Spaziergang auf den Spuren der Besetzung der Liebigstraße 34 vor 30 Jahren

 

Das  Wohnprojekt Liebigstraße 34 feierte am letzten Wochenende seinen 30ten Geburtstag mit viel Musik und Kultur auf dem Dorfplatz vor dem Haus. Doch wer was über die wechselvolle Geschichte des Hausprojekts erfahren wollte, musste am dem Spaziergang teilnehmen, der den Weg ging, den Stino vor 30 Jahren unternommen hatte. 

Stino steht für stinknormal, so wurde der Mann, der seinen Passnamen nicht veröffentlichen will, vor 30 Jahren in Besetzer*innenkreisen genannt. Er lebt schon lange nicht mehr in Berlin. Doch die Geschichte der Hausbesetzung war auch die Geschichte seiner Politisierung. Daher hat sie ihn auch später weiter beschäftigt. Im letzten Jahr veröffentlichte er unter dem Titel "Stino - Von West nach Ost durch Berlin 1990" ein Buch über die Geschichte der Ostberliner Besetzer*innenbewegung vor 30 Jahren. Es ist natürlich ein sehr subjektives Buch, weil es eben aus der Perspektive von Stino geschrieben ist. Am letzten Wochenende ist er zum Hausgeburtstag wieder nach Berlin gekommen, um für Interessierte noch einmal den Weg zu gehen, der im Juli 1990 zur Besetzung der Liebig 34 geführt hat.

 

Als sich Wohnungssuchende noch ohne Makler*innen trafen

 

Der Spaziergang begann am vergangenen Sonntag um 14 Uhr in der Nähe des S-Bahnhofs Warschauer Straße, der damals der Startpunkt für Menschen waren, die wie Stino dringend eine Wohnung suchten. Am 5. Juli fanden sich wieder über 50 Interessierte ein, die mehr über die Geschichte der Liebig 34 wissen wollten. „So viel waren wir damals auch“, sagte Stino spontan. Aber ein Unterschied zu damals fiel ihm sofort auf. Zwei Polizeiwannen standen in der Nähe des Kiezspaziergangs. Von der Ostberliner Volkspolizei, die damals noch für Ostberlin zuständig war, hatten wir vor 30 Jahren nichts gesehen“, erklärte Stino. Aber am vergangenen Sonntag hielt sich die Polizei auch zurück und versuchte nicht, wie öfter in Friedrichshain, Organisator*innen von Kiezspaziergängen wegen Nichtanmeldung einer Demonstration und damit Verstoß gegen das Versammlungsgesetz zu kriminalisieren. Vielleicht trug dazu auch ein Gerichtsurteil von vor 2 Wochen bei, dass einen solchen Kriminalisierungsversuch zurückwies und klarstellte, dass ein Kiezspaziergang keine Demonstration ist. Stino erklärte zu Beginn, wie bunt zusammengewürfelt die Menschen waren, die sich vor 30 Jahren zur Wohnungsinspektion  getroffen hatten. Es gab Jüngere und Ältere, viele kamen in kleinen Gruppen, andere waren wie Stino alleine gekommen. Sie alle einte nur, dass sie eben eine Wohnung suchten. Stino berichtet auch, wie die Menschen in die vielen leerstehenden Wohnungen gingen und sie darauf inspizierten, ob sie noch bewohnbar waren, wie die Beschaffenheit der sanitären Anlagen und der Zustand der Öfen aussah. Mit der Zeit sei der Kreis immer kleiner geworden. Einige seien weggegangen, aber die meisten hätten ein Haus gefunden, in das sie eingezogen sind, erinnert sich Stino. Er habe es schon mit der Angst zu tun bekommen, weil er befürchtete, kein Haus zu finden, obwohl er in wenigen Tagen sein Zimmer, dass er temporär gemietet hatte, räumen musste. Etwas mehr Mut bekam er wieder, als ihm eine Frau und ein Mann versicherten, dass sie auch noch am gleichen Tag ein Haus zum Wohnen finden wollten.

 

  • Die Türöffner*innen für die Liebigstraße 34

 

 Die Dreiergruppe wurde dann schließlich die Türöffner*innen für das Hausprojekt Liebigstraße 34. Wenige Tage später wäre eine Besetzung geräumt wurden, weil sich die Behörden in Ost- und Westberlin auf den Stichtag 24. Juli geeinigt hatten. Alle nach diesen Termin besetzten Häuser wurden nun auch in Ostberlin geräumt. Die anderen hatten zumindest potentiell die Möglichkeit zu Verhandlungen. Im Laufe der Route zeigte Stino am Beispiel des Stadtteilladens Zielona Gora eine erfolgreiche Verhandlung über die Legalisierung einer Besetzung. Der Stadtteilladen ist heute auch ein Stadtteiltreffpunkt. Es wurde über den Namen gesprochen, mit dem ein Contrapunkt zum revanchistischen Straßenname Grünberger Straße  gesetzt wurde. Grünberg gehört seit 1945 zu Polen und heißt Zielona Gora. Es wurde aus dem Kiezspaziergang auch angeregt, vielleicht die Initiative zu ergreifen, die Grünberger Straße in Zielona Gora – Straße umzubenennen. Der gleichnamige Stadtteilladen könnte dafür vielleicht ein Treffpunkt sein. 

 

Mainzer Straße – die große Niederlage der Besetzer*innenbewegung

 

 

Mehrere 100 Meter weiter, berichtete Stino über die große Niederlage der Ostberliner Besetzer*innenbewegung vor 30 Jahren. Es ging um die Mainzer Straße und deren Räumung am 12./13. November 1990. Diese Ereignisse hat Stino in seinem Buch ebenfalls verarbeitet. Zudem lieferte ein damaliger Bewohner eines der besetzten Häuser in Mainzer Straße wichtige Details zur Räumung und der Strategie von Politik und Polizei, jegliche Verhandlungen zur Vermeidung einer Räumung ins Leere laufen zu lassen. Es sei darum gegangen, „der Bewegung den Kopf abzuschlagen“, das sei ein Zitat aus einen der Polizeidokumente jener Tage. Rund um den 12./13. November 2020 wird es im Jugendwiderstandsmuseum in der Rigaer Straße eine Ausstellung zur Mainzer Straße geben, die von Historiker*innen erarbeitet wird. Es ist zu hoffen, dass dort die Menschen einbezogen werden, die damals die Häuser besetzten. Menschen wie Stino, die einen wichtigen Beitrag dazu leisten, dass die Geschichte nicht vergessen wird. 

 

Die Kämpfe von einkommensarmen Menschen nicht vergessen

 

Der Sozialaktivist Harald Rein, der zur Erwerbslosenbewegung recherchiert hat, kommt zu dem Fazit, dass die Kämpfe von einkommensarmen Menschen in der Geschichte oft vergessen werden. Sie werden verdrängt von Großgewerkschaften und Parteien. Sie sind auch manchmal bei linken Projekten nicht gerne gesehen, weil sie ja lebendige Zeug*innen und Geschichtsmythen erschweren. Stino  hat mit seinem im Selbstverlag herausgegebenen Buch   wieder in Erinnerung gerufen, dass die Besetzung der Liebigstraße  vor 30 Jahren Teil der Kämpfe von einkommensarmen und wohnungslosen Menschen war.  Ein solches Wissen kann die Solidarität aktuell mit den Bewohner*innen nur fördern. Das zeigte sich am Sonntag durch das große Interesse an dem Spaziergang, der ausdrücklich nicht nur als historischer bezeichnet wurde. Es wurden auf der Route immer wieder über aktuelle Gentrifizierungsprojekte, aber auch den Widerstand dagegen berichtet. Schließlich ging die Initiative für den Spaziergang von einer Nachbarschaftsgruppe im Friedrichshainer Nordkiez aus, die mehrere Jahre gegen das Projekt der CG-Gruppe in der Rigaer Straße 71- 73 mobilisiert hat. Gemeinsam mit Stino haben sie nicht nur an einen Kampf von (einkommens)armen Menschen erinnert, sondern sich auch die Frage gestellt, warum nicht auch heute wieder Menschen auf der Suche nach Wohnraum leerstehende Wohnungen und Gebäude inspizieren, die es auch in Berlin weiterhin gibt. 

Nachtrag. Unmittelbar neben der Rigaer Straße 94 lebten unter Balkonen über längere Zeit mehrere wohnungslose Menschen, die vor Kurzem vom Ordnungsamt geräumt - en Beispiel für den Kampf der Behörden gemeinsam mit einigen Bewohner*innen gegen einkommensarme Menschen heute. 

 

 

 

 

 Lesetip zur Geschichte der Ostberliner Besetzer*innenbewegung 1990 und zur Geschichte zur Besetzung der Liebigstraße 34

 

. Stino von West nach Ost in Berlin 1990: 

 

http://www.berlin1990.de

 

 

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