100 Jahre Russische Revolution – Erinnerung an den Kronstädter Aufstand

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Vor 100 Jahren, Anfang März 1921, richtete sich das revolutionäre Kronstadt gegen den Kurs der Kommunistischen Partei Russlands KPR(B). Unter der Losung „alle Macht den Räten (Sowjets) – keine Macht der Partei“ wollten die Matros*innen, Soldat*innen und Zivilist*innen erneut in den Verlauf der Russischen Revolution eingreifen.

Kronstadt hatte seine Kraft, seine militärischen und sozialen Ressourcen, seinen aufständischen Geist schon oft für die Revolution eingesetzt. Es spielte seit den Anfängen der Russischen Revolution eine herausragende Rolle. Hier verbreiteten sich revolutionäre Ideen unterschiedlicher sozialistischer Strömungen, hier bildete sich ein umtriebiger, tragfähiger, radikal demokratischer Sowjet (Rat), hier erhoben sich Matros*innen, Soldat*innen und Arbeiter*innen immer wieder gegen die herrschenden und unterdrückerischen Gesellschaftsordnungen: Gegen den Zarismus mit all seinem Elend (die Aufstände der Revolution von 1905 und 1906, die Februarrevolution von 1917), gegen die provisorische Regierung mit ihren kapitalistischen und bürgerlichen Tendenzen (zwischen Februar und Oktober 1917) und zuletzt im März 1921 gegen die zunehmende Parteidiktatur der Kommunistischen Partei Russlands KPR(B).

Die Geschehnisse um Kronstadt 1921 gingen als „Kronstädter Aufstand“ in die Geschichte ein. Während der Ereignisse sprachen die Rebell*innen von der „Dritten Revolution“¹ und wollten das „Joch der bolschewistischen Diktatur abschütteln“. Sie hofften auf die Ausbreitung ihrer Forderungen auf dem Festland. Doch der Versuch der Kronstädter*innen wurde auf Geheiß der Sowjetregierung blutig niedergeschlagen. Die offene Auseinandersetzung zwischen dem aufständischen Kronstadt und der Roten Armee dauerte etwas über 2 Wochen. Nach der militärischen Niederlage Kronstadts folgte die Bestrafung der Überlebenden.

Eine Zusammenfassung der Ereignisse
Was als Solidaritätsbekundung von Kronstädter Matros*innen mit streikenden Arbeiter*innen aus Petrograd (heute St. Petersburg) Ende Februar 1921 begann, entwickelte sich schnell zu einer umfassenderen Kritik gegenüber der Politik der Bolschewiki. Die Kronstädter*innen verfassten eine Resolution mit 15 Forderungen und forderten Neuwahlen für ihren Sowjet. Bis dahin ernannten sie ein provisorisches Revolutionskomitee (Revkom), das die weiteren Vorgänge leiten sollte. Die wichtigsten Forderungen der Rebell*innen umfassten freie und geheime Wahlen für die Sowjets; Rede- und Pressefreiheit für Arbeiter*innen, Bäuer*innen, Anarchist*innen und links stehende sozialistische Parteien; Versammlungsfreiheit und Freiheit für Gewerkschaften und Bauernvereinigungen, Befreiung aller politischer (linker/sozialistischer) Gefangenen; Aktionsfreiheit für Bäuer*innen über ihr Land und Vieh, sofern sie sie durch die eigene Mitarbeit bewältigen (…). Die Resolution, die diese Forderungen enthielt, wurde am 1. März von über 16.000 Kronstädter*innen bei einer Versammlung auf dem Ankerplatz angenommen.
Von da an überschlugen sich die Ereignisse. Die Regierung drohte mit militärischer Gewalt, bereitete sich auf einen Angriff vor und verbreitete die Lüge eines konterrevolutionären Aufstands der Weißen² in Kronstadt. Und die Rebell*innen?
Der sogenannte Aufstand und der weitere Verlauf der Auseinandersetzung war nicht geplant. Im Gegenteil, Kronstadt setzte und hoffte auf Verhandlungen. Der Bruch mit den Bolschewiki, bis hin zur Bereitschaft der militärischen Verteidigung der Insel, erfolgte erst im Laufe der weiteren Ereignisse. Kronstadt hatte weder ausreichend Lebensmittel noch genügend Verteidiger*innen und Waffen für eine lang anhaltende Auseinandersetzung. Außerdem war das Eis um die Insel noch nicht geschmolzen, was die Kriegsschiffe in Kronstadt manövrierunfähig machte und gleichzeitig einen Angriff der Roten Armee über das Eis erlaubte. Selbst nachdem die KPR(B) die Lüge eines konterrevolutionären Aufstands in Kronstadt verbreitete, hielten die Rebell*innen noch immer an ihrer Verhandlungsbereitschaft fest und ersuchten nach unabhängigen Vermittler*innen, um die Bevölkerung über das Anliegen Kronstadts aufzuklären. Auch nach dem ersten gescheiterten Angriff der Roten Armee am 7. März auf Kronstadt und dem darauf folgenden täglichen Bomben- und Artilleriebeschuss der Stadt, wäre ein anderer Ausgang des Konflikts noch möglich gewesen, hätte es andere Signale von Seiten der Regierung gegeben.
Die Kommune von Kronstadt bestand über zwei Wochen. Kronstadt reorganisierte sich. Betriebliche, zivile und militärische Einheiten wählten Vertreter*innen in revolutionäre Dreierausschüsse, Delegierte wählten die Verantwortlichkeiten für bestimmte Zuständigkeitsbereiche. Auch die Mitglieder des provisorisch eingesetzten Revkom erfüllten Mandate für einzelne Bereiche wie Aufrechterhaltung der Infrastruktur und des Verkehrs, Lebensmittelverteilung, Leitung der Ermittlungsabteilung, Agitation, Verteidigung und militärische Fragen, medizinische Versorgung,… Entfiel eine verantwortliche Person, rückte die nächste entlang der gewählten Strukturen nach. Außer den zusätzlichen Lebensmitteln für Kinder und Kranke wurden Privilegien in der Ausgabe lebensnotwendiger Ressourcen abgeschafft. In den ersten beiden Märzwochen bis zum letzten Angriff der Roten Armee in der Nacht vom 16. auf den 17. März ging das gesellschaftliche Leben in Kronstadt weiter. Das Revkom und verantwortliche Personen regelten Abläufe, die Verteidigung und den Alltag, die Arbeit wurde weitergeführt, die Straßen waren belebt, die Tageszeitung Izvestija des provisorischen Revkom erschien täglich. Rebell*innen berichteten teilweise von einer euphorischen Stimmung und einem Zusammenrücken der Gemeinschaft in diesen Tagen.
Und der Umgang mit parteitreuen Gegner*innen? Das Revkom ließ etwa 400 Kommunist*innen gefangen nehmen, die sich aktiv gegen die Rebellion richteten. Das geschah nicht willkürlich, Selbstjustiz oder Plünderungen wurden unterbunden. Gleichzeitig traten hunderte Parteimitglieder aus Protest über die Reaktion der Regierung aus der KPR(B) aus. Viele veröffentlichten ihre Gründe in der Tageszeitung. Die Kronstädter*innen exekutierten keine*n ihrer Gefangenen. Die Inhaftierten bekamen dieselben (lausigen) Essensrationen wie alle, ihre Familienangehörige blieben unversehrt. Allerdings mussten sie ihre Stiefel und warmen Jacken an die Verteidiger*innen auf dem Eis abtreten. Das Vorgehen der Bolschewiki mit den Aufständischen sah anders aus.
Die KPR(B) ließ Kronstadt und das, wofür es stand, militärisch niederschlagen. Das gelang der Roten Armee mit über 50.000 Soldat*innen im Verlauf des 17. März und in der darauf folgenden Nacht. Nach dem Sieg folgte die Bestrafung der Überlebenden. Über 2.000 Gefangene wurden hingerichtet und über 6.000 zur Haft in Zwangslager verurteilt. Neben den Massenerschießungen und Deportationen zerstörten Umsiedlungen und die Umlegung unzuverlässiger Elemente in Flotte und Militär nachhaltig den „Geist Kronstadts“. Ungefähr 7000 der aufständischen Kronstädter*innen gelang in der Nacht auf den 18. März die Flucht über das Eis nach Finnland. Viele der Geflüchteten kehrten im Laufe der folgenden Monate wieder nach Russland zurück, angelockt durch ein Amnestie Versprechen der Sowjetregierung. Dass dieses Versprechen nur für Personen galt, die keine Verantwortlichkeiten (z.B. als mandatierte Personen) während des Aufstands übernommen hatten, erfuhren sie bald nach ihrer Rückkehr, wenn sie zur Haft in Zwangslagern verurteilt wurden.
In diesen Tagen erinnern wir uns an die Ereignisse um Kronstadt im März 1921. Die Ereignisse, die Repressionen, die Konsequenzen, die weiteren Entscheidungen der KPR(B) umfassen im Kontext mit der blutigen Unterdrückung des Kronstädter Aufstands ein Symbol des Niedergangs der Russischen Revolution zu einem Punkt ohne Wiederkehr, an dem sich bereits die Weichen für den stalinistischen Terror stellten.

Die Hüter*innen der Revolution?
Kronstadt war nicht konterrevolutionär geprägt, wie es die Bolschewiki behaupteten, um ihr Vorgehen gegen die Rebell*innen zu legitimieren. Kronstadt war so erschütternd für die Herrschaft der Partei, weil die Konfrontation von innen kam und Forderungen der Oktoberrevolution – nach freien Sowjets – wiederholte. Es war ein Aufbegehren von links, von der revolutionären Basis, umgesetzt durch einen Teil der einst aktivsten Unterstützer*innen der Bolschewiki. Diese aktiven Rebell*innen waren Vertreter*innen unterschiedlicher revolutionärer Strömungen: Ehemalige Bolschewiki, linke und rechte Sozialrevolutionär*innen, Anarchist*innen, Menschewiki, parteilose. Dabei wurde der Kronstädter Aufstand von keiner Partei geleitet. Es war eher so, dass das Wegfallen von Kontrollorganen der Regierung alle diese (bereits zu diesem Zeitpunkt unterdrückten) Strömungen wieder auftauchen ließ.
In den Kontext der ehemaligen Unterstützer*innen der Bolschewiki stellt sich allerdings auch die Tatsache, dass die Kronstädter Matros*innen in ihrem Aufbegehren 1921 neben der Solidarität in der Bevölkerung auch deren Ablehnung vorfanden. Die Matros*innen waren bisher als Verfechter*innen, als Ruhm und Stolz der Revolution, auch für die Durchsetzung repressiver Maßnahmen bekannt und gefürchtet. Wie weit die Mittel zum Schutz der Revolution gehen dürfen ist immer eine zentrale Frage ihrer Akteur*innen. Vielleicht nahm sie auch bei den Matros*innen eine zunehmend unbefriedigende Rolle ein und wurde zum Hindernis. Bis hier hin und nicht weiter?
Dass sich die Kronstädter*innen im Verlauf der Russischen Revolution gegen ihren bisherigen Kurs wandten, hatte vielerlei Gründe.
Im Allgemeinen waren die Menschen der jungen Sowjetrepublik durch jahrelangen Bürgerkrieg gezeichnet. Die Industrie lag am Boden, das Land war ausgelaugt. Anfängliche Hoffnung und Begeisterung schwand unter Kriegsmüdigkeit und Zermürbung dahin. Als ein Hauptgrund für den Unmut in der baltischen Flotte, zählt die Politik der Bolschewiki gegenüber den Bäuer*innen. Viele Matros*innen hatten Angehörige auf dem Land. Als die Matrosen und Soldaten nach langer Zeit am Ende des Bürgerkriegs zum ersten Mal wieder ihre Familien besuchten, waren sie mit den Auswirkungen des Kriegskommunismus auf die ländliche Bevölkerung konfrontiert. Die Familien erzählten über Zwangsrequisitionen von Lebensmitteln und Vieh, die so umfassend waren, dass sie die persönliche Existenz der Bäuer*innen bis zum äußersten bedrohten. Geringster Widerstand wurde durch kommunistische Einsatztruppen gewaltsam gebrochen. Auch die Zerschlagung der revolutionären, anarchistisch geprägten Bauernarmee „Machnowtschina“ in der Ukraine durch die Rote Armee, desillusionierte viele Revolutionär*innen. Unter den Matros*innen gab es einige, die aus diesen Gebieten stammten.
In der täglich erschienenen „Izvestija“, der Tageszeitung des provisorischen Revolutionskomitees von Kronstadt, betonten die Autor*innen vor allem ihren Kampf gegen die zunehmende Parteidiktatur.
Für Unbehagen sorgten allerdings auch weniger edelmütige Gründe: Nach Ende des Bürgerkriegs zeichnete sich die geplante Abrüstung der ehemals wichtigen und schlagkräftigen baltischen Flotte ab. Das betraf auch die Festung Kronstadt und bedeutete einen Verlust von Macht, Stärke und Privilegien.

Der Kampf zwischen Revolutionär*innen
Die Ereignisse um den Kronstädter Aufstand spalteten die revolutionäre Bewegung weltweit nachhaltig. Dominierte zu Beginn der Russischen Revolution noch Solidarität zwischen den unterschiedlichen revolutionären Strömungen, änderte sich die Stimmung spätestens nach dem März 1921 auch außerhalb der Sowjetrepublik drastisch. Erhebliche Differenzen hinsichtlich der Zielsetzungen, der Strategien zur Umsetzung der Revolution und der angewandten Mittel wurden offensichtlich. Kämpfe um Vorherrschaft traten an die Stelle einstiger gemeinsamer Kämpfe. Die Politik der Bolschewiki wurde zur tödlichen Gefahr für einstige Verbündete. Gleichzeitig verliefen die Risse nicht ausschließlich entlang der politischen Strömungen, ihrer unterschiedlichen Ideologien oder entlang der angewandten Mittel. Es gab auch Anarchist*innen, die im Namen der Revolution für die Tscheka³ arbeiteten, brutale Repressionen durchsetzten und den Kurs der KPR(B) befürworteten und es gab Bolschewiki, die sich ihren Parteigenoss*innen entgegenstellten und dafür mit ihrem Leben bezahlten.
Spätestens Kronstadt legte offen, wie es um den Verlauf der Russischen Revolution stand und mit welchen Mitteln die herrschende Kommunistische Partei ihre Dominanz festigte. Um die Kontrolle über den Verlauf der Revolution und die anhaltend zermürbende Situation in Russland zu erhalten, setzte die KPR(B) auf Zentralisierung, Militarisierung, Bürokratisierung und die vollständige Kontrolle über wirtschaftliche Produktionsprozesse. Andere revolutionäre Strömungen und Parteien wurden politisch verfolgt, ihre Strukturen befanden sich 1921 bereits in der Auflösung. Die demokratischen Selbstverwaltungs- und Organisationsstrukturen wie Arbeiter- und Soldatenräte, Gewerkschaften und Bauernversammlungen – die einstigen Errungenschaften der Revolution – wurden zu Kontrollorganen der Partei umgewandelt oder abgeschafft.
Die Forderung der Kronstädter*innen nach freien Sowjets ohne die Partei verweist auf eine zentrale Differenz zwischen den beteiligten revolutionären Strömungen: Wie die Revolution umsetzen und verteidigen? Durch freie Räte (Sowjets) und Arbeiter*innendemokratie, oder durch eine (Übergangsphase der) Parteidiktatur? Nach Kronstadt entschied sich die KPR(B) für grundlegende wirtschaftliche Änderungen. Der Beschluss der Neuen Ökonomischen Politik beinhaltete dabei einen viel schärferen Richtungswechsel als ihn die Kronstädter*innen mit einem gewissen Raum für Freihandel für die Bauernschaft gefordert hatten. Die Rätedemokratie – die einstige Losung der Oktoberrevolution – wurde allerdings endgültig mitsamt den Hingerichteten begraben. Realsozialismus, Staatskapitalismus und Stalinismus folgten.
In dem Konflikt um Kronstadt kämpften nicht Konterrevolutionär*innen gegen Revolutionär*innen. Das Tragische dieser Ereignisse ist, dass die Niederschlagung der Aufständischen einen Höhepunkt des tödlichen Konflikts zwischen Revolutionär*innen darstellt, die sich entlang der Punkte Zentralisierung oder Dezentralisierung, Gleichschaltung oder Vielfalt, Parteidiktatur oder radikale demokratische Rätemacht, Zielfixierung oder Prozessorientierung und vertretbare Ziel-Mittel Relation, Kontrolle oder Selbstverwaltung auseinander bewegten. Ein Konflikt, der trotz all der anfänglichen Gemeinsamkeiten zu Beginn der Russischen Revolution, nicht anders als mit militärischer Gewalt und der Niederwerfung und nachhaltigen Zerstörung der Gegner*innen bewältigt wurde: Durch die Schließung der Reihen der Sieger*innen und die Auslöschung abweichender Revolutionär*innen. Gleichschaltung durch Tod und Verfolgung, Parteidiktatur und Militarisierung anstelle der Emanzipation der Massen und die Zerschlagung jeglicher Gegenmacht zeugen vom Absterben einer Revolution, die sich einst eine befreite Gesellschaft mit solidarischen Gemeinschaften zum Ziel gesetzt hatte.

Eine Schlussfolgerung
Als Anarchist*innen lehnen wir Herrschaft ab. Eine Gesellschaft, in der alle ihre Mitglieder denselben Raum an Freiheit, Möglichkeiten zur Selbstentfaltung und Mitbestimmung genießen, deren Reichtum allen Mitgliedern zugängig gemacht wird, deren Grundkonsens auf Solidarität aufbaut, braucht Zeit um zu wachsen. Sie braucht Raum für Kreativität, für Aushandlungsprozesse, damit neue Beziehungen zwischen uns und in allen unseren Lebensbereichen entstehen können.
Gemeinschaften und ebenso Revolutionen speisen sich aus vielfältigen Interessen und Gesinnungslagen. Der Erfolg der Revolution wird dabei nicht durch Gleichschaltung erzwungen werden. Das ging schon damals schief und endete in zertrümmerten Träumen anstelle in einer gelebten, befreiten, gesellschaftlichen Alternative. Für die Gegenwart und die Zukunft eines möglichen Gelingens einer Transformation oder Revolution, müssen wir unsere persönlichen, privaten, politischen, gesellschaftlichen, kollektiven Beziehungen zueinander, in allen Lebensbereichen ebenso einer radikalen Umwälzung unterziehen, wie die Verteilung von gesellschaftlichen Ressourcen.
Wir müssen das Grundverständnis für unser Zusammenleben verändern, weg von Dominanz- und Ressourcenanhäufung hin zu Begegnungen auf Augenhöhe und solidarischen Perspektiven. Sicher, die Revolution und Transformation unserer Gesellschaft muss wehrhaft sein um Errungenschaften zu verteidigen, denn Herrschaft wird niemals freiwillig abgetreten. Der Aufbau von Gegenmacht ist daher nicht mit Machtübernahme oder Herrschaft gleichzusetzen. Die Strukturen der Gegenmacht dienen im Gegenteil einer Einebnung ungleicher Machtverhältnisse und der Selbstermächtigung aller. Zumindest sollten sie das, wenn wir emanzipatorische und solidarische Ziele verfolgen.
Die Glorifizierung von Gewalt und die Militarisierung einer Gesellschaft sind allerdings das Gegenteil unserer Vorstellung von Kommunismus und einer befreiten Gesellschaft. Das heisst, als Kämpfer*in für Emanzipation und Gerechtigkeit ist die Soziale Revolution, ebenso wie ihre Akteur*innen, an die Wahl ihrer Mittel gebunden. Diese Notwendigkeit beginnt im Hier und Jetzt. Denn die Revolution lässt sich nicht auf den kurzen Moment des Umbruchs reduzieren, in denen alte Gesellschaftsmuster endgültig (und ja, auch oft gewaltvoll) über den Haufen geworfen werden. Sie beginnt ab dem Moment, wo wir uns für sie entscheiden. Sie beginnt ab dem Moment, wenn wir uns Missstände vergegenwärtigen und uns auflehnen. Sie beginnt in unseren alltäglichen Handlungen, in unserem Verhalten, in dem Aufbau unserer Organisationen, in kollektiven Kämpfen, in der Form unseres Miteinanders, auf die Art und Weise wie wir uns gemeinsam auf den Weg machen. Und sie geht weiter nach dem Umsturz des Alten, wenn wir uns weiter dafür entscheiden, wie wir unsere neue Gesellschaft errichten. Unsere Ziele spiegeln sich in unserem Handeln in der Gegenwart wieder. Ob wir wollen, oder nicht.

Der Anarchist Gustav Landauer sagte einmal:
„Einen Tisch kann man umwerfen und eine Fensterscheibe zertrümmern; aber die sind eitle Wortemacher und gläubige Wortanbeter, die den Staat für so ein Ding oder einen Fetisch halten, den man zertrümmern kann, um ihn zu zerstören. Staat ist ein Verhältnis, ist eine Beziehung zwischen den Menschen, ist eine Art, wie die Menschen sich zueinander verhalten; und man zerstört ihn, indem man andere Beziehungen eingeht, indem man sich anders zueinander verhält.“
Das schließt den Umgang mit Andersdenkenden Revolutionär*innen ebenso mit ein, wie die Lösung von Konfliktsituationen. Vor allem diejenigen, die behaupten, „für eine bessere Gesellschaft zu kämpfen“, sollten sich das Verinnerlichen. Denn nur so werden unsere Träume einmal unsere Wirklichkeit werden.

Text von Louise Berkman

(1) Die erste Revolution war 1905, die zweite war die Februarrevolution 1917, der Sturz der Konstituierenden Versammlung im Oktober 1917, heute bekannt unter dem Namen Oktoberrevolution, wurde unter den Matros*innen bis dahin eher als Putsch bezeichnet.
(2) Die Weißen: Die konterrevolutionäre Bewegung umfasste unterschiedliche monarchistische, nationalistische, separatistisch ukrainische bis republikanisch, rechts-sozialistische (sozialdemokratische) Kräfte und Gruppierungen und kämpfte im Bürgerkrieg zwischen 1917–1922 gegen die Umsetzung der Russischen Revolution.
(3) Tscheka: WeTscheKa ist die Abkürzung für die Außerordentliche Allrussische Kommission zur Bekämpfung von Konterrevolution, Spekulation und Sabotage, die nach der Oktoberrevolution gegründete Staatssicherheit Sowjetrusslands

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