung einen würdigen Platz in der Sowjetrepublik einnehmen, sie muss das Recht haben, selbst über ihr Schicksal zu bestimmen. ... Eine andere wesentliche Forderung ist: die Wiederherstellung der Handlungsfreiheit für die werktätige Bevölkerung der Städte. Man kann von ausgehungerten und halbtoten Menschen keine intensive Arbeit erwarten. Man muss ihnen erst einmal zu essen geben – und darum ist es notwendig, die Interessen der Arbeiter und Bauern aufeinander abzustimmen."

 

Unbestreitbar ist der Geist der Petropaw1owsk-Reso1ution dieser "Plattform" der Linken Revolutionären Sozialisten eng verwandt. Diese dementierten aber kategorisch jede Beteiligung am Aufstand. In derselben Nummer der Znamia schreibt einer ihrer Moskauer Korrespondenten:

 

"Es gab in Kronstadt keinen einzigen Kampfer der linken Volksbewegung, das Geschehen lief ohne unsere Beteiligung ab; am Anfang hielten wir uns fern, und dennoch war die Bewegung im Kern mit der linken Volksbewegung identisch; in all ihren Parolen und ihrer Vorstellungswelt ist sie uns verwandt."

 

In unserer erklärten Absicht, die historische Wahrheit herauszuarbeiten, werden wir zwei weitere authentische Zeugnisse wiedergeben. Das eine stammt von Lenin, aus seiner Schrift über die "Naturaltsteuer", das andere ist ein Auszug aus einem Artikel Petritschenkows in der Znamia Barby vom Januar 1926.

 

 

IV. 5 – Das „Urteil“ Lenins

 

„Das Frühjahr 1921 brachte – hauptsächlich infolge der Missernte und der Viehseuche – die äußerste Verschärfung in der Lage der Bauernschaft, die infolge des Krieges und der Blockade ohnehin außerordentlich schwer war. Die Folge der Verschärfung waren politische Schwankungen, die allgemein gesprochen, zur eigentlichen „Natur“ des Kleinproduzenten gehören. Der krasseste Ausdruck dieser Schwankungen war die Meuterei in Kronstadt.

 

 

Die kennzeichnendsten an den Kronstädter Ereignisse sind gerade die Schwankungen des kleinbürgerlichen Elements. Etwas Festgeformtes, Klares, Bestimmtes ist kaum zu merken. Nebelhaft Losungen wie „Freiheit“, „freier Handel“, „Befreiung vom Joch“, „Sowjets ohne Bolschewisten“ oder „Neuwahl der Sowjets“ oder „Befreiung von der Parteidiktatur“ und so weiter und so fort. Sowohl die Menschewisten als auch die Revolutionären Sozialisten proklamieren, die Kronstädter Bewegung sei „ihre“ Bewegung. Victor Tschernow sendet seinen Eilboten nach Kronstadt: auf Vorschlag dieses Boten stimmt in Kronstadt der Menschewist Walk, einer der Kronstädter Führer, für die „Konstituante“. Im Nu macht das gesamte Weißgardistentum geradezu mit der Geschwindigkeit der Funktelegrafie „für Kronstadt“ mobil. Die weißgardistischen Militärspezialisten in Kronstadt, eine Reihe von Spezialisten, nicht Koslowskij allein, arbeiten den Plan einer Landung in Oranienbaum aus, einen Plan, der die schwankende menschewistisch-sozialrevolutionäre-parteilose Masse in Schrecken versetzt hat. Mehr als ein halbes Hundert im Ausland erscheinender weißgardistischer russischer Zeitungen entwickeln mit rasender Energie eine Kampagne „für Kronstadt“. Die Großbanken, alle Kräfte des Finanzkapitals, veranstalten Sammlungen für Unterstützung von Kronstadt. Der kluge Führer der Bourgeoisie und der Gutsbesitzer, der Kadett Miljukow, setzt geduldig dem Dummkopf Victor Tschernow direkt (und den wegen ihrer Verbindung mit Kronstadt im Petersburger Gefängnis sitzenden Menschewisten Dan und Roschkow indirekt) auseinander, dass es keinen Sinn habe, sich mit der Konstituante zu überstürzen, dass man sich für die Sowjetmacht – nur ohne Bolschewisten – aussprechen könne und müsse.

 

Es ist natürlich nicht schwer, klüger zu sein also solche selbstgefälligen Narren wie Tschernow, dieser Held der kleinbürgerlichen Phrase, oder wie Martow, der Ritter des „marxistisch“ zurechtgestutzten bürgerlichen Reformismus. Nicht darum handelt es sich eigentlich, dass Miljukow als Person klüger ist, sondedrn darum, dass der Parteiführer der Großbourgeoisie infolge seiner Klassenstellung den Klassensinn der Sache und die politischen Wechselbeziehungen klarer sieht und besser erfasst als die Führer des Kleinbürgertums – wie Tschernow und Martow. Denn die Bourgeoisie ist tatsächlich eine Klassenmacht, die unter dem Kapitalismus unvermeidlich herrscht, sowohl unter der Monarchie als auch in der allerdemokratischsten Republik und ebenso unvermeidlich auch die Unterstützung der Weltbourgeoisie genießt. Das Kleinbürgertum aber, das heißt alle Helden der II. Internationale und der Internationale „Zweieinhalb“, kann dem ökonomischen Wesen nach nichts anderes sein als der Ausdruck der Klassenohnmacht. Daher die Schwankungen, die Phrasen, die Hilfslosigkeit. …

 

Wenn Martow in seiner Berliner Zeitschrift erklärt, Kronstadt habe nicht nur menschewistische Parolen durchgeführt, sondern auch den Beweis geliefert, dass eine antibolschewistische Bewegung möglich sein, die nicht vollständig den Weißgardisten, den Kapitalisten und Gutsbesitzern diene, so ist das geradezu das Musterbeispiel eines in sich selbst verliebten spießbürgerlichen Narziss. Lasst uns einfach die Augen vor der Tatsache verschließen, dass alle echten Weißgardisten den Kronstädter Aufständischen zujubelten und durch die Banken Gelder zur Unterstützung von Kronstadt sammelten! Miljukow hat gegenüber Tschernow und Martow recht, denn er verrät die wirkliche Taktik der wirklichen weißgardistischen Kraft, die Kraft der Kapitalisten und Gutsbesitzer: wir wollen jeden, wer immer es auch sei, sogar Anarchisten, jede beliebige Sowjetmacht unterstützen, damit nur die Bolschewisten gestürzt werden, damit nur eine Verschiebung der Macht herbeigeführt wird! Einerlei, ob nach rechts oder links, ob zu den Menschewisten oder zu den Anarchisten hin, nur eine Verschiebung der Macht weg von den Bolschewisten, das übrige aber – das übrige werden „wir“, die Miljukow, „wir“, die Kapitalisten und Gutsbesitzer, schon „selber“ besorgen; die Anarchistlein, die Tschernow und die Martow werden wir schon hinausprügeln, wie wir es in Sibirien mit den Tschernow und Maiski, wie wir es in Ungarn mit den ungarischen Tschernow und Martow getan haben. … Diese spießbürgerlichen Narzisse – Menschewisten, Revolutionäre Sozialisten und Parteilose – hat die wirkliche, geschäftstüchtige Bourgeoisie in allen Revolutionen dutzende Male in allen Ländern zu Hunderten übertölpelt und davongejagt. Das ist geschichtlich bewiesen. Das ist durch die Tatsachen belegt. Die Narzisse werden schwatzen. Die Miljukow und die Weißgardistenbande aber werden handeln.“

 

 

 

IV.6 – Die Stellungnahme Petritschenkows

 

„Kürzlich las ich die Korrespondenz zwischen der Organisation der Linken Revolutionären und den Kommunisten Englands. In ihr wird auch der Kronstädter Aufstand behandelt.

 

Als Präsident der Kronstädter Revolte fühle ich mich verpflichtet, dem Politbüro der Englischen KP in aller Kürze einige Aufklärungen zu geben. Ich weiß, dass Sie aus Moskau informiert wurden, weiß aber auch, wie einseitig und parteiisch diese Informationen waren. Es wäre daher nicht schlecht, wenn Sie auch die Ansicht der Gegenseite kennen würden. …

 

Sie haben selbst anerkannt, dass der Kronstädter Aufstand nicht von außen inspiriert war; mit anderen Worten: was hier zum Ausbruch kam, war die lang angestaute Ungeduld der werktätigen Massen, der Matrosen, der Rotarmisten, der Arbeiter und Bauern. Dieser Zorn des Volkes über die Diktatur der KP, genauer: über ihre Bürokratie, nahm die Form des Aufstandes an; so kam es, dass kostbares Blut vergossen wurde; nicht um Klassen- oder Kastengegensätze ging es: auf beiden Seiten der Barrikaden standen Werktätige. Der einzige Unterschied war, dass die Kronstädter bewusst und freiwillig, die Angreifer aber unter dem Einfluss, wenn nicht Zwang, der Herren der KP kämpften. Ich will noch mehr sagen: die Kronstädter hatten keine Lust, zur Waffe zu greifen und Blut zu vergießen!

 

Welcher Umstände bedurfte es dann, dass die Kronstädter den Parteidiktatoren schließlich in deren Sprache, der Sprache der Kanonen, antworteten?

 

Die Matrosen von Kronstadt haben eine aktive Rolle bei der Schaffung jener Regierung gespielt, aus der jene Diktatoren erwuchsen. Sie haben sie gegen alle Angriffe der Konterrevolution verteidigt; nicht nur bewachten sie die Tore Petersburgs; des Herzens der Revolution – ihre Einheiten kämpften an unzähligen Fronten gegen die Weißgardisten, angefangen bei Kornilow bis zu den Generälen Youdienitsch und Neklioudow. Und dann wären diese selben Kronstädter mit einem Schlag Feinde der Revolution geworden? Die Regierung „der Arbeiter und Bauern“ hat sie als Agenten der Entente, als französische Spione, als Steigbügelhalter der Bourgeoisie, als Revolutionäre Sozialisten, als Menschewisten und was nicht alles hingestellt. Es ist doch erstaunlich, dass die Kronstädter ausgerechnet zu dem Zeitpunkt gefährliche Feinde wurden, als die Gefahr von seiten der konterrevolutionären Generäle beseitigt war; ausgerechnet in dem Augenblick, da es Zeit wurde, das Land wieder aufzubauen, Zeit, die Früchte der Oktoberrevolution zu ernten, Zeit, den wahren Wert der Dinge zu zeigen und die politischen Errungenschaften auf den Tisch zu legen (Versprechen reichten nicht mehr aus, es galt, sie zu erfüllen), an die während des Bürgerkrieges niemand zu denken gewagt hatte. Ausgerechnet in diesem Augenblick also hätten sich die Kronstädter als Feinde entpuppt? Welches Verbrechen gegen die Revolution hat Kronstadt denn begangen?

 

Als die Fronten des Bürgerkrieges aufgelöst waren, erlaubten sich die Arbeiter Petersburgs, den Sowjet dieser Stadt daran zu erinnern, dass nun wohl die Zeit gekommen sei, an die wirtschaftliche Lage zu denken und endlich die Verwaltungsformen kriegerischen Ausnahmezustandes zugunsten zivilerer Methoden aufzugeben.

 

Der Sowjet von Petersburg erklärte diese zugleich friedliche und berechtigte Anfrage für konterrevolutionär. Taub und stumm blieb er für diese Forderungen, aber er befahl Verfolgung und Verhaftung unter Arbeitern, die er als Spione und Agenten der Entente diskriminierte. Diese Bürokraten wurden während des Bürgerkrieges korrumpiert, als niemand ihnen zu widersprechen wagte. Aber den Wandel der Verhältnisse hatten sie nicht bemerkt. Die Antwort der Arbeiter hieß Streik. Der Sowjet ließ daraufhin diese ausgehungerten und erschöpften Arbeiter von seiner Leibwache in die Zange nehmen und mit allen Mitteln zur Arbeit pressen. Und diese Leibgarde aus Rotarmisten und Matrosen, die selbst Mitleid hatten mit den Arbeitern, wagte kein Wort zu ihrer Verteidigung – denn die Herren hatten sie gewarnt: Kronstadt werde gegen jeden eingreifen, der sich der Sowjetregierung widersetzt. Aber diesmal hatte sich die Regierung der „Arbeiter und Bauern“ in Kronstadt getäuscht: Dank seiner geografischen Lage bei Petersburg hatte Kronstadt, wenn auch mit gewisser Verzögerung, den wahren Stand der Dinge in Petersburg erfahren.

 

Insofern haben die englischen Genossen in der Annahme recht, dass niemand den Kronstädter Aufstand inspiriert hatte.

 

Dann würde ich noch gern wissen, worin sich die Unterstützung der konterrevolutionären russischen Auslandsorganisationen für Kronstadt gezeigt hat. Ich wiederhole abermals, dass der Aufstand nicht von irgendeiner politischen Organisation ausgelöst wurde – und ich denke, dass es derartige Organisationen in Kronstadt nicht einmal gegeben hat. Die Revolte entstand spontan aus der Stimmung der werktätigen Bevölkerung und der Garnison. Das können wir aus der Resolution ersehen und aus der Zusammensetzung des Provisorischen Revolutionskomitee. Nichts darin deutet auf das Vorherrschen irgendeiner anti-sowjetischen Partei. Die Kronstädter waren der Ansicht, unter dem Diktat der Umstände zu handeln. Die Aufständischen setzten ihre Hoffnung auf niemand; nicht auf das Provisorische Revolutionskomitee, nicht auf die Deligiertenversammlung, nicht auf meetings oder was auch immer. Das Provisorische Revolutionskomitee unternahm nichts in dieser Richtung, obwohl die Möglichkeit dazu bestanden hätte. Das Komitee war bestrebt, sich strikt nach dem Willen des Volkes zu richten. Ob das ein Verdienst oder Fehler war, kann ich nicht entscheiden, aber die Tatsache ist, dass die Masse dem Komitee die Richtung vorschrieb und nicht umgekehrt. Wir hatten keine berühmten politischen Kämpfer unter uns, die die Zukunft auf drei Meilen gegen den Wind riechen und daraus Nutzen hätten ziehen können. Die Kronstädter haben ohne Plan und Programm gehandelt, haben sich in der in der Resolution angegebenen Richtung und nach Maßgabe der Umstände vorgetastet. Von der ganzen Welt abgeschnitten, wussten wir nicht, was außerhalb Kronstadts geschah, sei es in Sowjetrussland oder im Ausland. Es ist möglich, das mancher für unseren Aufstand hätte Perspektiven entwickeln können (wie üblich)-aber das wäre in unserem Fall vergebens gewesen. Wir konnten keine Hypothesen über mögliche Konsequenzen möglicher Ereignisse aufstellen, denn diese Ereignisse hätten auch ganz anders ablaufen können. Aber die Kronstädter wollten ihre einmal gegebene Chance zur Initiative nicht versäumen.

 

Die Kommunisten haben uns vorgeworfen, dass wir das Angebot des russischen Roten Kreuzes in Finnland betreffend Lebensmittel und Medikamente angenommen haben. Wir müssen sagen, dass wir an diesem Angebot nichts bedenklich fanden. Dabei hatten wir die Zustimmung des ganzen Provisorischen Revolutionskomitees und der Delegiertenversammlung. Wir betrachten diese Organisation als eine rein philanthropische, die uns neutral und ohne Hintergedanken ihre Hilfe anbot. Nach dem Entschluss, eine Delegation des Roten Kreuzes die Stadt betreten zu lassen, wurden deren Mitglieder mit verbundenen Augen zum Generalsstab gebracht.

 

Bei der ersten Sitzung haben wir ihnen erklärt, wir würden ihre Hilfe als die einer philanthropischen Organisation dankbar annehmen, uns dabei aber als von jeder Verpflichtung ihn gegenüber frei betrachten. Wir haben ihrem Verlangen Rechnung getragen, einen ständigen Beobachter in Kronstadt zu haben, der die ordnungsgemäße Verteilung der Lebensmittel, die hauptsächlich für Frauen und Kinder bestimmt waren, zu überwachen hatte. Dies war Kapitän Wilken; er wurde in einem ständig bewachtem Appartement untergebracht und konnte keinen Schritt ohne Genehmigung tun. Inwiefern konnte Wilken gefährlich sein? Er konnte lediglich die Stimmung zur Zivilbevölkerung und der Garnison in Erfahrung bringen.

 

Bestand etwa darin die Hilfe der internationalen Bourgeoisie? Oder in dem Grußtelegramm Victor Tschernows an das aufständische Kronstadt? War das die Unterstützung der russischen und internationalen Konterrevolution? Kann man den wirklich annehmen, dass sich die Kronstädter jeder beliebigen anti-sowjetischen Partei an den Hals geworfen hätte?

 

Als die aufständischen erfuhren, dass die Rechten tatsächlich eigene Pläne bezüglich des Aufstandes schmiedeten, kamen sie ihnen zuvor. Das beweist der Artikel in der Iswestija vom 6. März mit der Überschrift: ‘Sehr geehrte Herren – oder: Liebe Genossen‘.“

 

 

 

V. KRONSTADT – EIN LETZTER VERSUCH DER SOWJETS

 

 

Wie ist der Kronstädter Aufstand zu beurteilen?
- Als konterrevolutionärer Aufstand?
- Als Revolte ohne eigenes konterrevolutionäres Ziel, die aber einer möglichen Konterrevolution Vorschub geleistet hätte?
- Oder lediglich als Versuch der Arbeiterklasse, die Versprechen der Oktoberrevolution einzufordern?

 

 

Und:

 

- War dieser Aufstand unabwendbar?

 

Und schließlich:

 

- War sein blutiger Ausgang unabwendbar?

 

 

Diese Fragen sind im Schlusskapitel unserer Betrachtung zu diskutieren.

 

 

 

V.1 – Die Version Trotzkis

 

 

Die Anklagen, die Poukhow 1931 gegen Kronstadt erhebt, sind mit der bolschewistischen Beurteilung des Aufstandes identisch, wie sie bereits 1921 erfolgte. Auch Trotzki orientierte sich daran, seine Anhänger tun es selbst heute noch. Trotzkis eigene Äußerungen zu den Ereignissen sind übrigens höchst sparsam und uneinheitlich. Niemals hat er ausdrücklich Stellung bezogen, seine Meinung zu den Vorfällen tat er nur sporadisch kund. 1937 sprach er erstmals ausdrücklich zu diesen Thema in der Presse (in seinen Büchern, in denen die russische Revolution behandelt wird, äußert er sich fast gar nicht dazu). Damals schrieb er: „… das Land litt Hunger, aber die Matrosen Kronstadts forderten Privilegien. Ihr Aufstand erwuchs aus der Forderung nach Vorzugs-Rationen.“ Es erübrigt sich der Hinweis, dass die Kronstädter derartige Forderungen niemals erhoben haben. Diesen Vorwurf lässt Trotzki später auch tatsächlich fallen. Dennoch ist festzuhalten, dass seine erste Stellungnahme eine falsche Behauptung enthielt.

 

In einem Artikel vom 26. Februar 1938 in der belgischen Zeitung „Lutte Ouvrière“ schreibt er:

 

„Unter dem Gesichtspunkt der Klasse – der ungeachtet aller Elektriker doch das fundamentale Kriterium sowohl der Politik als auch der Geschichtsschreibung bleibt – ist es von besonderer Bedeutung, die Haltung der Kronstädter mit derjenigen der Petersburger zu vergleichen.

 

Auch in Petersburg hatte die Arbeiterklasse ihre führenden Kräfte verloren. In der verlassenen Hauptstadt regierten Hunger und Kälte womöglich noch grausamer als in Moskau … Die Kronstädter Zeitungen schreiben, dass es in Petersburg Barrikaden und Tausende von Toten gegeben habe, eine Behauptung, die von der Weltpresse nachgebetet wird. Das genaue Gegenteil tritt zu. Der Kronstädter Aufstand wirkte auf die Petersburger Arbeiter viel eher abstoßend als anziehend. Die Grenze (das Engagements für Kronstadt) fiel mit der Klassengrenze zusammen. Die Arbeiter erkannten sofort, dass die Rebellen von Kronstadt auf der anderen Seite der Barrikaden standen. Sie unterstützten die Macht der Sowjets.“

 

Wieder einmal schlägt hier Trotzki der Wahrheit ins Gesicht. Wir haben am Beginn unserer Studie klargestellt, daß es in Petersburg war, wo die ersten Streiks ausbrachen, denen sich Kronstadt dann erst anschloß. Das von der Zentralregierung eingesetzte Verteidigungskomitee war zunächst auf die Streikenden von Petersburg angesetzt. Und es waren die Arbeiter von Petersburg, gegen die sich die Repressalien richteten und gegen deren Demonstrationen die Kadettenkorps marschierten.

 

Nur: die Petersburger Arbeiter hatten keine Waffen, während die Kronstädter sich verteidigen konnten. Die militärischen Aktionen gegen Kronstadt verfehlten auch ihren Eindruck auf die Petersburger Arbeiter nicht, deren Verhalten wir bereits dargestellt haben. Die „Grenze“ verlief jedenfalls nicht entlang der Klassengrenze, sie markierte vielmehr die Einflußsphäre der bolschewistischen Zwingherren. Wenn die Petersburger Arbeiter sich nicht den Kronstädtern anschlossen, beweist das noch lange keine verschiedene Einstellung. Als – in späteren Jahren – das russische Proletariat sich nicht scharenweise den oppositionellen Gruppen anschloß, brachte es damit auch nicht seine Begeisterung für Stalin zum Ausdruck. In solchen Situationen ist es eben nur die rohe Gewalt, die die politische Landkarte bestimmt.

 

Im gleichen Artikel wiederholt Trotzki auch sein Argument, daß die Kronstädter ihre revolutionären Kräfte verloren hätten. Während die Matrosen 1917 und 1918 auf einem höheren ideologischen Niveau als die Rote Armee agierten, hätten sie 1921 um so mehr „nachgelassen“. Dieses Argument wird durch die offizielle Akten der Roten Armee entkräftet, in denen gerade die starke Sympathie in den Reihen der Roten Armee für die Kronstädter moniert wird.

 

Schließlich wirft Trotzki seinen Gegnern vor, übertrieben nachtragend zu sein: „In manchen Kreisen dauern die Kämpfe um Kronstadt noch an. Da hält man es manchmal kaum für möglich, daß dieser Aufstand immerhin siebzehn Jahre zurückliegt.“

 

Uns bedeutet siebzehn Jahre allerdings im Maßstab der Weltgeschichte sehr wenig; heute über Kronstadt zu sprechen, ist kein Rückgriff auf die „Pharaonen“. Außerdem scheint es uns logisch, an diesem plastischen und symptomatischen Ereignis die Gründe der russischen Katastrophe zu erhellen. Denn damals wurde die werktätige Klasse nicht durch Stalin, sondern durch die Crème des russischen Bolschewismus, durch Lenin und Trotzki, unterdrückt. An diese Zeiten zu rühren, bedeutet deshalb noch lange nicht, wie Trotzki meint, „die einzige wahre revolutionäre Tendenz zu diskreditieren, die niemals ihre Fahne im stich ließ, noch Kompromisse mit den Feinden schloß, und die als einzige die Zukunft repräsentiert.“

 

Trotzki selbst hat in diesen siebzehn Jahren seine Einstellung zu den Aufständischen nicht korrigiert. Aber immer noch hat er keine Argumente, stützt sich aufs Hörensagen. So schreibt er etwa:

 

„In der Garnison von Kronstadt, die nichts mehr leistete und von der Vergangenheit lebte, hatte die Demoralisation weit um sich gegriffen. Als sich die Situation im ausgehungerten Petersburg immer mehr zuspitze, erwog man im Politbüro mehrfach eine ‘innere Anleihe‘ bei Kronstadt, das von früher her noch über reichhaltige Vorräte verfügte. Aber die Delegierten aus Petersburg warnten uns: ‘Freiwillig werden die Euch nichts geben – mit ihren Tuch, ihrer Kohle, ihrem Brot spekulieren sie; in Kronstadt herrscht das letzte Lumpenpack‘.“

 

Das Trotzki guten Glaubens mit diesen angeblichen Vorräten argumentierte, ist wohl sehr zweifelhaft, wenn man an den Aufruf des Petersburger Verteidigungskomitee vom 5. März denkt, in dem es hieß: „… Ihr werdet euch ergeben müssen. Kronstadt hat kein Brot und kein Brennmaterial … “ Was ist denn aus den fraglichen Reserven geworden?

 

Am 8. März verteilt man in Kronstadt als Ration für vier Tage vier Liter Hafersuppe, am 9. März ein Viertelpfund Schwarzbrot, das zur Hälfte aus Kartoffelmehl bestand. Am 10. März beschließt das Regionalkomitee der Metallurgisten, das den Arbeitern zustehende Pferdefleisch der hungernden Bevölkerung zukommen zu lassen. Während des Aufstandes wurde dann noch einmal eine Dose Kondensmilch pro Person verteilt, ein zweites Mal Fleischkonserven und ein drittes und letztes Mal je ein halbes Pfund Butter für jedes Kind. Das sind zweifellos die „reichhaltigen Vorräte“, die man nach Trotzkis Ansicht hätte ausleihen und zur Linderung der Hungersnot in ganz Russland hätte einsetzen könne.

 

Übrigens wären diese Vorräte vor dem Kronstädter Aufstand (also zur fraglichen Zeit) ohnehin nur mit Zustimmung kommunistischer Funktionäre zugänglich geworden; die einfachen Matrosen hätten, selbst wenn sie das gewollt hätten, gar nichts gegen diese „Anleihe“ unternehmen können.

 

Damit ist diese Frage wohl geklärt – zugleich die Beweiskraft der gegen die Kronstädter vorgebrachten Argumente hinre3ichend gewürdigt.

 

Es beweist wohl nur den Mangel an stichhaltigen Gründen auf seiten der Bolschewisten, dass sie Argumente von der eben geschilderten Art in einer derart wichtigen Diskussion vorbringen – und dann auch noch eine Polemik über die spanische Revolution damit verbinden.

 

Gleiche Schuld trifft allerdings auch die Arbeiter-Opposition, die nach Auskunft damals in Russland weilender ausländischer Kommunisten absolut nicht mit den Maßnahmen gegen die Aufständischen einverstanden war, es aber auch nicht wagte, zu deren Verteidigung etwas zu sagen. Auf dem 10. Parteitag protestierte niemand gegen die Ermordung der Aufständischen. Der Arbeiter Loutowinow, designiertes Mitglied des Zentralen Exekutivrates der Sowjets, einer der Oppositionsführer, sagte im März 1921 in Berlin (wohin er angeblich diplomatischer Mission, tatsächlich aber ins Exil gekommen war):

 

„Die letzten Berichte der ausländischen Presse über die Ereignisse von Kronstadt sind stark übertrieben. Die Sowjetregierung ist durchaus in der Lage, mit den Rebellen fertig zu werden. Ihr zögerndes Vorgehen erklärt sich aus der Absicht, die Kronstädter Bevölkerung zu schonen.“

 

(nach L‘Humanitè vom 18. März 1921)

 

Trotzki bedient sich noch eines anderen Argumentes, das für alle Oppositionellen in Russland sehr gefährlich werden sollte; er wirft den Kronstädter vor, „von ihrer revolutionären Vergangenheit zu leben“. Stalin sollte das selbe Argument gegen Trotzki und die Altbolschewisten benutzen, um ihnen bald darauf vorzuwerfen, dass sie von Anbeginn der Revolution als Agenten der internationalen Bourgeoisie fungiert hätten. In den ersten Kampfjahren habe Trotzki der Revolution zwar unschätzbare Dienste erwiesen, um dann jedoch in das Lager der Gegenrevolution überzuwechseln. Man müsse, fuhr Stalin fort, einen Menschen nach seinem gegenwärtigen Verhalten und nicht nach seiner Vergangenheit beurteilen, wie das Beispiel Mussolini beweise.

 

Was Trotzki uns mit all seinen Argumenten nicht erklären kann, ist der ideologische Dissens Kronstadts und der ganzen Flotte und die Einstellung der Kommunisten in der Flotte während der Gewerkschaftsdebatte, die mit der Wahl zum 8. Allrussischen Sowjetkongress begann und bis zur II. Kommunistischen Konferenz der Baltischen Flotte kurz vor dem Aufstand dauerte. Genau die aber sind die Angelpunkte der Diskussion.

 

Wenn Trotzki behauptet, dass alle, die auf seiten der Regierung standen, echte proletarische und progressive Kräfte waren, alle anderen hingegen dem konterrevolutionären Lager der Landbevölkerung angehörten, müsste er die Behauptung erst in einer ernstzunehmenden Analyse der Fakten beweisen.

 

Die Entwicklung hat gezeigt, dass im Ablauf der Revolution einige Wichen falsch gestellt waren, was zur Kompromittierung und Zerstörung aller sozialen, politischen und moralischen Errungenschaften führte. War der Aufstand von Kronstadt ein Versuch, die russische Revolution wieder in die richtigen Geleise zu lenken.

 

Das ist die entscheidende Frage, aus der sich erst die übrigen zweitrangigen Fragen ableiten lassen.

 

Es war sicher nicht die Vernichtung Kronstadts, die zu einem vorzeitigen Ende der Revolution führte, aber es waren uE die auf Kronstadt und im großen Rahmen auf ganz Russland angewandten politischen Methoden, die aus den Trümmern der sozialen Revolution ein oligarisches System erwachen ließen, das mit den ursprünglichen Erwartungen seiner Wegbegleiter nichts mehr gemein hatte.

 

 

V.2 – Die Version der Bolschewisten

 

1921 behauptete die bolschewistische Regierung, der Kronstädter Aufstand sei vorgeplant gewesen. Diese Version entstand aus einer Meldung, die am 15. Februar 1921 in einigen französischen Zeitungen erschien (Le Matin, L'Echo de Paris) und in der die Insurrektion angekündigt wurde. Daher auch die Behauptung, der Aufstand sei von der Entente inszeniert.

 

Dieses fragwürdige Argument brachte auch Lenin auf dem 10. Parteitag vor. „Wir haben gesehen, wie auf die Bolschewisten ein undurchsichtiges politisches Konglomerat folgte; wahrscheinlich mit Elementen von rechts, besonders und jedenfalls aber mit Elementen aus der Richtung ‚links‘ von den Bolschewisten. Die Gesamtheit aller politischen Gruppen, die in Kronstadt an die Macht wollen, lässt sich gar nicht genau festlegen. Aber es herrscht kein Zweifel, dass auch weißgardistische Generäle eine große Rolle gespielt haben, das ist sogar bewiesen. Zwei Wochen vor den Ereignissen in Kronstadt veröffentlichte die Pariser Presse bereits die Nachricht vom Kronstädter Aufstand.“

 

(Lenin, Ges. Werke, engl. Ausg., XXVI, S 124)

 

Tatsache ist, dass Falschmeldungen aus Russland keine Seltenheit waren, nach dem Aufstand ebensowenig wie vorher. Unbestreitbar beeilte sich die Weltbourgeoisie als Feind der russischen Revolution, alle schlechten Nachrichten aus Russland jeweils zu übertreiben. Als daher am 15. Februar die II. Kommunistische Konferenz der Baltischen Flotte ihre Kritik an der politischen Führung der Flotte anmeldete, konnte diese Nachricht leicht von der bürgerlichen Presse überinterpretiert werden, wobei, wie häufig, der Wunsch zum Vater einer Falschmeldung wurde. Auf einen derartigen „Beweis“ seine Anklage zu stützen, ist also unzulässig und unmoralisch.

 

In seinem Artikel von 1938 bezieht sich Trotzki auch nicht auf diese Beschuldigung durch Lenin, sondern auf eine von dem amerikanischen Trotzkisten John G. Wright veröffentlichte Studie zum Aufstand. Wright seinerseits greift in diesem im Februar 38 in „The New Internationalist“ erschienenen Artikel auf das Argument zurück, dass der Aufstand vorbereitet gewesen sein musste, da ihn ja die französische Presse am 15. Februar bereits annoncierte. Er schreibt:

 

„Eine Verbindung zwischen Kronstadt und der Konterrevolution lässt sich nicht nur nach Aussagen von Feinden des Bolschewismus konstruieren – sie ergibt sich auch aus beweiskräftigen Fakten.“ Und diese beweiskräftigen Fakten sind abermals Zitate aus der bürgerlichen Presse (Le Matin, Vossische Zeitung, The Times) mit ihren Falschmeldungen über den Kronstädter Aufstand.

 

Es ist, wie gesagt, leicht, diese Argumente zu entkräften. Was schwerer wiegt, ist die Tatsache, dass sie nicht nur damals in der Hitze des Gefechts, sondern auch noch siebzehn Jahre danach Anwendung finden. Trotzki und die Trotzkisten sollten mit der Formulierung derart unbegründbarer Argumente vorsichtiger sein: Stalin wusste bei gegebenem Anlass diesem Beispiel zu folgen.

 

Warum – wenn die bolschewistische Regierung damals wirklich stichhaltige Beweise für die Verbindung mit der Konterrevolution besaß – warum hat sie dann kein öffentliches Verfahren gegen die Aufständischen angestrengt und Russland die wahren Gründe des Aufstands zu sehen gegeben? Doch wohl nur, weil diese Beweise nicht vorlagen.

 

Man sagt uns von anderer Seite, dass eine zeitigere Einführung des Neuen Ökonomischen Programms (NEP) den Aufstand verhindert hätte. Aber: Wie oben gezeigt, gab es keinen Plan für den Aufstand, und niemand konnte vorher wissen, ob es überhaupt dazu kommen musste. Wir besitzen keine Theorie über das Entstehen spontaner Bewegungen; es ist leicht möglich, dass unter anderen wirtschaftlichen und politischen Verhältnissen, als sie im Frühjahr 1921 herrschten, der Aufstand sich nicht ereignet hätte. Umgekehrt hätte er aber auch in anderer Form und an anderem Ort entstehen können, etwa in Nijni Nowgorod, wo gleichzeitig mit der Petersburger Streikwelle erhebliche Unruhen auftraten. Die besondere Situation der Flotte und die revolutionäre Vergangenheit Kronstadts haben sicher eine Rolle gespielt, man kann aber nicht mit Sicherheit angeben, wie ausschlaggebend diese Rolle war. Umgekehrt gilt das Entsprechende für das Argument, die rechtzeitige Einführung des NEP hätte die Revolte verhindern müssen.

 

Das Neue Ökonomische Programm wurde tatsächlich in dem Augenblick proklamiert, als das Kronstädter Massaker begann. Aber nichts spricht dafür, dass es auf die von den Matrosen erhobenen Forderungen tatsächlich einging. Denn in der Kronstädter Iswestija vom 14. März finden wir diese charakteristische Bemerkung: „ … Kronstadt verlangt nicht den freien Handel, sondern die wahre Macht der Räte!“.

 

Auch die streikenden Arbeiter Petersburgs unterstrichen immer wieder, so sehr sie auch die Wiederherstellung der Märkte und die Abschaffung der Milizpatrouillen forderten, dass dies allein ihre Probleme nicht lösen könne.

 

Sicherlich erfüllte das NEP einige Forderungen der Kronstädter und der streikenden Arbeiter Petersburgs insofern, als es die Zwangsrequisitionen durch Naturalsteuern ersetzte und den Binnenhandel wieder eröffnete. Soweit das NEP die Lebensmittelrationierung und die willkürlichen Konfiskationen aufhob, ermöglichte es den Kleinproduzenten wieder, ihre Waren auf die neuerdings offenen Märkte zu bringen, womit die Hungersnot beseitigt war. Damit erschien das NEP vor allem als Rettungsmaßnahme.

 

Gleichzeitig entfesselte das NEP aber die kapitalistischen Kräfte auf dem Land, während die Diktatur der Einheitspartei dem Stadt- und Landproletariat keine Handhabe gegen diese kapitalistischen Elemente gab. „Die herrschende Klasse der Arbeiter besitzt in Wirklichkeit nicht einmal die elementarsten politischen Rechte“, schrieb 1922 das Organ einer oppositionellen kommunistischen Gruppe, während ein anderer Artikel die Situation so charakterisiert: „Das Proletariat besitzt absolut keine Rechte, während die Gewerkschaften ein gefügiges Instrument in den Händen der Funktionäre sind.“

 

Solche Entwicklungen hatten sich die Kronstädter allerdings nicht gewünscht; vielmehr sannen sie auf Mittel, der Arbeiterklasse und der werktätigen Landbevölkerung den ihr zukommenden Platz im Regime zu sichern. Aus diesem Programmkatalog haben die Bolschewisten nur die unwichtigen Forderungen erfüllt, die in der Resolution auf dem 11. Platz rangierten – die Forderung nach der Arbeiterdemokratie jedoch haben sie ignoriert.

 

Aber diese Forderung in der Resolution der Petropawlowsk war weder fantastisch noch gefährlich, wie es etwa V. Serge in „Proletarische Revolution“ vom 10. September 1937 behauptet: „ … später, als sie (die Matrosen) sich in einen Kampf auf Leben und Tod verwickelt sahen, stellten sie eine damals äußerst gefährliche Forderung auf, die allerdings aufrichtig revolutionär und ohne Eigennutz war: die Forderung nach freier Wahl der Sowjets. … Indem sie einen reinigenden Sturm entfesseln wollten, hätten sie tatsächlich nur der Konterrevolution des Landes Tür und Tor geöffnet, an der die weißen ausländischen Intervenisten prompt teilgenommen hätten. Das aufständische Kronstadt war nicht konterrevolutionär; sein Sieg hätte jedoch unausweichlich die Konterrevolution nach sich gezogen.“

 

Entgegen dieser Auffassung glauben wir, dass die Forderungen der Matrosen von großer politischer Weisheit zeugen, die nicht aus abstrakten Theorien, sondern aus einem profunden Verständnis für das russische Leben stammt.

 

 

V.3 – Die Warnung Rosa Luxemburgs

 

Es ist sinnvoll, in diesem Zusammenhang an die in der ganzen Welt als bedeutende Kämpferin für den Sozialismus bekannte Rosa Luxemburg zu erinnern, die bereits 1918 in der Tendenz der russischen Revolution einen Mangel an demokratischem Denken bemerkte:

 

„Hingegen ist es eine offenkundige, unbestreitbare Tatsache, dass ohne freie, ungehemmte Presse, ohne ungehindertes Vereins- und Versammlungsleben gerade die Herrschaft breiter Volksmassen undenkbar ist.

 

Gerade die riesigen Aufgaben, an die die Bolschewiki mit Mut und Entschlossenheit herantraten, erforderten die intensivste politische Schulung der Massen und Sammlung der Erfahrung. Freiheit nur für die Anhänger der Regierung, nur für Mitglieder einer Partei – mögen sie noch so zahlreich sein – ist keine Freiheit. Freiheit ist immer nur Freiheit des Andersdenkenden. Nicht wegen des Fanatismus der ‚Gerechtigkeit‘, sondern weil all das Belehrende, Heilsame und Reinigende der politischen Freiheit an diesem Wesen hängt und seine Wirkung versagt, wenn die ‚Freiheit‘ zum Privilegium wird.“

 

Weiter schreibt sie: „Wir sind nie Götzendiener der formalen Demokratie gewesen, das heißt nur: Wir unterscheiden stets den sozialen Kern von der politischen Form der bürgerlichen Demokratie …“

 

Und sie fährt fort: „Es ist die historische Aufgabe des Proletariats, wenn es zur Macht gelangt, an Stelle der bürgerlichen Demokratie eine sozialistische Demokratie zu schaffen, nicht jegliche Demokratie abzuschaffen. …

 

… diese Diktatur (des Proletariats) besteht in der Art der Verwendung der Demokratie, nicht in ihrer Abschaffung. … Aber diese Diktatur muss das Werk der Klasse und nicht einer kleinen, führenden Minderheit im Namen der Klasse sein. … Mit dem Erdrücken des politischen Lebens im ganzen Lande muss auch das Leben in den Sowjets immer mehr erlahmen. Ohne allgemeine Wahlen, ungehemmte Presse- und Versammlungsfreiheit, freien Meinungskampf erstirbt das Leben in jeder öffentlichen Institution, wird zum Scheinleben, in der die Bürokratie allein das tätige Element bleibt.“

 

(nach: Die Russische Revolution, hier zitiert nach R:L: Schriften zur Theorie der Spontaneität, Hamburg 1970, S 186 ff)

 

Wir haben diesen Exkurs über Rosa Luxemburg gebracht, um zu zeigen, dass sie mit ihrem Nachweis der Notwendigkeit demokratischer Formen sehr viel weiter als die Kronstädter ging, die ihre demokratischen Forderungen nur auf das Proletariat und die werktätige Landbevölkerung beschränkten.

 

Rosa Luxemburg schrieb ihre Kritik der Revolution 1918, mitten im Bürgerkrieg, während die Resolution der Petropawlowsk zu einem Zeitpunkt verabschiedet wurde, als der bewaffnete Kampf eigentlich beendet war. Nun würde aber niemand wagen, Rosa Luxemburg wegen ihrer Kritik einer Verbindung zur Weltbourgeoisie zu bezichtigen. Warum werden dann die Forderungen der Matrosen als gefährlich, als unfehlbar zur Konterrevolution führend, verketzert? Hat die geschichtliche Entwicklung nicht schließlich den Kronstädtern und Rosa Luxemburg Recht gegeben? Hatte Rosa Luxemburg nicht Recht mit der Feststellung, das Proletariat müsse die „Diktatur der Klasse“ verwirklichen und „nicht einer Partei oder einer Clique, Diktatur der Klasse, d.h. in breitester Öffentlichkeit, unter tätigster ungehemmter Teilnahme der Volksmassen, in unbeschränkter Demokratie“.

 

 

V.4 – Eine dritte sowjetische Revolution

 

Als die Aufständischen ihre Forderungen aufstellten, kannten sie die Schriften Rosa Luxemburgs wahrscheinlich nicht. Aber sie kannten die Erste Verfassung der Sowjetrepublik, wie sie am 10. Juli 1918 vom V. Allrussischen Sowjetkongress beschlossen worden war. Sie garantierte in den Artikeln 13 bis 16 den Arbeitern die demokratischen Freiheiten (Meinungsfreiheit, Versammlungsfreiheit, Koalitionsfreiheit, Pressefreiheit) und verbot in den Artikeln 22 und 23 jedes Privileg einer Gruppe oder Partei. Gemäß dieser Verfassung konnte keinem Arbeiter das aktive und passive Wahlrecht streitig gemacht werden, wenn er den Anforderungen der Artikel 64 und 65 genügte, d.h., wenn er nicht von der Ausbeutung Abhängiger oder von Einkünften lebte, die ihm aus anderen Quellen als seiner eigenen Arbeit zuflossen.

 

 

Die Parole des Kronstädter Aufstandes:

 

„Alle Macht den Räten, nicht der Partei“

 

stammte eigentlich aus einem Verfassungsartikel, nach dem die Ausübung der zentralen und lokalen Macht bei den Sowjets liegen sollte.

 

Die bolschewistische Diktatur verletzte diese Verfassung von Anfang an bzw. brachte sie niemals zur Anwendung. Erinnern wir uns, dass die Kritik Rosa Luxemburgs nur wenige Monate nach der Verabschiedung dieser Verfassung geschrieben wurde. Als die Matrosen später die Verwirklichung dieser 1918 erworbenen Rechte forderten, wurden sie als konterrevolutionär und als Agenten der Weltbourgeoisie diskriminiert. Sechzehn Jahre später meint Serge, diese Forderungen hätten unweigerlich die Konterrevolution zur Folge gehabt. Das zeigt, wie weit die Bolschewisten von ihrer ursprünglich zurückhaltenden Beurteilung der demokratischen „Gefahren“ abgewichen waren.

 

Die Grundgesetze der Sowjetrepublik, seinerzeit das juristische Resümee der Oktoberrevolution, waren am Ende des Bürgerkrieges derart in Vergessenheit geraten, dass es einer dritten sowjetischen Revolution bedurft hätte, sie in Kraft zu setzen. In diesem Sinne sprechen die Kronstädter von einer dritten Revolution: „In Kronstadt wird der Grundstein zu einer dritten Revolution gelegt, die die letzten Ketten der Arbeiterklasse sprengen und einen neuen Weg zum Sozialismus bahnen wird“, schreiben die Aufständischen in der Iswestija vom 8. März.

 

Wir wissen nicht, ob die Errungenschaften der Oktoberrevolution auf einem demokratischen Weg hätten bewahrt werden können und ob die wirtschaftliche Situation, zumal auf dem Lande, für das Experiment einer ersten Anwendung des Sozialismus reif war. Diese Frage müsste ausführlich diskutiert werden und ist zu komplex, als dass man sie bei dem gegenwärtigen Stand der Sozialwissenschaften im Rückblick beantworten könnte. Aber wer die Wahrheit sucht, muss sie ungeschminkt darstellen. Es reicht nicht aus, sich selbstzufrieden ein wissenschaftliches Mäntelchen umzuhängen und derart die historischen Phänomene erklären zu wollen.

 

Wo Trotzki das Entstehen der Bürokratie, die das ganze Leben in den Institutionen des Sowjetstaates paralysierte, zu erklären versucht, scheint ihm das ganz mühelos zu gelingen. In seinem Buch „Die verratene Revolution“ führt er alles darauf zurück, dass die entlassenen Offiziere der Roten Armee die leitenden Positionen in den örtlichen Sowjets okkupierten und dort mit militärischer Strenge vorgingen, während das Proletariat nach der revolutionären Anstrengung erschöpft war. Und so entstand, nach Trotzki, die Bürokratie. Bleibt zu erwähnen, dass Trotzki selbst militärische Strenge in den Gewerkschaften einzuführen versuchte. Wohl um dem Proletariat seine Müdigkeit auszutreiben? Wenn das Proletariat doch so erschöpft war, wie konnte es dann noch in den wichtigsten Industriestädten die Anspannung eines Streiks ertragen, der fast ein Generalstreik war? Und wenn die KP Träger der Sozialrevolution war: Warum hat sie dann nicht das Proletariat in seinem Kampf gegen die noch junge, aber schon erstarkte Bürokratie unterstützt; statt es umzubringen, als es nach drei Jahren imperialistischen Krieges und weiteren drei Jahren Bürgerkrieg erschöpft war? Warum hat sich diese KP mit dem diktatorischen Staat verbunden?

 

Dazu ist zu sagen: Die Partei war damals ebensowenig mehr proletarisch wie revolutionär – und genau das warfen ihr die Kronstädter vor. Deren Verdienst ist es, das 1921 offen ausgesprochen zu haben, als man die Situation noch hätte ändern können und nicht fünfzehn Jahre später, als die Niederlage endgültig war.

 

Tatsächlich ist die Bürokratie so etwas wie eine russische Erbkrankheit, vielleicht so alt wie der russische Staat. Als die Bolschewisten an die Macht kamen, erbten sie nicht nur die zaristische Bürokratie, sondern auch deren Geist und Atmosphäre. Sie hätten wissen müssen, dass der Staat jetzt, da er seine Funktion auch auf den Sektor der Wirtschaft ausdehnte und zum Eigentümer der Bodenschätze und der Industrie wurde, nur noch anfälliger für die bürokratische Gefahr geworden war.

 

In der Therapie eines erblich vorbelasteten Kranken ist diesen Erbschäden Rechnung zu tragen. Aber inwiefern trugen die Bolschewisten der bürokratischen Erbkrankheit Rechnung? Hätte es ein anderes Mittel gegeben, als die Atmosphäre durch konsequent demokratische Maßnahmen zu reinigen und einem Rückfall durch rigorose und effektive öffentliche Kontrolle vorzubeugen?

 

Man hatte zwar daran gedacht, aber das zuständige Kommissariat der Arbeiter- und Bauerninspektion vertraute seine Kontrollfunktion ausgerechnet den zu kontrollierenden Bürokraten an.

 

Die Gründe des Bürokratismus liegen auf der Hand:

 

Der Fehler wurzelte in der bolschewistischen Vorstellung von einem absolutistischen Staat, der selbst wieder von einer absolutistisch und bürokratisch organisierten Partei kommandiert und kontrolliert wird, deren schädliche Neigungen dann noch durch die bürokratische Tradition Russlands verstärkt wurden. Falsch wäre es, die Landbevölkerung für das Fehlschlagen der Revolution und die Rückentwicklung in ein bürokratisches System verantwortlich zu machen. Es ist nämlich nur zu einfach, alle Schwierigkeiten in Russland aus seiner landwirtschaftlichen Struktur erklären zu wollen. Man sagt einerseits, dass die Kronstädter Revolte gegen die Bürokratie vom Lande inspiriert war und andererseits, dass die Bürokratie aus der agrarischen Vergangenheit zu erklären ist. Dann bleibt nur zu fragen, warum die Bolschewisten in einem agrarisch strukturierten Land die Idee der sozialen Revolution zu propagieren und durchzusetzen wagten.

 

Zweifellos glaubten sie, sich ein solches Verhalten in der Hoffnung auf die Weltrevolution leisten zu können, für deren Avantgarde sie sich gleichzeitig hielten.

 

Aber wäre nicht auch die Revolution in jedem anderen Land von den zufälligen Charakteristika der russischen Revolution beeinflusst worden? Wenn man die moralische Autorität Russlands in der Welt berücksichtigt, muss man sich fragen, ob nicht seine Abweichungen zwangsläufig zu ähnlichen Fehlentwicklungen in anderen Ländern geführt hätten. Viele historische Fakten sprechen dafür. Auch wenn man anerkennt, dass die wahre sozialistische Revolution nur als Weltrevolution denkbar ist, bleibt es doch zweifelhaft, ob die bürokratische Pest des Bolschewismus durch heilsame Luft aus irgendeinem anderen revolutionären Land beseitigt werden könnte.

 

Die Erfahrung mit dem Faschismus in Ländern wie Deutschland zeigt, dass eine fortgeschrittene kapitalistische Entwicklung ebensowenig wie demokratische Traditionen (Italien) eine hinreichende Garantie gegen das Aufkommen autokratisch-absolutistischer Formen bieten. Ohne damit die Phänomene erklären zu wollen, muss man doch einen bedeutenden autoritaristischen Einfluss aus den hochentwickelten kapitalistischen Ländern konstatieren, der unsere alten Ideen und Traditionen zu verschlingen droht. Gleichzeitig ist zu sagen, dass der Bolschewismus dieser absolutistischen Haltung innerlich affin ist; er hat ihr gewissermaßen den gefährlichen Präzedenzfall geschaffen. Niemand kann behaupten, dass in einem anderen Land, das Russland in der revolutionären Entwicklung folgt, der Bolschewismus nicht ebenfalls im absolutistischen Gewand aufgetreten wäre, statt sich zu demokratisieren.

 

Aber: Stellt der demokratische Weg nicht doch eine Gefahr dar?

 

Wäre nicht der reformistische Einfluss in den Sowjets in einem freien demokratischen Kräftespiel erstarkt? Wir meinen wohl, dass diese Gefahr tatsächlich existiert, aber sie war nicht schwerwiegender als die notwendige Konsequenz der unkontrollierten Diktatur einer Einheitspartei, die bereits einen Stalin zum Generalsekretär hat.

 

Man sagt uns, das Land sei erschöpft gewesen und habe seine Widerstandskraft eingebüßt gehabt. Allerdings war das Land kriegsmüde – aber es steckte voll konstruktiver Kräfte und besaß den starken Willen zu lernen und sich zu entwickeln.

 

Kaum war der Bürgerkrieg beendet, gab es schon einen wahren Ansturm der Arbeiter und Bauern auf die Schulen, Universitäten und Polytechniken. War dieser Wunsch nicht das beste Indiz für die Lebendigkeit und die Widerstandskraft der werktätigen Klasse? In einem Land, wo Analphabetismus herrschte, hätte ein solcher Unterricht stark dazu beigetragen, die arbeitende Masse zur wirklichen Ausübung ihrer Macht zu befähigen.

 

Aber es gehört zum Wesen einer jeden Diktatur, dass sie die kreativen Kräfte des Volkes zerstört.

 

Trotz der unbestreitbaren Anstrengungen der Zentralregierung, die Schulbildung unter den Arbeitern zu verbreiten, wurde Bildung bald zu einem Privileg der Parteimitglieder, die der herrschenden Fraktion loyal gegenüberstanden. 1921 begannen die „Säuberungen“ in den Arbeiterfakultäten und Höheren Schulen. Diese Säuberungswelle wuchs mit dem Entstehen oppositioneller Tendenzen im Herzen der Partei. Die Absicht, das Volk zu bilden, wurde immer hinfälliger. Lenins Wunsch, dass eine jede Köchin die Chance zur politischen Karriere erhalten sollte, wurde unrealistisch.

 

Die revolutionären Errungenschaften konnten sich nur durch die wirkliche Teilnahme der breiten Masse entwickeln. Jeder Versuch, an ihre Stelle eine „Elite“ zu setzen, war zutiefst konterrevolutionär.

 

 

- . -

 

 

1921 stand die Revolution am Kreuzweg: Die Alternative hieß Demokratie oder Diktatur.

 

Indem die Bolschewisten den bürgerlichen Parlamentarismus mit der Arbeiterdemokratie in einen Topf warfen, verwarfen sie beide. Sie wollten den Sozialismus von oben einführen, durch Generalstabsmanöver. Sie warteten auf die Weltrevolution, die nicht kam und errichteten derweil einen Staatskapitalismus, der der Arbeiterklasse das Recht zur Mitbestimmung raubte. Lenin sah nicht allein, dass Kronstadt diesen diktatorischen Plan zu vereiteln drohte. Zusammen mit anderen Bolschewisten sah er sein Parteimonopol in Frage gestellt. Deshalb versuchte er, auf wenig feine, aber sichere Art, Kronstadt mit dem Vorwand mundtot zu machen, es sei dem Lager der Bourgeoisie und der Gegenrevolution verbunden.

 

Kusmin hatte als einziger die Wahrheit gesprochen, als er am 2. März 1921 in Kronstadt drohte, die Kommunisten würden ihre Macht nicht kampflos aufgeben. Lenin musste diesen Kommissar tadeln: er kenne nicht die bolschewistische Moral und Taktik. Das war von seinem Standpunkt aus berechtigt: Man musste den Feind moralisch und politisch zum Schweigen bringen, offen mit ihm diskutieren konnte man nicht. Genau so verfuhr die bolschewistische Regierung.

 

Die Aufständischen waren eine graue Masse, waren aber zugleich Menschen, die manchmal ein ans Wunderbare grenzendes politisches Gespür hatten. Hätte sich unter ihnen eine Anzahl überlegener Geister befunden, wäre es wahrscheinlich niemals zum Aufstand gekommen. Denn für jeden weitsichtigen Menschen war es klar, dass die Forderungen der Aufständischen in krassem Widerspruch zur Politik des Kremls standen und dass die Regierung damals hinreichend organisiert war, um mitleidlos jeden Störenfried zu vernichten, der sich ihren Ansichten und Plänen ernstlich zu widersetzen wagte.

 

Aber die Kronstädter waren aufrichtig und kämpferisch. Sie glaubten an ihre gerechte Sache und rechneten nicht mit der Taktik des Gegners. Sie hofften auf die Hilfe des ganzen Landes, dessen Nöte sie zum Ausdruck brachten. Sie sahen nicht, dass dieses Land im Würgegriff einer Diktatur war, die dem Volk weder die Äußerung seiner Wünsche noch die freie Wahl seiner Regierung gestattete.

 

 

Die große und erbitterte ideologisch-politische Diskussion zwischen den „Realisten“ und den „Träumern“, zwischen den „wissenschaftlichen Sozialisten“ und der revolutionären „Volnitza“ endete 1921 in der politischen und militärischen Niederlage der Letztgenannten. Aber diese Niederlage war, wie Stalin beweisen sollte, die Niederlage des Sozialismus auf einem Sechstel des Erdballs.

 

Paris , 1938

 

 

 

Literatur

 

 

Voronitzyn: Les ténèbres des bagnes.

 

Poukhow: La rébellion de Cronstadt en 1921; éd. d'Etat Jeune Garde 1931, Serie: stade de la guerre civile.

 

M. Kubanin: Die Machnobewegung, Verlag Priboji, Leningrad.

 

B. Suwarin: Staline, aperçu historique du bolchevisme; éd. Librairie Plon

 

Berkman: L'Insurrection de Cronstadt (hier zitiert nach: A. Berkman, Der Kronstädter Aufstand, Berlin 1922).

 

F. Dan: Deux années en errant (1919-1921).

 

Yartschuk: La révolte de Cronstadt.

 

Rosa Luxemburg: Die russische Revolution (hier zitiert nach: Schriften zur Theorie der Spontaneität, Hamburg 1970).

 

Trotzki: La révolution russe; éd. Rieder.

 

Trotzki: La révolution trahie; éd. Grasset

 

Trotzki: Stalin; Verlag Grasset

 

Lenin: Brochure sur l'impôt en nature (hier zitiert nach: Ausgewählte Werke II, 854 ff, Berlin 1953, Dietz-Verlag).

 

Vollständige Sammlung der Kronstädter Tageszeitung Iswestija.

 

 

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