[Rojava]: Tötet die Projektionsflächen in eurem Kopf! - Oder: Eine solidarische Kritik am Mythos Rojava in der deutschen radikalen Linken

 

Um Rojava und die kurdische Bewegung ranken sich in der deutschen Linken einige Mythen. Mal wird der bewaffnete Kampf romantisiert, mal die Selbstverwaltung unter Ausklammerung anderer wichtiger Aspekte der Bewegung verklärt. Redakteur Geronimo Marulanda vom re:volt magazine versucht sich an einer solidarischen Kritik des Mythos Rojava und warnt vor der Wiederholung der Fehler eines vergangenen Internationalismus.

 

 

Internationalismus ist wieder en vogue. Seit die kurdische, im Norden Syriens gelegene Stadt Kobanê 2014 von den Djihadisten des sogenannten Islamischen Staats (IS) bedroht wurde, ist auch in Deutschland wieder spektrenübergreifend von Internationalismus die Rede. Das ist bemerkenswert. Denn bis vor wenigen Jahren suchte man vergebenseine weiterführende Beschäftigung mit internationalen Themen, insbesondere mit der jetzt so abgehypten kurdischen Bewegung. Im Gegenteil: WortführerInnen eines überwiegenden Teils der radikalen Linken galt die kurdische Bewegung als suspekt: nationalistisch, gar völkisch und reaktionär soll die PKK noch Mitte der 00er Jahre gewesen sein. [1] Eine Zeit, in der Öcalan und die PKK bereits ihren Paradigmenwechsel vollzogen hatten.

Ich persönlich begann im Jahr 2011 Interesse an der kurdischen Bewegung und ihrem neuen Paradigma des „Demokratischen Konföderalismus“ zu gewinnen. Ich sprach vermehrt mit kurdischen GenossInnen zum Thema und schloss mich schließlich einer YXK-Delegation in die Südost-Türkei, also Nordkurdistan an. Die konkreten Erfahrungen, die ich dort machte, wie zum Beispiel der Besuch selbstverwalteter Frauenhäuser, war so beeindruckend, dass ich dem Hype um den Prozess, der in Rojava stattfand, wohlwollend gegenüber stand. Allerdings hatte dieser Hype für mich von Anfang an einen bitteren Beigeschmack. Sauer stieß mir unter anderem auf, was mir hierzulande mit dem Elan des frisch entbrannten Internationalismus über die kurdische Bewegung dargelegt wurde: Ökologisch, frauenbefreit, rätedemokratisch solle es dort in Kurdistan zugehen – manche redeten von Sozialismus. Antinational gar sollte das Projekt laut anderer sein. Doch nicht nur solche Äußerungen wollten so gar nicht zu meiner Erfahrung vor Ort passen. So fragte ich mich darüber hinaus, warum ausgerechnet eine radikale Linke, die knapp 20 Jahre nichts anderes getan hatte, als ihre Wurzeln im Internationalismus der 68er Bewegung und seiner Fortführung in dem der K-Gruppen der 70er und den Antiimps der 80er Jahre zu kappen, nun auf die Idee kommt, eine nationale Befreiungsbewegung zu unterstützen.

Ja ihr habt richtig gelesen: Nationale Befreiungsbewegung. Denn es ist eben mitnichten so, dass das Konzept von Nation in Rojava und erst Recht nicht in der kurdischen Exillinken dekonstruiert wird. Es wird im Gegenteil ganz real kultiviert und das hat auch eine nachvollziehbare Ursache: die jahrhundertelange Unterdrückung der kurdischen Kultur, Sprache und Identität. „Aber, aber“, sagen jetzt diejenigen von euch, die Öcalans Jenseits von Staat, Macht und Gewalt gelesen haben. Es gehe doch beim Demokratischen Konföderalismus um eine anti-nationalstaatliche Bewegung. Wo wir bei einer begrifflichen Unschärfe der sogenannten „Antinationalen“ angelangt wären: Denn Nationalstaat ist eben nicht gleich Staat, ist eben nicht gleich Nation. Nation bezeichnet eine Gemeinschaft, die sich über gemeinsame Prägung in einem kulturellen Raum, Sprache, Territorium, geschichtliches Narrativ und ökonomischem Verkehr, der erstere Facetten grundsätzlich bedingt, definiert. Historisch ist Konzept wie Realität der Nation parallel zu bürgerlicher Staatlichkeit entstanden und löste Religion als dominante Herrschaftsideologie und -praxis ab. Staaten gab es auch schon vor der amerikanischen und französischen Revolution, deshalb ist das, was wir heute im Durchschnitt haben, eben auch Nationalstaat, das heißt ein bürgerlicher Staat, der sich durch die Ideologie seiner herrschenden Klasse auszeichnet – eben die der Nation und ihrem Verwandten, die des Nationalismus.

Also was jetzt: Alles Scheiße oder wie in Rojava? Nein sicher nicht, nur komplizierter als es ideologisch bei Öcalan geschrieben steht und tausendfach über kurdische Propagandakanäle gejagt wird. Denn ganz so einfach ist das eben nicht mit dem „antinational“ in der Praxis. Während Nation insbesondere in unseren Ländern kein fortschrittliches Konzept mehr ist, weil es sich hier in einer aggressiven imperialistischen Machtpolitik und aggressiven Nationalismen äußert, ist es für Völker, die schon immer kolonial beherrscht wurden oder sogar von Vernichtungspolitik betroffen waren, überhaupt erst eine Möglichkeit, sichtbar zu werden und eine Stimme zu bekommen. Bestes Beispiel: Die Aborigines in Australien. Anderes Beispiel: Die Sahauris in der West-Sahara. Noch eines: Die Indigenen in Mexiko. Oder exemplarisch zuletzt: Eben die Kurden, oder die Yeziden, oder die Aleviten in der Türkei. Auf letztere beiden, die eigentlich so etwas wie eine Mischung aus Religionsgemeinschaft und kultureller Gemeinschaft sind, wendet die kurdische Bewegung eben auch das Nationskonzept an. Es wird nicht umsonst von ,,Völkern“ im Plural gesprochen.

Und auch der Begriff ,,Volk“ wird von der kurdischen Bewegung ganz liberal gebraucht: nicht marxistisch-leninistisch als Chifre für „unterdrückte Klassen“, auch nicht völkisch im Sinne von einer Erbgemeinschaft, aber ganz sicher im bürgerlichen Sinne als Bevölkerung. Die kurdische Bewegung ist so, nicht nur in ihrer Praxis, sondern auch in ihrer sozialen Zusammensetzung eine primär nationale Befreiungsbewegung: eben eine Mischung aus bürgerlichen, links-bürgerlichen und revolutionären Elementen und klassenübergreifend statt genuin klassenkämpferisch. Da ändert auch der Demokratische Konföderalismus als neue Leitlinie nichts daran, der das Narrativ lediglich von nationalistisch (das heißt pro-nationalstaatlich) auf multi-national (theoretisch anti-nationalstaatlich föderal) verschoben hat. Man könnte es herunterbrechen auf: Nicht das, was jemand sagt, ist das, was zählt, sondern das, was jemand tut. Und man müsste ergänzen: das, was jemand im Kern ist.

Und was die kurdische Bewegung im Kern sicher nicht ist, ist zum Beispiel genuin antiimperialistisch zu sein, denn Imperialismus ist ein ökonomisches Konzept der international organisierten Klassenunterdrückung und Antiimperialismus hat dementsprechend eine Analyse durch den internationalen Klassenkampf zum Ausgangspunkt. [2] Auch wenn die Ideologie des Demokratischen Konföderalismus ein solches Potenzial in sich besitzt, da zum Beispiel die Idee der Selbstverwaltung der Völker im Nahen Osten dem Greater Middle East Project der US-Außenpolitik ebenso wie dem russisch gestützten Assad-Regime diametral gegenübersteht, zeigt die Praxis der kurdischen Führung in Syrien doch ganz klar, dass die Bekämpfung des westlichen und/oder russischen Imperialismus nicht unbedingt ganz oben auf der Agenda der kurdischen Befreiungsbewegung steht, sondern diese vielmehr versucht, mit den verschiedenen Playern zu spielen. Dieses Spiel, das die kurdische Bewegung spielt, ist aber eben keine antiimperialistische Politik, sondern bürgerliche Machtpolitik, die verständlich ist, da es eben ums Überleben geht, aber nicht allein als „Widersprüche gegeneinander ausspielen“ verklärt werden darf. Es bleibt abzuwarten, ob im Falle des Sieges der YPG/J eine Emanzipation von russischer und/oder amerikanischer Politik stattfinden wird, oder ob USA und Russland über ihre militärische Präsenz in Rojava den Daumen draufhalten werden. Eine Politik, der es darum ginge mehr zu befreien als die kurdischen Gebiete, das heißt. eine wirkliche klassenkämpferische, internationalistische und damit antiimperialistische Politik, sollte darüber hinaus zum Beispiel auch Europa nicht nur als ruhiges Hinterland betrachten, sondern auch dort die demokratische Autonomie aufbauen und eine dortige antiimperialistische Linke stärken. Wie wir wissen, ist das mitnichten der Fall.

Was die kurdische Bewegung sicher auch nicht ist, ist rein basisdemokratisch oder rätedemokratisch organisiert zu sein. Sicherlich ist es so, dass es diese Elemente gibt und auch, dass sie im Alltag der Menschen eine Rolle spielen. So sicher ist aber auch, dass die gut organisierten Kader der PKK ihre Rolle spielen, die eben nie aufgehört hat, nach den Prinzipien einer Kaderpartei zu arbeiten. Genauer gesagt vereint die kurdische Bewegung gleich mehrere Organisationsmodelle: Die Guerilla als kollektivistische militärische Einheit mit Kommandostruktur, die Räte, die Basiseinheiten, die Kaderpartei und die Vorfeld-Massenorganisationen, zu denen sicherlich auch partiell die HDP gezählt werden kann. Das Interessante an der kurdischen Bewegung ist ja gerade nicht, dass sie eine reine Graswurzelbewegung wäre, sondern dass sie verschiedene Organisationsmodelle in Scharnieren miteinander verbindet und es damit schafft, im Alltag der Menschen auf unterschiedlichste Weise präsent zu sein.Wenn man das, was da in Rojava passiert, schon mit einem Modell vergleichen will, dann vielleicht mit der frühen Sowjetunion, in der es eine Doppelmacht von Kaderpartei und Räten gegeben hat – bevor letztere entmachtet wurden.

Dazu kommt: Ein Modell wie der Demokratische Konföderalismus ist ein Modell, das für eine Gesellschaft entwickelt wurde, die zu einem großen Teil aus BäuerInnen und Kleinhandeltreibenden besteht, also weder über eine organisierte Staatsmacht verfügt, die wesentliche Teile des Alltags der Menschen reguliert, noch über eine starke Konzentration der Bevölkerung in Städten und/oder Betrieben. Die Selbstorganisation der Menschen in der Kommune ist hier bereits Alltag, weil sie überlebensnotwendig ist – eben weil der Staat keine Sozialprogramme organisiert. Im Gegenzug dazu leben wir in einer hochgradig zentralisierten Gesellschaft, in der sich der Nationalstaat in jedem Winkel unseres Lebens vollends durchgesetzt hat. Selbstorganisation muss hier erst wieder gelernt werden. Offensichtlich wird das Modell Übertragungsschwierigkeiten aufweisen. Die Kämpfe sind in ihrer Form, wie sie geführt werden, nicht vergleichbar und können auch nicht zu ähnlichen Resultaten führen. Die Frage, was wir von der kurdischen Bewegung lernen können, ist so gesehen schon falsch gestellt, wenn sie außer Acht lässt, dass zum Lernen eben zwei Instanzen mit sehr unterschiedlichen Hintergründen gehören. Dann geht es nämlich nicht mehr ums Kopieren und Übertragen von Konzepten, sondern um das gegenseitige Stärken durch Austausch von Erfahrungen.

Also ist es alles nichts mit der Idee des Demokratischen Konföderalismus? Entsolidarisierung mit den Kurden? Sicher nicht! Entsprechende Beiträge, die unter anderem in antiimperialistischen Strömungen populär sind [3], haben eine mechanische oder puristische Weltsicht, in der es keine Widersprüche und Prozesse gibt und deshalb nur die Kiste revisionistisch oder revolutionär, schwarz oder weiß, Verräter oder Verbündeter übrig bleibt. So wollen wir gar nicht erst anfangen: Die kurdische Bewegung ist fraglos die wichtigste demokratische und soziale Kraft im Nahen und Mittleren Osten. Sie hat das Potenzial, eine ganze Generation junger Menschen, die historisch in vielen Ländern bislang nur vor die Wahl säkulare Diktatur oder islamistischer Widerstand gestellt wurden, in demokratischen, massenhaften Prozessen zu sozialisieren. Und: In dieser Bewegung kämpfen verschiedenste radikale Linke, die dem Prozess und den beteiligten Menschen ihren Stempel aufdrücken. Vielleicht unterstützen wir gerade ein Projekt, das am Ende einen liberalen kurdischen Nationalstaat hervorbringen wird. Wir sollten aber nicht unterschätzen, dass die Generation, die diesen erkämpft hat, bleibt, genau so wie die Ideen, die den Kampf angetrieben haben, womit auch die Voraussetzungen für weitere progressive Bewegungen in der Region gelegt sind.

Warum eigentlich dann dieser Text? Warum nicht weiter so in der Solidarität mit der kurdischen Bewegung? Weil ich der Meinung bin, dass ein Internationalismus, der sich in falschen romantisierenden Vorstellungen von der Sache ergeht und die Widersprüche in der Bewegung nicht sieht, am Ende enttäuscht werden muss. Weil ein Internationalismus, der ständig woanders hin schaut, weil es da angeblich toller, actionreicher, revolutionärer und so weiter ist, eine Einbahnstraße ist, die der revolutionären Bewegung hierzulande nichts bringt. Weil ein deutscher Internationalismus, der in Projektionen anderswo Lösungen für Probleme hier finden will, besser beraten wäre, sich endlich solidarisch mit seiner eigenen Geschichte zu befassen und sie nicht komplett zu negieren oder für gescheitert zu erklären. Und nicht zuletzt: Weil genau diese Aspekte die Fehler des Internationalismus der 1970er Jahre waren, dessen ProtagonistInnen dann – aus Enttäuschung und Flucht vor der kritischen Auseinandersetzung mit ihren romantizistischen Vorstellungen über die nationalen Befreiungsbewegungen des Trikonts – am Ende ganz woanders landeten: nämlich in den Chefetagen der imperialistischen Länder oder doch zumindest bei ihren liberalen Ideologien. Töten wir endlich die Projektionsflächen in unserem Kopf - Lasst uns nicht unsere Fehler wiederholen, sondern selbstkritisch fragend voran schreiten!

 

Anmerkungen:

[1] Diese Position vor allem der antinationalen und antideutschen Linken basierte vor allem auf: Gruppe Demontage: Postfordistische Guerilla - Vom Mythos nationaler Befreiung, Münster, 1998.„Der emanzipative Gehalt völkischer Ansätze tendiert gegen Null ... Als Beispiel für ein tendenziell völkisches Modell bietet sich die PKK an.“

[2] Dazu Lenin: „Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus“ (1916/17).

[3] Beispielhaft anhand zweier Strömungen: Einmal die stalinistische Position von Hans-Christoph Stoodt und zum anderen die maoistische Position des Onlineportals Dem Volke Dienen.

 

 

 

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