Der 1. Mai in Paris – Nachbetrachtungen aus einer deutschen Perspektive

 

 

 

Mit Erstaunen verfolge ich seit 2016 das Geschehen in Frankreich. Ziemlich unerwartet entlud sich mehrere Monate lang eine Wut und Kreativität auf die geplante Verschärfung bestehender Arbeitsgesetze, aber natürlich nicht ausschließlich. Die Proteste wurden wesentlich von Schüler*innen und Student*innen getragen, also eben jene Milieus ohne unmittelbare Lohnabhängigkeit. Die Hintergründe mag jede*r Einzelne für sich beantworten. Medial wurden die nächtlichen Versammlungen des sog. Nuit Debout mit Anerkennung wahrgenommen. Schließlich wurde vordergründig geplaudert, Organisationen durften für sich werben und es blieb häufig bei den staatlichen Spielregeln. Die wilden Demos (Manif sauvage) wurden hingegen von der Presse verachtet, obwohl doch gerade diese eine Faszination der unkontrollierten Bewegung mit sich brachten und vermutlich eine der Hauptgründe für die Zunahme an den Protesten waren. Bei den angemeldeten Demos wuchs der Black Block an der Spitze (Cortège de Tête) immer weiter an und versammelte verschiedene Milieus in ihrer Gegnerschaft gegen die Hüter*innen der bestehenden Ordnung und der Symbolik des kapitalistischen Normalzustands. Die Bewegung erreichte im Juni ihren Höhepunkt in Paris, verschwand kurzzeitig in der Sommerpause und entzündete sich mit einem letzten Knall im September 2016. Was blieb, waren Erfahrungen der Gegenmacht und ein öffentlicher Diskurs ohne die Themensetzung rechter Ideologie.

 

Zwei Jahre später tobt der Kampf um die ZAD (Zone À Défendre) in Notre-Dame-des-Landes. Das Gebiet ist vermutlich die derzeitig größte autonome Zone in Europa und ein Experiment des solidarischen Alltagslebens ohne staatliche Instanzen. Einst zur Verhinderung eines geplanten Flughafens besetzt, dient es auch nach der offiziellen Absage an diesem Vorhaben (Januar 2018) als hoffnungsvolles Projekt gelebter Utopie. Anfang April startete der französische Staat einen Räumungsversuch mit 2500 Bullen und den üblichen Gadgets. Mehrere Häuser wurden zerstört, doch der Widerstand war beachtlich groß und entschlossen genug um eine vollständige Räumung zu verhindern. Nach einer Woche wurde die Bullenaktion für abgeschlossen erklärt (was sich als Trugschluss herausstellte) und unzählige Leute halfen sogleich beim Wiederaufbau der Infrastruktur. Die Situation konnte gegenwärtig nicht befriedet werden und es droht weiterhin ein Vorgehen des Staates. Die ersten Versuche sind jedoch gescheitert und es bleibt zu hoffen, dass es dabei bleibt. Zeitlich ähnlich gelagert sind landesweite Unibesetzungen gegen geplante Hochschulgesetze und ein Streik im Fernverkehr. Zweimal die Woche wird die Arbeit niedergelegt und die zeitlich gewünschten Prüfungen an den Universitäten werden zunehmend unrealistischer. Vor diesen Hintergründen wurde international zur Teilnahme an der diesjährigen 1. Mai Demo eingeladen und ganz nebenbei 50 Jahre wilder Generalstreik gefeiert – allerdings ohne nostalgisches Plaudern von Zeitzeug*innen, sondern als praktischen Versuch den Staat herauszufordern.

 

Die zentrale Demo sollte um 14:30 Uhr am Place de la Bastille starten. Vorab gab es einige kleinere Demos mit dem gemeinsamen Ziel des Platzes. So startete u.a. eine von der CNT organisierte Demo um 12 Uhr am Place des Fêtes und zog mit mehreren hundert Leuten durch die Stadt. Die erste auffallende Unterscheidung zu deutschen Zuständen wurde an der Abwesenheit der Bullen deutlich. Diese zeigten sich nur kurz an einer Nebenstraße nahe dem Endpunkt der Demo. Die bullenfreie Zone wurde von einigen Leuten für Sprühereien parallel zur Demo genutzt. Auf Vermummung wurde dabei nicht immer besonders Wert gelegt, scheinbar rechnet man für solche Lappalien mit keiner Verhaftung. Die Stimmung war fröhlich und gelassen. Kurz vor Ende der Demo zeigte sich eine kleine Gruppe von flics – eine besonders gehasste Einheit der Bullen, vergleichbar mit Zivis und bekannt für ausgeprägte Brutalität. Es blieb bei verbalen Auseinandersetzungen und der Platz wurde erreicht. Allerlei K-Gruppen suhlten sich im Personenkult und Gewerkschaften waren mit den bekannten riesigen Ballons vertreten. Ein erster großer Teil der Route war bereits mit Leuten unterschiedlicher Couleur voll. Den kompletten Boulevard de la Bastille bis zur Brücke Pont d’Austerlitz waren Leute unterwegs. Allmählich bildete sich ein langer Strom von Vermummten und zog unter den Augen amüsierter Gesichter zur Brücke um den Beginn der Demo zu bilden - der Cortège de Tête hatte sich gefunden. Später werden die Bullen von 1200 Wütenden im Black Block sprechen. Die ersten Bengalen und Rauchtöpfe wurden gezündet. Unter antifaschistischen Rufen ging es die Brücke runter. Wummernde Bässe übertönten kurzzeitig das Geschehen und eine Soundbox untermalte das Geschehen mit Fatboy Slims „Right Here, Right Now“. Ein magischer Moment, der bei mir Bilder an die legendären Riots während des Atari Teenage Riot Auftritts beim 1. Mai 1999 in Berlin hervorruft. Als schließlich der Place Valhubert erreicht wird hält abermals die Demo an. Steine werden aus der Straße gehämmert, Straßenschilder kollektiv zur ZAD umbenannt und alltägliche Symbolik des Spektakels zerstört. Untermalt von Alizees „Moi… Lolita“ reicht ein sichtlich vergnügter älterer Herr mit Gewerkschaftsweste die Steine an die hinteren Reihen durch. Überall wird – mal mehr, mal weniger poetisch – gesprüht. Ja, Paris ist zauberhaft. Als auch dieser Moment zu Ende geht soll es nun den Boulevard de l'Hôpital bis zum Place d’Italie runter gehen. Der erste McDonald’s wird komplett entglast und ein Vermummter verteilt Muffins an die Masse. Einige Trottel werfen auch Mollies in den Laden, welche glücklicherweise keinen Brand auslösen und somit die oberen Wohnungen des Hauses nicht gefährden. Auf der gegenüber liegenden Seite wird ein Bagger und ein Stromkasten (vermutlich für die anliegende Bahnstation) in Brand gesteckt. Hier kommt es auch zum ersten Tränengaseinsatz. Doch die Bullen verstecken sich hinter einem Zaun und schießen nur wahllos in die Masse. An einem Renault Geschäft werden Autos heraus gezogen und in Brand gesteckt. Vor einer Zahnarztpraxis kommt es zu verbalen Unstimmigkeiten zwischen einigen Autonomen, ob es der Zerstörung würdig ist oder nicht. Die Route ist noch keine großen Meter vorwärts gekommen, da setzen sich große Einheiten der Bullen mit Wasserwerfern in Bewegung und drängen die Leute langsam zurück. Es wird zusehends ersichtlich, dass die geplante Route nicht ansatzweise gelaufen werden kann. Tränengas liegt nun allgemein in der Luft. Ein an der Brücke anliegender Park bietet kurzzeitig Schutz und die Bullen halten vorerst an. Doch auch der Park wird kurz darauf von den Bullen eingenommen. Erste Leute erleiden Kreislaufzusammenbrüche und müssen medizinisch versorgt werden. Von allen Seiten nun drängen die Bullen die Demo auf die Brücke zurück.Direkter Kontakt kommt fast nie zustande, da aus weiter Entfernung ziellos Tränengas verschossen wird. Auf der Brücke dann ein erstes Mal gefühlte Massenpanik. Auch in die hinteren Reihen wird großspurig Tränengas geschossen und der beengte Raum sorgt für Panik bei einigen Leuten. Am anderen Ende der Brücke warten diesmal mehrere Bulleneinheiten und nehmen die flüchtende Masse unter Beschuss. Die Kämpfe verlagern sich auf den Boulevard de la Bastille. Barrikaden werden errichtet und Verschnaufpausen erkennbar. Doch auch hier intensivieren sich zunehmend die Kämpfe und Bullen rennen knüppelnd in die Leute. Größere Gruppen ziehen nun durch die Nebenstraßen, versetzen schnell den gehassten Objekten ein paar Hammerschläge und rennen immer wieder vor knüppelnden Bullen. Nach einiger Zeit verläuft sich das Geschehen und die ersten Militanten wechseln die äußere Erscheinungsform. Am Abend bereits machen erste Analysen und Grafiken die Runde, woraufhin die Bullen von Anbeginn auf eine Blockade der Demo aus waren. Der kurze Spielraum zu Beginn wurde vermutlich als Kollateralschaden in Kauf genommen um später mit voller Wucht zurück zu schlagen.

 

Für den Abend wird zum allgemeinen Umtrunk ins Quartier Latin eingeladen, jenes Viertel mit der Universität Sorbonne und historische Initialzündung der Proteste im Mai ’68. Doch die Bullen sind vorbereitet und sind mit einigen kleineren Einheiten in den engen Straßen postiert. Einzelne Gruppen werden nicht mehr durchgelassen, aber erreichen häufig über Umwege doch ihr Ziel. Die Stimmung ist ausgelassen. Kleinere Barrikaden werden errichtet und die anwesenden Bullen verhöhnt. Die erste Räumung eines kleinen Platzes wird mit Farbbeuteln beantwortet. Die Situation spitzt sich langsam zu und immer mehr Leute wechseln wieder zum Dresscode Schwarz. Was am Nachmittag eine Soundbox war ist am Abend eine Handtrommel, die den Rhythmus für das Umherschweifen durch das Viertel vorgibt. Ein Verkehrsschild wird zur Zerstörung einer Überwachungskamera unter dem Beifall der Anwesenden zweckentfremdet. Ältere Leute schauen vergnügt aus den Fenstern. Irgendwann wird es den Bullen zu chaotisch und es beginnen Hetzjagden durch die Straßen des Quartiers. Einige Sachen gehen dabei zu Bruch, doch eine vehemente Schlagkraft mag nicht entstehen. Etwas später ist auch hier die ausgelassene Feierlaune vorbei und weitere nennenswerte Aktionen sind mir nicht bekannt.

 

Zurück in Deutschland lese ich von dem lahmsten 1. Mai in Berlin seit Jahren und im Gespräch erfahre ich von viel Frustration bei der Blockade eines Naziaufmarsches in Chemnitz. Natürlich sind es zwei gänzlich unterschiedliche Ereignisse, doch in beiden spiegelt sich ein Ist-Zustand der radikalen Linken in Deutschland wider der neidisch auf Frankreich blicken lässt. Zum revolutionären 1. Mai in Berlin gibt es seit Jahren gute Ideen und an der Masse an Leuten mangelt es nie. Doch leider bleibt es seit Jahren bei Verbalradikalismus und einigen wenigen Entschlossenen. Der Rest hat sich der Rekuperation namens MyFest vollkommen hingegeben und nimmt die gewünschte passive Konsumhaltung genüsslich ein. Der Rausch wird über die individuellen Wege befriedet und ohne reale Kommunikation in sozialen Netzwerken mitgeteilt. Dabei sind alle Gründe für Revolutionen gegeben, aber nicht die Gründe machen ein Revolution, sondern die Körper. Und die Körper sitzen vor den Bildschirmen. Erfahrungen einer kollektiven Aktion verschwinden somit immer mehr im Gedächtnis einiger weniger Subjekte. Der G20 in Hamburg hat leider erwartungsgemäß kein Signal für massenhaftes, milieuübergreifendes Handeln geliefert. Vielmehr gibt man sich mit den zugestandenen Debattier- und Partystuben linksradikaler Projekte zufrieden, frönt einen belanglosen Hedonismus und wirklichkeitsfremden Diskussionen. Jedes Szenario wird detailliert besprochen um letztlich jegliche Aktion aus (mal mehr, mal weniger) begründeten Sicherheitssorgen abzusagen. Klar, die Bullen in Deutschland sind taktisch ihren französischen Schweinen voraus. So konnte ich in Frankreich keinen Heli am Himmel beobachten, das Kesseln von Menschengruppen ist nicht ansatzweise so präsent wie in Deutschland und in ihrer Aktivität sind die flics nicht annähernd so aktiv wie die bundesweiten BFE-Einheiten. Auch muss die ständig hohe Anzahl an Leuten bei den Demos in Frankreich berücksichtigt werden und auch die deutlich kämpferische Haltung der Gewerkschaften. Viele Leute bedeuten viele Möglichkeiten. Die allgemeine Stimmung aus der Bevölkerung ist ebenso entspannter bis sympathisierender mit Militanten als in Deutschland. Doch trotz alledem gibt es immer Interventionsmöglichkeiten – sie müssen nur vorbereitet und massenhaft angenommen werden. Auch für Chemnitz gab es Überlegungen für Sitzblockaden und wurden sogar (darüber lässt sich strategisch streiten) über den Lauti mehr oder weniger mitgeteilt. Passiert ist trotz tausender Leute jedoch nichts. Und ein bloßes Zahlenverhältnis hat Nazis noch nie abgeschreckt bzw. soziale Kämpfe vorangebracht.

 

Geschichte wird gemacht und Geschichte beeinflusst gegenwärtige Zustände. Deutschland kennt hierzu jedoch vorrangig nur ausgeklügelte Theorie und wenig Bewegung auf der Straße. Das kollektive Gedächtnis in Frankreich ist weithin von Erfolgen aufgrund massenhaften Aufbegehrens geprägt, wohingegen hierzulande die staatliche Integration rebellischer Momente als historische Erinnerung verhaftet bleibt. Nebenbei bemerkt: die Übernahme einer bestehenden Ordnung mit mehr Handlungsspielraum als „friedliche Revolution“ zu bezeichnen macht die Ausgangslage für militantes Aufbegehren für ein gutes und freies Leben für alle umso schwieriger. Aber die Voraussetzungen sind da. Die Forderungen der französischen Genoss*innen wirken borniert im Vergleich mit Deutschland. Und trotzdem lehnt sich ein Teil der Bevölkerung auf – mit allen Mitteln, auf allen Ebenen. Sie sind sich dem Widerspruch zwischen dem individuell-privilegierten Herrschaftsanspruch von Eigentum, Verfügungsgewalt und Wissen auf der einen Seite und den Inhalten einer modernen Gesellschaft auf der anderen Seite, die auf Kollektivproduktion gegründet ist und die durch die (potentiellen oder aktuellen) Forderungen unterprivilegierter Mehrheiten in Bewegung gehalten wird bewusst. Es gibt einiges zu lernen von den Kämpfen in Frankreich. Die Bewegung 2016 kam ziemlich unerwartet und in einer Intensität von der kommende Generationen profitieren werden. Hoffen und arbeiten wir daran, dass ähnliche Überraschungen auch in Deutschland passieren.

 

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Ergänzungen

Aktuelles Buch von Sebastian Lotzer zu den Schulstreiks und Anti-Rassismus-Aktionen, zum Kampf gegen Polizeigewalt von 2016 bis jetzt:

Winter is coming

https://black-mosquito.org/sebastian-lotzer-winter-is-coming-soziale-kam...