Entweder sind alle extrem oder niemand

P. Connor / Sciencecrisis 30.08.2011 16:35 Themen: Antirassismus Bildung Blogwire Kultur Medien Repression Soziale Kämpfe
Ein Gespenst geht um – Journalisten und Autoren wie Frank Schirrmacher (1) und Stefan Gärtner (2) beziehen sich plötzlich in der Öffentlichkeit positiv auf linke Kritik und Ideen. Gleichzeitig entstehen Initiativen gegen „Linksextremismus“ und auch in den Nachrichten hört man nichts Gutes von notorischen Weltverbesseren. Die Welt scheint auf den Kopf gestellt oder hat man endlich begriffen, dass man viele Jahre falsch lag? Ein längst überfälliger Beitrag zur Extremismustheorie.
Im Artikel 3 des Grundgesetzes (GG) steht, dass „niemand wegen seiner politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt“ werden darf. Das bayerische Innenministerium hat 2009 die „Informationsstelle gegen Extremismus“ (BIGE) gegründet, welche für eine „streitbare Demokratie“ eintritt, andererseits aber gegen den sogenannten „Linksextremismus“ hetzt, der für diese Chaos, Mangelwirtschaft und Diktatur bedeutet. Was hat das noch mit Demokratie zu tun?

Auf der Webseite www.bayern-gegen-linksextremismus.bayern.de gibt es eine Unterseite auf der die verschiedenen linken Strömungen erklärt werden sollen. Es grenzt fast schon an ein Wunder, dass die Autoren den Stalinismus und Maoismus deutlich von Marxismus, Anarchismus und Trotzkismus abgrenzen und dass letztere überhaupt erwähnt werden.

Der Marxismus ist für die Mitarbeiter des Verfassungsschutzes nichts Objektives, sondern lediglich eine „Annahme“. Dass die politisch-ökonomische Schrift „Das Kapital“ selbst von den bürgerlichsten Ökonomen als Standardwerk zum Verständnis des Kapitalismus – v.a. während Wirtschaftskrisen – dient, interessiert derweil nicht. Wer außerdem behauptet, dass der Kommunismus das Endziel des historischen Prozesses ist, hat marxistische Philosophie nicht verstanden. Aber als würde das nicht reichen, wird die Behauptung aufgestellt, dass im Mittelpunkt des marxistischen Menschenbildes nicht das Individuum und vor allem keine Grundrechte stehen. Sind es nicht die Marxisten, die die Entfremdung der Arbeiter, von den von ihnen selbst hergestellten Produkten kritisieren? Sind es nicht die Marxisten, die die Unmenschlichkeit, Armut, Arbeitslosigkeit, Kriege und Krisen bekämpfen wollen?

Die Forderung der Trotzkisten nach einem demokratischen Rätesystem wird als verwerflich abgetan, weil es in diesem kein Mehrparteiensystem und keine Justiz mehr geben würde. Wenn man aber Räte hat, in denen die jeweiligen Mitglieder jederzeit abwähl- und neuwählbar sind und zudem einem imperativen Mandat ihrer Wähler unterliegen, ist eine Partei da nicht überflüssig? Vor allem, wenn diese dezentral und in Kommunen unterteilt sind? Aber selbst der Anarchismus wird als das Streben nach „Freizeit“ diffamiert.

Die Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschisten (VVN-BdA) wird als am Kommunismus orientiert bezeichnet, in dem ehemalige SEDler aktiv sind und die den Kontakt zu „gewaltbereiten Autonomen“ suchen. Im Allgemeinen hat Anti-Faschismus für „Linksextremisten“ lediglich die Funktion, von „Demokraten“ als Partner akzeptiert zu werden. Dass Nationalisten, Rassisten und Faschisten für linke Kritiker ein Produkt von sozialer Benachteiligung und Ungerechtigkeit sind und ihre Funktion für sie die „Zerschlagung jeder Arbeiterorganisation“ (3) ist, wird nicht erwähnt. Es wird ganz im Gegensatz zur Realität sogar behauptet, dass ein „breiter gesellschaftlicher Konsens gegen den Rechtsextremismus“ existiert. Im nächsten Atemzug wird immer wieder an die Meinungsfreiheit für Intolerante und Gewalttäter appelliert, deren Versammlungen unter allen Umständen von der Polizei geschützt werden müssen – selbst wenn Zehntausende dagegen protestieren und damit ihre Zivilcourage demonstrieren.

Unter der Kategorie „Erste Hilfe“ wird darauf hingewiesen, dass man „klar Position für Demokratie und Toleranz“ beziehen soll, sobald das eigene Kind in die „linksextremistische Szene gerät“. Doch was bringt man für Argumente für Faschismus, das derzeitige Bildungssystem und zuspitzenden Sozialabbau auf? Wie argumentiert man objektiv gegen eine demokratischere, tolerantere und selbstbestimmtere Gesellschaftsordnung als die jetzige? Dem ist wohl nur entgegenzuhalten, was in einem Artikel von ZEIT WISSEN über Links-Rechts-Studien schon zitiert wurde, die u.a. auf den höheren IQ von „Linken“ hinweist: „Veränderungen könnten ja gefährlich sein. Rechte bevorzugen ein einfaches, klares Weltbild.“ (4)

Unter anderem wird linke Musik (sogar Reggae und Ska) als „Hassmusik“ diffamiert. „Linksextremistische Medien wollen nicht möglichst objektiv berichten“, ist der erste Satz eines verlinkten Artikels der Bundeszentrale für politische Bildung (BpB). Hält sich die BpB oder das Innenministerium etwa für unfehlbar und allwissend? Das Links-Rechts-Modell ist völlig veraltet und unpassend für die sozialen Konflikte der heutigen Zeit, insofern Rechte keinen anderen Nutzen haben als der sogenannten „Mitte“ in Krisenzeiten wie 1929 helfen, den Kapitalismus durch Totalitarismus zu schützen. Für die Autoren von BIGE scheinen Armut und Arbeitslosigkeit akzeptabel und zum Leben dazu gehörend, sowie das Kater nach dem Vollrausch zu sein. Dass etliche Sozial- und Politikwissenschaftler gegen die Einteilung Links-Rechts klagen und protestieren, scheint in der deutschen Demokratie unwichtig zu sein.

Die Extremismustheorie hat keine andere Funktion als die bürgerliche Gesellschaft gegen fortschrittliche, emanzipatorische und linke Kräfte abzuwehren und eine solidarische Zukunft unmöglich zu machen. Das Projekt „BIGE“ hat dies einmal mehr bewiesen. Am Ende bleibt einem nur die Empfehlung von dem kritischen Theoretiker Erich Fromm: „Auf leeres Gerede kann man nicht lebendig reagieren und tut besser daran, nicht zuzuhören, sondern sich auf eigene Gedanken zu konzentrieren.“

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Quellen:

(1) „Ich beginne zu glauben, dass die Linke recht hat“ (Frank Schirrmacher, FAZ)  http://www.faz.net/artikel/C30351/buergerliche-werte-ich-beginne-zu-glauben-dass-die-linke-recht-hat-30484461.html

(2) „Links zu sein ist in – die Linkspartei nicht“ (Stefan Gärtner, The European)  http://www.n24.de/news/newsitem_7191826.html

(3) Leo Trotzki, Portrait des Nationalsozialismus

(4) „Links-Rechts-Forschung“  http://www.zeit.de/zeit-wissen/2009/05/Rechts-Links
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Ergänzungen

"Objektive Tatsache"

Dogmenbefreite Linke 30.08.2011 - 17:26
"Der Marxismus ist für die Mitarbeiter des Verfassungsschutzes nichts Objektives, sondern lediglich eine „Annahme“. Dass die politisch-ökonomische Schrift „Das Kapital“ selbst von den bürgerlichsten Ökonomen als Standardwerk zum Verständnis des Kapitalismus – v.a. während Wirtschaftskrisen – dient, interessiert derweil nicht"
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Ich bin nun weit davon entfernt, irgendwelchen Verfassungsschutzbehörden nach dem Wort zu reden. Aber dass die Kritik der politischen Ökonomie auch die bürgerlichen Wirtschaftswissenschaften mitbeeinflusst hat, macht die Schrift doch noch lange nicht zur "objektiven Tatsache". Natürlich ist sie eine widerlegbare/jederzeit falsifizierbare Annahme.
Und gleiches gilt dann auch für den Marxismus: Was ist der denn anderes, als bloß eine Lesart des Kapitals unter vielen?
Die Schriften von Marx (die sich zudem an sehr vielen Stellen selbst widersprechen) wie eine Bibel mit absolutem Wahrheitsanspruch vor sich herzutragen, war schon von Anfang an eine der großen angreifbaren Schwachstellen der Linken.

Viel spannender...

TFK 30.08.2011 - 17:32
...die Seite, wegen der Innenminister Herrmann nur eine so verschwurbelte URL für seine "Die-Welt-ist-ein-Hufeisen"-Website bekommen hat:
 http://www.bayern-gegen-linksextremismus.de

darum

... 31.08.2011 - 16:43
Und nicht vergessen, aus diesem Grund:

TROTZ ALLEDEM: LINKE POLITIK VERTEIDIGEN!
Antirepressions-Block bei der Antifa-Demo am 24. September in Leipzig

Aufruf:
 http://handanlegen.blogsport.de/antirepressions-aufruf/

Fragestellung an den Verfassungsschutz

APPD Franken 09.10.2011 - 19:26
Offene Fragestellung der APPD Franken an die Bayerische Informationsstelle gegen Extremismus vom 05.10.2011

Hallo geehrter Verfassungsschutz,

erst einmal ein großes Lob, dass es Ihnen wieder einmal gelungen ist, dass durch die Gründung des Projektes "Bayern gegen Linksextremisms" über Bayern wieder einmal nicht nur die Sonne lacht.
Zu unser überwältigenden Freude wird die Anarchistische Pogopartei, entgegen der vorherrschenden bürgerlichen Meinung, nicht als linkesextremistisch eingestuft.
Die vergangenen Jahre haben gezeigt, dass Aussteigerprogramme im rechtstextremen Bereich durchaus Wirkung gezeigt haben. Während Franz Josef Strauß in den 80er Jahren seinen CSU Ausstieg noch mit dem Leben bezahlte, konnte Edmund Stoiber sich mit Ihrer Hilfe aus dem Spektrum dieser extremistischen Partei lossagen und seinen Spitzenposten verlassen.
Da wir befürchten, dass einige unserer Parteimitglieder mit der roten Gefahr liebäugeln könnten begrüßen wir eine Umsetzung der bewährten Konzeption bei linksradikalen Vereinigungen und Verbänden, wie z.B. der SPD.

Dennoch werfen sich einige Fragen auf, die durchaus in der Öffentlichkeit diskutiert werden sollten:
1.Ist das Aussteigerprogramm für Linksradikale bereits einsetzbar?
2.Wie können Sie Aussteiger vor Übergriffen und Bedrohungen gewallttätiger SPD-Mitglieder schützen?
3.Verfügen Sie über ausreichend pädagogisch geschultes Personal (Sozialpädagogen, Kinderpfleger, Bierbrauer) um eine sensible Handhabung der mit dem Ausstieg aus der SPD verbundenen Desozialisierung auffangen zu können?
4.Werden die Daten von Kontaktaufnehmenden beim Verfassungsschutz oder einer anderen polizeilichen Ermittlungsbehörde gespeichert?
5.Wenn ja: A) In welchem Umfang?
B) Über welchen Zeitraum?
C) Warum?
6.Sehen Sie Interessenskonflikte zwischen der Ausstiegshilfe durch ein staatliches Repressionsorgan und dem Ermittlungswunsch (sog. Insiderinformationen)?

Bitte beantworten Sie diese wichtigen Fragen damit diese Information von unserer Seite der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden kann.
Eine darüber hinaus gehende Kontaktaufnahme oder Zusammenarbeit ist ausdrücklich nicht erwünscht.

MpaG,
Deine APPD Franken

Beiträge die keine inhaltliche Ergänzung darstellen

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Mehr dazu — sfr

@ Dogmenbefreite Linke — P. Connor / Sciencecrisis

Inhaltliche Ergänzung — Anonymusiana

Offener Brief an Staatsminister Herrmann — (muss ausgefüllt werden)