Ein Brief an die „Guten der Republik“

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(Veröffentlicht am 18. März, nach dem Acte XVIII der Bewegung der gelben Westen)

Es ist vollbracht: Der 16. März wird unter den wichtigen Daten der sozialen Bewegung der gelben Westen in Erinnerung bleiben.

Angesichts der Gewalt von politischer, medialer und wirtschaftlicher Reaktion ist es notwendig, die Dinge klar und ohne Scheinheiligkeit zu benennen.

Beginnen wir mit der Tatsache: Es ist wahr, dass viele GJ [Gilets Jaunes] für diesen Acte 18 nach Paris kamen, um dieses System zu überwinden und dazu die Kontrolle der "öffentlichen Ordnung" zu untergraben. Sie waren vielleicht nicht in der Mehrheit, aber sie waren ziemlich zahlreich und entschlossen, Erfolge zu erringen. Diese Tausenden von GJs praktizierten nicht alle eine Black Block Taktik. Es gab viele GJs der ersten Stunde, die nur ihre Westen, Masken und Schutzbrille trugen. Es gab auch einige Demonstranten im (black) Block, die sowohl mit einer schwarzen K-way Jacke als auch mit einer gelben Weste gekleidet waren.

 Vor allem aber waren alle Demonstranten voll in die Aktionen des Tages involviert. Es gab noch nie eine Trennung zwischen Gruppen von "nice GJ" und "bad rioters [casseurs]". Die überwiegende Mehrheit der anwesenden Demonstranten unterstützte oder akzeptierte zumindest die offensiven Aktionen, ohne unbedingt dasselbe tun zu wollen.

Mehrere Videos zeigen, dass am Vormittag auf dem Place de l'Etoile die Ankunft eines Blocks von dreißig Demonstranten des „black bloc“von einer Art Spalier und Beifall empfangen wurde.

Also ja, es schockiert Sie und stört Sie vielleicht auch. Aber so sieht die Realität in Frankreich im Jahr 2019 aus: Zehntausende von Menschen befürworten heute, dass der Kampf auf offensive Art und Weise geführt werden soll. Sie können sie diskreditieren, sie Randalierer, Mittäter, ignoranten Müll oder Rassisten nennen. Sie können versuchen, ihnen ihre ganze Menschlichkeit abzusprechen.

Aber die Realität ist ganz anders: Es geschieht nicht aus Vergnügen, dass diese Menschen gewalttätige Handlungen akzeptieren (und /oder ermutigen). Es ist eine Notwendigkeit. Es geht nicht um die Gewalt an sich, sondern um ihre Bedeutung für den sozialen Kampf. Auswirkungen, die unvermeidlich zweifellos ungewiss und manchmal gefährlich sind, aber einen positiveren Ausblick als der aktuelle soziale Status quo bieten.

Aufrichtig, tief in Ihnen, erkennen Sie nicht, dass der Acte 18 wegen dieser Ausschreitungen einen sehr bedeutenden Einfluss auf die Politik und die Medienwelt hatte? Dass die gleiche Anzahl von Demonstranten bei einer offiziell angekündigten Demonstration, bei der "nichts passiert wäre", eine solche Demonstration von denselben Politikern und Medien völlig ignoriert und verachtet worden wäre?

Es sind nicht die GJ, die NUR die Sprache der Gewalt und der Macht verstehen können, es ist das gesamte derzeitige System. Wie könnte man in dieser Gesellschaft, in der man der Grausamste und Mächtigste sein muss, hoffen, die Situation zu ändern, indem man schwach und zahm bleibt?

Die Massenmedien sind nur dann an der Bewegung interessiert, wenn sie ihnen "sensationelle" Bilder für die Einschaltquote liefern. Zwei Tage vor dem Acte 18 fand im Gewerkschaftshaus von Paris ein Treffen zwischen Aktivisten und Intellektuellen statt. Das Gewerkschaftshaus war überfüllt und Hunderte von Leuten blieben draußen. Warum nicht über diese konstruktive und friedliche Initiative berichten? Warum haben sich seit mehreren Wochen Tausende von GJs in den Städten ohne Medieninteresse versammelt, ohne das darüber berichtet wurde? Weil es nichts gab, was man den Zuschauern "verkaufen" kann.

Auf der politischen Ebene war der einzige Zeitraum, in dem die Regierung in 17 Wochen Zugeständnisse zu machen schien, die Zeit der gewalttätigsten Acte von Ende November und Anfang Dezember. Wie zufällig verkürzt Macron nun nach fast zwei Monaten, in denen die Macht die soziale Frage und die gelben Westen völlig verhöhnt hat, seinen Urlaub, um die Dinge selbst in die Hand zu nehmen. Wir wissen, dass er die sozialen Fragen nicht direkt aufgreifen wird und dass er das Problem der GJs ausschließlich durch seine ''Gewaltlupe" aufgreifen wird. Aber zumindest ist die Frage wieder auf dem Tisch.

Um es klarzustellen: Die politische Macht respektiert die tiefen Gründe für die Wut ihres Volkes nicht. Was sie interessiert, ist, diesen Zorn zu beruhigen, für ihre eigene Ruhe und die aller Mächtigen.

Macron sagt, dass die Anwesenden gestern auf der Champs Élysée die Republik "zerstören" wollen. Weil der Republik Fouquet gehört? Cartier? Die Banken?

Diese Regierung, wie die vorangegangenen, hat Millionen von Menschen „herabgestoßen“, so dass sie in eine immer unerträglicher werdende Prekarität geraten, während die Milliardäre immer reicher und reicher werden. Wie viele Menschen wurden in den vier Monaten, in denen die gelben Westen gekämpft haben, von ihrem Unternehmen in die Arbeitslosigkeit entlassen, um mehr Gewinne zu erzielen? Wie viele Rentner sind weiter in die Schieflage geraten? Wie viele Patienten konnten aus Mangel an finanziellen Mitteln nicht die notwendige Versorgung in Anspruch nehmen?

Wie viele Todesopfer hat diese neoliberale Politik in vier Monaten des Kampfes gefordert? Die genaue Zahl ist nicht zu ermitteln, aber es ist offensichtlich, dass sie unglaublich hoch ausfällt.

 Der Neoliberalismus tötet, verletzt, zerstört Leben und Familien. Es geht nicht um "große Parolen", um einen Griff in die Trickkiste. Es ist alles absolut real. Und viele gelbe Westen auf dem Land oder in den Vororten kennen diese Realität sehr gut, da sie sie tagtäglich vorfinden.

Wenn Sie also denken, dass Menschen, die eine Bank zerstören oder eine Barrikade bauen, Feinde der Republik sind, aber diejenigen, die das Elend dieser Menschen abtun und sich bereichern, die Freunde der Republik sind, ja sogar ihre Beschützer, dann haben wir eine völlig andere Vorstellung davon, was die Republik sein sollte.

Wenn Sie die Gewalt eines verwüsteten Luxusgeschäftes viel mehr stört als Menschen, die sterben oder ins Elend fallen, dann sprechen wir nicht die gleiche Sprache.

Ihre engstirnige Moral ist nicht diejenige, die in uns lebt. Selektiv moralisch zu sein bedeutet, unmoralisch zu sein. Sie sind unmoralisch. Und während Sie die GJ als Feinde der Republik behandeln, werden diese viel moralischer und näher an den Werten der Republik sein als Sie.

Hören Sie auf, sich über die Gewalt einer sozialen Bewegung zu beschweren, wenn Sie sie verleugnen und völlig ignorieren, außer sie wendet Gewalt an.

Nur dann können wir über Moral diskutieren.

Collectif Cerveaux Non Disponibles 

Im Original: https://paris-luttes.info/lettre-aux-gentils-de-la-11822?lang=fr, engl. Version: http://autonomies.org/2019/03/the-gilets-jaunes-the-people-are-constrain...

 

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Ergänzungen

PLI unterstützt BDS (https://paris-luttes.info/spip.php?page=recherche&recherche=BDS&lang=fr) sowie die ganze antisemitische pro-Pal-Bewegung in Paris (https://paris-luttes.info/spip.php?page=recherche&recherche=Palestine&la... ; https://paris-luttes.info/spip.php?page=recherche&recherche=Isra%C3%ABl&...). 

Diese Links-Rechts (antisemitische) Allianz erfährt eine Wende mit der Gelbwesten-Bewegung, wo Antisemitismus nicht nur die Basis einer Links-Rechts-Allianz darstellt, sondern (rechts)Populismus.