[FFM] Vertuscht und Verschwiegen: Neonazistischer Mordanschlag auf Linke im Jahr 2000

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Im September 2000 gab es in Frankfurt einen Mordanschlag auf Linke. Dank glücklicher Umstände explodierte der unter einem Auto angebrachte Sprengsatz nicht. Fast 15 Jahre später berichtete die Frankfurter Rundschau erstmals öffentlich von den Ereignissen. Nun zeichnen wir in diesem Hintergrund-Papier die Aktivitäten militanter Neonazis zu dieser Zeit im Rhein-Main-Gebiet nach, beleuchten das politische und soziale Umfeld der von dem Anschlag Betroffenen und erheben schwere Vorwürfe gegen Polizei und Staatsanwaltschaft.

Im September 2000 gab es in Frankfurt einen Mordanschlag auf Linke. Dank glücklicher Umstände explodierte der unter einem Auto angebrachte Sprengsatz nicht. Fast 15 Jahre später berichtete die Frankfurter Rundschau erstmals öffentlich von den Ereignissen. Nun zeichnen wir in diesem Hintergrund-Papier die Aktivitäten militanter Neonazis zu dieser Zeit im Rhein-Main-Gebiet nach, beleuchten das politische und soziale Umfeld der von dem Anschlag Betroffenen und erheben schwere Vorwürfe gegen Polizei und Staatsanwaltschaft.

 


Der vollständige Text als PDF: Vertuscht und Verschwiegen: Der neonazistische Mordanschlag auf Linke in Frankfurt im Jahr 2000


 

 

Vertuscht und Verschwiegen

Der neonazistische Mordanschlag auf Linke in Frankfurt im Jahr 2000 und was wir dazu zu berichten haben ... Einblicke in den Neonazi-Untergrund im Raum Frankfurt.

 

 

Der Mordanschlag im September 2000

 

Die Frankfurter Rundschau berichtete am 15. Mai 2015 in dem Artikel „Der Anschlag”: In den ersten Septembertagen des Jahres 2000 gab es in Frankfurt am Main einen neonazistischen Mordanschlag auf drei Menschen. Am PKW einer Antifaschistin und eines Antifaschisten hatten Unbekannte zwei Stangen mit metallischem Natrium (im Folgenden: Natriumstangen) angebracht, die in Verbindung mit Wasser hochexplosiv reagieren. Die Betroffenen – Bastian, Ulrike (Namen geändert) und ihr wenige Monate altes Kind – hätten bei einer Explosion wenig Überlebenschancen gehabt.

Mindestens 100 Kilometer waren Bastian, Ulrike und ihr Baby am 3. September 2000 mit den unter der Auspuffanlage ihres Autos befestigten Natriumstangen gefahren, bis diese entdeckt wurden. Sie hatten Glück im Unglück. Es regnete nicht während ihrer Fahrt, die Straßen waren feucht aber ohne Pfützen. Ein Magnet, der am Auspuff angebracht war, lässt vermuten, dass die TäterInnen neben den Natriumstangen weiteres Material befestigt hatten, das während der Fahrt abgefallen war – möglicherweise ein Gefäß mit Wasser, das, wäre es am heißen Auspuff durchgeschmort, Wasser freigesetzt und die Explosion ausgelöst hätte.

 

Sehr dürftige polizeiliche Ermittlungen

 

Heute wie damals spricht alles für einen neonazistischen Anschlag auf Linke. Dennoch – oder gerade deshalb: Die Ermittlungen des Frankfurter Staatsschutzes zu dem Mordanschlag waren äußerst dürftig. Es stellt sich die Frage: Konnten sie nicht, wollten sie nicht oder sollten sie nicht? Offenbar ergänzten sich beim Frankfurter Staatsschutz Inkompetenz, Ignoranz und Unwillen.

Obwohl der Polizei zwei Wochen nach dem Anschlag klar war, dass die Natriumstangen bei einer Explosion „das Auto mehrfach zerfetzt” hätten (Zitat siehe Frankfurter Rundschau), ermittelte sie nur wegen des Verstoßes gegen das Sprengstoffgesetz und nicht wegen eines geplanten Tötungsdeliktes. Das ist absurd. Doch konnten so der Ermittlungsaufwand geringer gehalten und die Akten schneller geschlossen werden. Bereits im Januar 2001 – nicht einmal fünf Monate nach dem Anschlag – wurden die Ermittlungen eingestellt. Auch verfolgte die Polizei in den Ermittlungen lediglich (und unvollständig) den Weg der Natriumstangen und die Frage, wer diese gestohlen und an wen weitergegeben hatte. Naheliegenden Fragen wurde nach unserem Erkenntnisstand nicht nachgegangen:

Welche Neonazistrukturen könnten für diesen Anschlag verantwortlich sein? Wer hatte die Motivation, das Knowhow, das Konzept, um diesen Anschlag durchzuführen? Und wer hatte zugleich einen „Zugang” zu den Betroffenen?

Im Abschlussgespräch vor der Einstellung der Ermittlungen gab der Ermittlungsführer des Frankfurter Staatsschutzes gegenüber Bastian, Ulrike und ihrem Anwalt offen zu verstehen, dass es keine organisierten Neonazistrukturen im Frankfurter Raum gäbe, denen ein derartiger Anschlag zuzutrauen sei. Nicht nur antifaschistische Recherchen zeigen etwas ganz anderes, auch die Polizei wusste es zu diesem Zeitpunkt besser. Deswegen muss nun insbesondere aufgearbeitet werden, warum die Polizei bestimmte Fakten und ihnen vorliegende Erkenntnisse nicht in die Ermittlungen einführte.

Wir wissen nicht, wer Bastian, Ulrike und ihr Kind beinahe getötet hätte. Die nachfolgende Abhandlung soll dazu dienen, die Hintergründe und Milieus zu beleuchten, die in diesem Anschlag eine Rolle gespielt haben könnten. Es gab zu dieser Zeit im Rhein-Main-Gebiet militante Neonazistrukturen, die Waffen beschafften, paramilitärische Gruppen bildeten, Untergrundkonzepte verfolgten und in entsprechende Netzwerke eingebunden waren. Ihnen war der Allgemeine Studierendenausschuss (AStA) der Fachhochschule (FH) Frankfurt, in dem Bastian mitarbeitete, als „antifaschistische Institution” bekannt und verhasst. Diese Neonazistrukturen wollen wir nach unserem Kenntnisstand offenlegen.

Zur Zeit finden in Wiesbaden die Sitzungen des Untersuchungsausschusses zum Mord des Nationalsozialistischen Untergrundes (NSU) am 6. April 2006 an Halit Yozgat in Kassel statt. Von den Expertinnen und Experten, die in den bisherigen Sitzungen gehört wurden, konnten bislang allenfalls die Journalistin Andrea Röpke und der Journalist Dirk Laabs Fachwissen einbringen. Andere Expertisen - gerade der Behörden - überboten sich mit steilen Thesen darüber, dass es in Hessen in den frühen 2000er Jahren keinen militanten Neonaziuntergrund und beispielsweise auch keine Kontakte hessischer Neonazis nach Thüringen in das weitere Umfeld des NSU gegeben habe. Ein Blick alleine in das militante Neonazimilieu im Raum Frankfurt um das Jahr 2000 widerlegt dies eindrücklich.

 


Inhaltsübersicht


 

1. Die politischen Aktivitäten von Bastian, Ulrike und des linken AStA der Fachhochschule Frankfurt

 

Im ersten Teil skizzieren wir die Personen Bastian und Ulrike und ihre politischen Aktivitäten und Zusammenhänge im Jahr 2000. Wir kommen zu dem Schluss, dass es keine andere Erklärung gibt als die, dass der Mordanschlag auf Bastian als Antifaschisten und Mitarbeiter des AStA der FH Frankfurt zielte. Wichtig erscheint uns auch – gerade 15 Jahre später – der Blick in das Jahr 2000 und in die damaligen Radikalisierungs- und Untergrund-Tendenzen der deutschen Neonaziszene.

 

 

2. Fehler und Versäumnisse in den Ermittlungen

 

Im zweiten Teil benennen wir die Fehler und Versäumnisse in den polizeilichen Ermittlungen. Diese erscheinen teilweise so gravierend, dass sie sich nicht ausschließlich mit „handwerklichen Fehlern” erklären lassen, sondern nahelegen, dass es bei den Behörden, zumindest bei der Polizei und der Staatsanwaltschaft, kein Interesse gegeben hat, die TäterInnen dieses Mordanschlags zu ermitteln und vor Gericht zu bringen.

 

 

3. Was nun? – eine Bewertung

 

Wir sind realistisch. Wir können von den Behörden keine Antworten erzwingen, warum die Ermittlungen zu diesem neonazistischen Mordanschlag völlig unzureichend geführt wurden. Wir können sie auch nicht zwingen, nun ernsthaft zu ermitteln. Der öffentliche Druck und das öffentliche Interesse sind zu gering. Aber dennoch müssen wir die richtigen Fragen stellen.

 

4. Weiterführende Informationen

 

Dieser letzte Teil soll allen Interessierten weitere Informationen liefern über Personen und Zusammenhänge, die in der militanten Neonaziszene im Raum Frankfurt Ende der 1990er und Anfang der 2000er Jahre eine Rolle spielten. Dieser Teil soll auch deutlich machen, dass die zuvor beschriebenen Zusammenhänge keinesfalls isoliert zu betrachten sind und er soll mit Nachdruck den Behörden widersprechen, die das Problem von Neonazis in Hessen seit Jahren – und heute wieder vor dem NSU-Untersuchungsausschuss in Wiesbaden - klein reden.

 

 


1. Die politischen Aktivitäten von Bastian, Ulrike und des linken AStA der Fachhochschule Frankfurt


 

1.1. Warum Bastian?

 

Es steht außer Frage: Der Anschlag war neonazistisch motiviert und er sollte einen Antifaschisten und Mitarbeiter des AStA der FH Frankfurt treffen. Es gibt keine andere Erklärung, die auch nur im geringen Maße plausibel erscheint.

Die Frage „Warum ausgerechnet Bastian?” beschäftigt uns seit 15 Jahren. Bastian und Ulrike waren in keiner „klassischen” Antifa-Gruppe organisiert. Beide engagierten sich in der antirassistischen Arbeit und in der Solidaritätsarbeit für Geflüchtete, traten dort jedoch nicht exponiert in Erscheinung. Bastian arbeitete viele Jahre im AStA der FH mit. Er repräsentierte den AStA auf Versammlungen von Studierenden, war darüber vielen Personen an der FH vom Namen und Gesicht her als AStA-Aktiver bekannt. Der AStA der FH war unter den Neonazis im Frankfurter Raum verhasst und wurde von ihnen als homogener Kreis von „Antifas” angesehen.

Im Sommer 2000 befand sich Bastian in der Abschlussphase seines Sozialarbeits-Studiums. Er leistete sein Anerkennungsjahr bei einer Kinder-Betreuungseinrichtung im Vordertaunus und hatte regelmäßige Termine an der FH. Bastian war in den Monaten vor dem Anschlag der einzige AStA-Aktive, der häufiger mit dem Auto zur FH fuhr. Er parkte das Auto immer in derselben Straße. Die Polizei geht davon aus, dass die Natriumstangen zwischen dem 29. August und dem 3. September unter dem PKW befestigt worden waren. Das Auto stand in diesem Zeitraum ohne bewegt zu werden in der Nähe der Wohnung von Bastian und Ulrike. Das Auto war nicht auf Bastian zugelassen, Ulrike hatte es wenige Monate zuvor geschenkt bekommen und erst einen Monat zuvor auf sich angemeldet. So bleibt als naheliegende These, dass die Neonazis über die Fachhochschule auf Bastian gekommen sein und ihn (von) dort ausspioniert haben müssen. Nur über die FH war Bastian für sie „greifbar”. Von dieser These waren Bastian und Ulrike von Beginn an ausgegangen und trugen diese der Polizei vor. Entsprechende Ermittlungsstränge - beispielsweise die Frage, welche Neonazis im Jahr 2000 an der FH studierten - finden sich jedoch nicht.

Warum ausgerechnet Bastian Ziel des Anschlags wurde, dafür gibt es zwei plausible Möglichkeiten:

Entweder sollte mit einem Anschlag „der AStA” getroffen werden und Bastian wurde hierfür stellvertretend ausgewählt. Wenn die Neonazis geplant hatten, die Natriumstangen am Auto eines AStA-Aktiven anzubringen, dann bot ihnen Bastian – und wohl nur Bastian - hierzu die Möglichkeit.

Oder Bastian wurde das Opfer einer Verwechslung mit dem Antifa-Referenten des AStA, dem er in der Statur ähnelte. Der Antifa-Referent exponierte sich in dieser Zeit mit antifaschistischen Themen weit über die FH hinaus und war ein vorrangiges Hassobjekt der hiesigen Nazis. Unter den Studierenden waren die Personen „vom AStA” zwar bekannt, aber oft wusste man nicht, wer nun wer vom AStA ist. Das heißt: der Anschlag zielte womöglich auf eine andere konkrete Person und die Autobombe wurde gezielt für diese als Mittel ausgewählt.

In jedem Fall findet sich das Motiv des Anschlag in den antifaschistischen Aktivitäten des AStA.

 

1.2. Die Aktivitäten des linken AStA der FH im Jahr 2000

 

Der damals noch linke AStA der Fachhochschule unterstützte und initiierte antifaschistische Kampagnen. Drei Themen prägten die antifaschistische Arbeit des AStA der Fachhochschule in Frankfurt am Main in den Jahren 1999 und 2000.

  • Die Kampagne „Weg mit dem rechten Sounddreck”, die sich gegen Strukturen des neonazistischen Netzwerks Blood & Honour in Offenbach richtete. Veröffentlichungen und eine antifaschistische Demonstration in Offenbach im Jahr 1999 thematisierten das hiesige Blood & Honour-Netzwerk mit Versand, Ladengeschäft und Tattoo-Studio und erzeugten öffentlichen Druck. Der AStA unterstützte diese Kampagne. In Räumen der FH fanden, organisiert oder unterstützt vom AStA, öffentliche Veranstaltungen der Kampagne „Weg mit dem rechten Sounddreck” statt.

  • Auf mehreren Kundgebungen zwischen 1999 und 2001 trat in Frankfurt eine „Bürgerinitiative für unser Land” in Erscheinung, deren Frontmann der zum Neonazismus konvertierte ehemalige RAF-Anwalt Horst Mahler war. Diese „Bürgerinitiative” mobilisierte zu ihren Kundgebungen zeitweise über 100 Personen, die aus verschiedenen Spektren der (extremen) Rechten kamen, u. a. von neonazistischen Kameradschaften und Blood & Honour. Gegen die Auftritte der „Bürgerbewegung für unser Land” positionierte sich der AStA der FH öffentlich. Ende 1999 war der Antifa-Referent des AStA der FH angeklagt, an einer Körperverletzung gegen einen Teilnehmer der Nazikundgebung beteiligt gewesen zu sein, wurde jedoch freigesprochen.

  • Der AStA der FH war ab 1998 treibende Kraft einer Kampagne gegen die Nibelungen-Buchhandlung, die sich in unmittelbarer Nähe der Fachhochschule befindet. Der Buchladen war unter anderem durch ein Angebot rechter Literatur aufgefallen. Der AStA organisierte mindestens eine Kundgebung vor dem Buchladen, der Betreiber des Buchladen strengte eine Klage gegen den AStA an. Für den 4. Mai 2000 war in der Buchhandlung eine Veranstaltung mit dem neonazistischen Referenten Claus Nordbruch angekündigt. Die Veranstaltung fand nicht statt, Antifas hatten zuvor die Scheiben des Buchladens eingeworfen. Extreme Rechte machten den AStA dafür verantwortlich. (Siehe 2.5. „Blood & Honour, ein Buchladen im Nordend und der Südafrikaner Claus Nordbruch”)

 

1.3. Das Jahr 2000 – Angriffe, Anschläge und Untergrundkonzepte

 

Im Jahr 2000 gab es in Deutschland eine Vielzahl von Angriffen und Anschlägen, die von Neonazis verübt wurden, sowie etliche Funde von Sprengstoff und Waffen bei Neonazis. Die folgenschwersten Taten des Jahres waren der Rohrbombenanschlag am Düsseldorfer Bahnhof Wehrhahn am 27. Juli 2000, der sich gegen Menschen mit Migrationshintergrund richtete und mehrere von ihnen lebensgefährlich verletzte, sowie der erste bekannte Mord des Nationalsozialistischen Untergrundes (NSU) am Blumenhändler Enver Şimşek am 9. September 2000 in Nürnberg, der nur wenige Tage nach dem neonazistischen Mordanschlag in Frankfurt stattfand.

Seit 1996 hatte das Konzept „Untergrund” in den neonazistischen Szenen in Deutschland stetig an Bedeutung gewonnen. Es kursierten Aufrufe und Anleitungen zur Schaffung militanter „Anti-Antifa”-Strukturen, zum Aufbau von Combat 18-Gruppen und zur Bildung terroristischer Kleinzellen nach der Strategie des „Leaderless Resistance” (Führerlosen Widerstandes). Der sich zu dieser Zeit verbreitende Roman „The Turner Diaries” (Die Turner Tagebücher) eines US-amerikanischen Neonazis, der das Wirken einer fiktiven rechten Terrorgruppe in den USA beschreibt, wurde zu einer Art Handbuch für terroristisch ambitionierte Neonazis in Deutschland und diente dem NSU offensichtlich als Blaupause.

Als struktureller und ideeller Träger dieser militanten Strukturen trat das Netzwerk Blood & Honour (B&H) in Erscheinung, das in Deutschland am 12. September 2000 verboten wurde. Blood & Honour besorgte vielfach die Verbreitung dieser Untergrundkonzepte und verband dies mit den Anrufen, zur Tat zu schreiten. Aus den Reihen von B&H kam nicht nur eine konzeptionelle und ideelle Unterfütterung des „Untergrundes”. Mit Combat 18 schuf B&H ein Label und ein Konzept für diejenigen, die es nun „ernst” meinten. Combat 18 galt sowohl als „bewaffneter Arm von Blood & Honour” als auch als ein Label, dem sich entstehende „Untergrund”-Gruppen frei bedienen konnten. Kern des Combat 18 waren die strategischen Vorgaben des „Leaderless Resistance”, neben der Propagierung des „Rassenkrieges” und Antisemitismus nahm vor allem der militante Kampf gegen Linke breiten Raum ein. Es ist kein Zufall, dass Beate Zschäpe, Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt, die den Kern des NSU bildeten, zumindest in den Anfangsjahren ihres Untertauchens maßgebliche Unterstützung von Strukturen des B&H und Combat 18 in Chemnitz und Thüringen erhielten.

Tipp zum Weiterlesen: Der NSU im Netz von Blood & Honour und Combat 18, http://www.nsu-watch.info/2015/06/der-nsu-im-netz-von-blood-honour-und-combat-18-gesamtversion/

 


2. Fehler und Versäumnisse in den Ermittlungen (Auswahl)


 

2.1. Versäumnisse und nicht wahrgenommene Ermittlungsansätze in der Spur der Natriumstangen

 

Der einzige Ermittlungsansatz, den der Staatsschutz Frankfurt bezüglich des Mordanschlags im Jahr 2000 erkennbar wahrnahm, war die Spur der Natriumstangen. Diese, so ergaben die Ermittlungen, waren bei einer Firma in Bad Homburg entwendet worden, die für die Autoindustrie produzierte. Zwar gab es zu dieser Zeit weitere Firmen in Deutschland, die derartige Natriumstangen verarbeiteten, doch es scheint naheliegend, dass die für den Mordanschlag verwendeten Stangen aus den Beständen der Bad Homburger Firma stammen. Alle Angestellten der Firma hätten ohne großen Aufwand Natriumstangen entwenden können. Mehrere Dutzend Mitarbeiter hatten einen einfachen und unkontrollierten Zugang zu den Natriumstangen, darunter ca. 20 Auszubildende.

In der Befragung einzelner Mitarbeiter bekam die Polizei Hinweise auf einen damals 23-jährigen Frankfurter, dem von Kollegen der Diebstahl zugetraut wurde, der zudem als gewalttätig und rechtsradikal galt. In den Vernehmungen gab der Frankfurter zu, in der Firma Hakenkreuze geschmiert zu haben, einen Diebstahl von Natriumstangen und eine Verwicklung in den Mordanschlag in Frankfurt stritt er jedoch ab. Bis heute unterhält der Frankfurter in Sozialen Netzwerken „Freundschaften” zu Neonazis, die darauf schließen lassen, dass er in der Vergangenheit Zugänge zur organisierten, militanten Naziszene hatte.

Im Juni 2000 wurden in Neu-Anspach (Hochtaunuskreis), Niederbrechen und Oberbrechen (bei Limburg) Natriumstangen, die bei der Bad Homburger Firma gestohlen worden waren, in einen Bach, einen Weiher und einen Brunnen geworfen. In einem Fall zerstörte die Druckwelle der Explosion eine Scheibe eines naheliegenden Hauses. Die Polizei überprüfte einen Zusammenhang dieser Taten mit dem Mordanschlag auf Bastian, Ulrike und ihr Kind. Doch ihre Ermittlungen blieben zunächst ergebnislos. Schließlich kam der Polizei im November 2000 eine Denunziation zur Hilfe. In einem anonymen Schreiben wurde ein 26-jähriger Neu-Anspacher, der bei der Firma in Bad Homburg arbeitete und einen einfachen Zugang zu den Natriumstangen hatte, beschuldigt, für die Explosionen in Bach, Weiher und Brunnen sowie für einen Fahrzeugbrand in Weilrod-Riedelbach verantwortlich zu sein. Mit dem Anschuldigungen konfrontiert gestand der 26-jährige, die Explosionen ausgelöst zu haben. Er bestritt jedoch den PKW-Brand in Weilrod-Riedelbach und jeden Zusammenhang mit dem Mordanschlag in Frankfurt.

Auffallend ist, dass es zwar Ermittlungsvorgänge zu den Explosionen in Bach, Weiher und Brunnen gab, es sind jedoch keine Ermittlungen zum Fahrzeugbrand in Weilrod-Riedelbach nachvollziehbar. Obgleich die Polizei indirekt bestätigte, dass ein derartiger Autobrand ausgelöst durch Natriumstangen stattfand, gibt es hierzu keinerlei Ausführungen, kein Aktenzeichen, nicht einmal ein Datum. Es erschließt sich nicht, warum man diesem offensichtlich keine Bedeutung beimaß. Dabei wäre es überaus interessant zu wissen, ob es in der Tatausführung Parallelen zum Mordanschlag in Frankfurt im September 2000 gab.

 

Spuren in Neonazikreise: Die Gruppe um Eike B.

 

In der Frage, wer von den Personen, die Zugriff auf die Natriumstangen hatten, Kontakte in neonazistische Kreise hatte und die Stangen dorthin weitergegeben haben könnte, öffnen sich alleine schon in den uns vorliegenden Materialien zu viele Optionen, als das wir uns auf eine These festlegen können.

Als Beispiel mag die Region Neu-Anspach dienen. Mehrere im Raum Neu-Anspach wohnende Mitarbeiter der Firma, allesamt 20 bis 25 Jahre alt, bildeten zu diesem Zeitpunkt eine Clique bzw. waren Teil eines größeren Cliquenzusammenhangs. Im Hochtaunuskreis - insbesondere im Raum Neu-Anspach, Usingen, Grävenwiesbach - existierte in diesen Jahren eine breit gefächerte rechte Jugend- und Alltagskultur, die es uns oft unmöglich machte, zu bestimmen, wer „nur” einer rechten Jugendclique und wer „schon” der Neonaziszene zugehörte. Man kannte sich von der Schule und Jugendtreffpunkten, man verstand sich und traf sich in Diskos und Kneipen, auf Kirmes-Veranstaltungen und Böhse-Onkelz-Partys.

Als am 4. Juni 2000 der schon erwähnte 26-jährige Natriumstangen in einen Weiher am Stadtrand von Neu-Anspach warf, hielt sich der damals 23-jährige Eike B. aus Neu-Anspach mit drei Freunden in Hörweite des Geschehens auf. Auch Eike B. arbeitete bei der Bad Homburger Firma und hatte einen einfachen Zugang zu den Natriumstangen. Eike B. verwies in seiner Vernehmung darauf, mit seinen Freunden nur zufällig in der Nähe gewesen zu sein und bestritt, mit der Explosion und dem Diebstahl der Natriumstangen etwas zu tun zu haben.

Von allen vier Personen, einschließlich Eike B., die damals angeblich nur „zufällig” in der Nähe der Explosion am Neu-Anspacher Weiher waren, lassen sich heute soziale Kontakte zu extremen Rechten feststellen. Diese sind für uns hauptsächlich virtuell nachvollziehbar, zum Beispiel über Facebook-Freundeskreise, und so bleibt offen, wie eng diese Kennverhältnisse sind und seit wann sie bestehen. Eike B. pflegt noch heute Facebook-Freundschaften zu Neonazis, die zum Teil seit Jahren nicht mehr in der Region wohnen oder nie dort wohnten, die auch keine ehemaligen ArbeitskollegInnen oder SchulfreundInnen von ihm sind oder waren. So ist es naheliegend, dass dies „alte Freundschaften” sind und dass diesen nicht nur bloße Kennverhältnisse aufgrund örtlicher Nähe zugrunde liegen.

Zur Vierergruppe um Eike B., die am 4. Juni 2000 in der Nähe der Explosion war, zählte auch der damals 23-jährige Christian G. Ihn können wir ab 2008 mehrfach in extrem rechten Gruppen des Sozialen Netzwerkes Wer-kennt-wen feststellen. Christian G. unterhält „Freundschaften” zu bekannten Neonazis der Region, die – da sie kontinuierlich und vorrangig auftreten und sich zudem in exklusiven virtuellen Gruppen widerspiegeln – als deutlich mehr erscheinen als „nur” oberflächliche virtuelle Kennverhältnisse.

Auch lassen sich von mehreren Neonazis, die zweifellos dem harten Kern der Szene angehör(t)en, direkte Verbindungen zu Personen dieser Vierergruppe zeichnen. Einzelne dieser Neonazis traten zu dieser Zeit oder wenige Jahre später im Zusammenhang mit Strukturen unter den Labels Blood & Honour und Combat 18 oder durch eine Anbindung an die militante Frankfurter Neonaziszene in Erscheinung. Einige Beispiele:

  • Der 1974 geborene Thomas M., den wir um 2001 auf Treffen der Kameradschaft Frankfurt festgestellten. Er gilt als gewalttätig und hat eine On-Off-Beziehung mit dem Knast. Der aus Hoyerswerda stammende Neonazi zog um 1998 nach einem mehrjährigen Gefängnisaufenthalt von Sachsen in den Taunus, wohnte in Neu-Anspach und Grävenwiesbach und lebt seit einigen Jahren im Vogelsbergkreis. Von 2001 bis 2012 hat er nach unserer Kenntnissen drei Haftstrafen in Frankfurt verbüßt. Thomas M. zählt heute noch zum harten Kern der neonazistischen Szene.

  • Der 1983 geborene Daniel O., der aus Weilrod-Riedelbach kommt und vor wenigen Jahren in den Vogelsbergkreis verzog. O. ist für uns seit Anfang der 2000er Jahre als Angehöriger neonazistischer Kameradschaften feststellbar und nimmt auch heute noch an Neonazikonzerten und Aufmärschen teil. Er trägt seit vielen Jahren den Spitznamen „Bombi”.

  • Der 1974 geborene Bernd V. aus Kronberg, der im Jahr 2000 zum engeren Kreis des Netzwerkes Blood & Honour zählte und zu dieser Zeit und in den Folgejahren immer wieder an neonazistischen Treffen im Hochtaunuskreis teilnahm. Auch er ist noch heute neonazistisch aktiv und pflegt insbesondere Kontakte in das Milieu des „alten” B&H Südhessen.

  • Der 1981 geborene Marcel M., der aus dem Raum Usingen stammt und heute im Lahn-Dill-Kreis wohnt. M. zählt seit vielen Jahren zum harten Kern der Neonaziszene und posiert noch heute – mittlerweile als Familienvater – mit Bekleidungsstücken mit Aufdrucken des Combat 18.

Diesen (und weiteren) Verbindungen wurde in den Ermittlungen niemals nachgegangen. Von der vierköpfigen Personengruppe um Eike B. wurde lediglich er selbst von der Polizei befragt, Verbindungen in neonazistische Kreise waren dabei kaum Thema.

 

 

Weitere nicht wahrgenommene Ermittlungsansätze zu den Natriumstangen

 

Tatsächlich hätten genauere Ermittlungen in der Bad Homburger Firma noch weitere Erkenntnisse erbracht. Um 2006 nahmen wir den Recherchefaden zum Mordversuch in Frankfurt im Jahr 2000 wieder auf, stellten Kontakte zu MitarbeiterInnen der Bad Homburger Firma her und befragten diese. Wir erhielten sogleich den Hinweis auf einen älteren Angestellten aus der Wetterau, der im Jahr 2000 als Anlagenwart ungehinderten Zugang zu den Natriumstangen gehabt haben und in der Firma als „rechtsradikal” bekannt gewesen sein soll. Uns wurde erzählt, dieser Mitarbeiter habe mehrfach ihm nahe stehende Auszubildende zu Zeltlagern eingeladen, an deren Organisation er offensichtlich beteiligt gewesen war. Zwei der Jugendlichen hatten sich danach unter KollegInnen darüber beschwert, „zu Nazitreffen mitgeschleppt” worden zu sein.

Ein weiterer interessanter Aspekt ist, dass es um das Jahr 2000 laut Aussage eines Mitarbeiters der Firma ein „Austauschprogramm” zwischen der Bad Homburger Firma und der Fachhochschule in Frankfurt am Main gab. Dies wurde uns so beschrieben, dass Mitarbeitende der Firma nebenher an der FH studierten, dafür zeitweise freigestellt wurden, während FH-Studierende Praktika u. ä. bei der Bad Homburger Firma ableisteten. Es gab also im Jahr 2000 offenkundig einen unmittelbaren Zugang von Mitarbeitenden der Firma zur FH. Wir konnten bisher nur eine Person recherchieren, die an diesem „Austauschprogramm” teilgenommen hatte und die uns unverdächtig erscheint. Die anderen Teilnehmenden sind uns namentlich nicht bekannt.

Die Polizei hat nie in diese Richtungen – der Anlagenwart, das „Austauschprogramm” - ermittelt. Sie wusste es wohl auch nicht. Sie hatte nur wenige, ausgewählte Mitarbeiter befragt. Die überwältigende Mehrheit der Belegschaft wusste allenfalls, dass mit gestohlenen Natriumstangen „Unfug angestellt” worden sei. Dass es sich bei dem „Unfug” um einen neonazistischen Mordanschlag handelte, war unter den Arbeitenden der Firma nicht bekannt und auch nicht, dass sich dieser Anschlag gegen einen Studierenden der FH gerichtet hatte. Folglich hatte sich niemand der MitarbeiterInnen bei der Polizei gemeldet und auf Rechtsradikale in der Firma und Verbindungen der Firma zur FH hingewiesen.

 

2.2. Der neonazistische Überfall auf dem Uni-Campus in Frankfurt am 1. Juni 2000

 

Am Abend des 1. Juni 2000 überfielen mehrere Neonazis auf dem Campus der Frankfurter Universität die Vorbereitungen der Rosa-Luxemburg-Tage der Gruppe Linksruck. Sie bedrohten Anwesende, randalierten und verspritzten Buttersäure. Mehrere Krankenwägen rückten an, um Atemwegsverletzungen der Angegriffenen zu behandeln. Interessant ist: VOR dem Angriff hatte die Polizei in der Nähe der Uni eine Gruppe von acht Neonazis kontrolliert, auf die die Täterbeschreibungen zutrafen. Sechs von ihnen zählten zur Gruppe White Unity (WU), darunter der WU-Anführer Alexander V. aus Mömlingen (bei Obernburg, Bayern), gegen den zu diesem Zeitpunkt wegen des Verdachts der Bildung bewaffneter Gruppen ermittelt wurde. Die WU, deren Schwerpunkt im Raum Mömlingen und im Raum Dieburg lag, war eine „Truppe fürs Grobe” innerhalb des Blood & Honour-Netzwerkes und stand unter der Direktive von Blood & Honour Scandinavia bzw. Combat 18 Denmark (siehe: 4.5. „Die White Unity”). Unter den Kontrollierten vor diesem Überfall waren mit Alexander H. aus Mühlheim und Lutz F. aus Hanau auch zwei führende Personen von B&H Südhessen.

Ob die Angreifer aus dem Kreis der Kontrollierten stammten, wurde nie bestätigt. Auch ist nicht bekannt, wie das Ermittlungsverfahren ausging, das gegen die acht Neonazis eingeleitet wurde.

Die Polizei kommunizierte diesen organisierten neonazistischen Angriff auf Linke mitten auf dem Bockenheimer Campus nicht nach außen. Bemerkenswert ist insbesondere, dass der Überfall am 1. Juni 2000 nicht erkennbar in die Überlegungen und Recherchen der Beamten einfloss, die sich nur drei Monate später in den Ermittlungen zum Mordanschlag auf Bastian, Ulrike und ihr Kind hätten fragen müssen, welche Personen und Strukturen für militanten Angriffe gegen Linke in Frankfurt in Frage kommen. Was verleitete den Ermittlungsführer des Staatsschutz in Frankfurt, dessen Abteilung parallel zum Mordanschlag und zum Überfall auf dem Uni-Campus ermittelte, zur Aussage gegenüber Bastian und Ulrike, dass es keine organisierten Neonazistrukturen im Frankfurter Raum gäbe, denen ein derartiger Anschlag zuzutrauen sei? Kann ein leitender Staatsschutzbeamter tatsächlich so beschränkt sein?

Dass dieser Überfall nie erkennbar in die polizeiliche Bewertung und Analyse der hiesigen Neonaziszene einfloss und dass Ermittlungen hierzu offensichtlich nicht zur Anklage gebracht wurden, erscheint nur auf den ersten Blick rätselhaft. Die Erfahrungen der vergangenen Jahre (Stichwort: NSU) lassen stark vermuten, dass unter den Tätern oder Mitwissenden des Überfalls auf die Veranstaltung auf dem Uni-Campus eine Vertrauensperson (V-Person), also ein Spitzel, einer Sicherheitsbehörde war, den es in der Folge zu „schützen” galt.

Doch auch Linksruck verschwieg diesen Angriff, es wurde von ihnen weder öffentlich noch unter der Hand darüber informiert. Warum? Eine Antwort darauf muss Janine Wissler geben, damals eine führende Person der Frankfurter Linksruck-Gruppe und heute Vertreterin der Linkspartei im hessischen NSU-Untersuchungsausschuss. Das Wissen über den Überfall auf die Campus-Veranstaltung wäre für antifaschistische Recherchen zur militanten Neonaziszene im Raum Frankfurt wichtig gewesen und hätte uns auch den Mordanschlag auf Bastian drei Monate später in einem anderen Licht sehen lassen. Es waren in diesem Fall nicht nur die Behörden, die verantwortungslos handelten.

 

2.3. Erkenntnisse über den Zusammenhang Combat 18 Rhein-Main

 

In die Ermittlungen flossen auch keine Kenntnisse über den neonazistischen Zusammenhang „Combat 18 Rhein-Main” ein.

Die „Planspiele” zur Schaffung eines Combat 18 Rhein-Main sind uns erst nach dem Jahr 2000 durch Aussagen ausgestiegener Neonazis gegenüber Antifas bekannt geworden. Zentrale Figur dieser Gruppe soll der in Mühlheim (bei Offenbach) wohnende Alexander H. gewesen sein, zugleich Leiter der Blood & Honour Sektion Südhessen und einer der Kontrollierten vor dem Überfall auf den Uni-Campus in Frankfurt am 1. Juni 2000. Alexander H. sei – so die uns vorliegenden Angaben – ein großer Anhänger des Combat 18 gewesen und habe um das Jahr 1999 im vertrauten (Blood & Honour internen) Kreis geäußert, „so etwas wie Combat 18” im Rhein-Main-Gebiet aufbauen zu wollen.

Wir haben (noch) keine verlässlichen Informationen welchen Organisierungsgrad diese Gruppe erreichte und wer ihr alles angehörte. Doch können wir den engeren Kreis um Alexander H. zu dieser Zeit rekonstruieren. Wir beobachten seit Ende der 1990er Jahre überregional gute Kontakte von Alexander H. insbesondere zu Blood & Honour in Franken, Chemnitz und den Raum Jena – und somit exakt in die Kreise, von denen auch der Nationalsozialistische Untergrund wesentliche Unterstützungsleistungen erfuhr. Im Rhein-Main-Gebiet kooperierte der Kern von B&H Südhessen um Alexander H. eng mit Aktivisten der damals existierenden Kameradschaft Taunusstein und der Kameradschaft Frankfurt (siehe: 4.3. „Das Milieu der Blood & Honour-Sektion Südhessen um 2000”). Hierbei rückt der nachfolgend beschriebene Sören B. in unser Blickfeld.

Alexander H. hat eine seit den 1990er Jahren ungebrochene Kontinuität als Neonazi. Im Jahr 2000 nahm er an Neonaziaufmärschen teil. 2003 war er laut Behördenerkenntnissen einer der Organisatoren einer paramilitärischen Übung im Spessart, an der vor allem Neonazis der Freien Nationalisten Rhein-Main teilnahmen. Die Polizei ermittelte mal wieder und stellte die Ermittlungen Jahre später mal wieder ein (siehe: 4.6. „‘Wehrsport’ im Spessart 2003”). Zwischen 2002 und 2006 hatte H. mehrere Verfahren, u. a. wegen Verstoß gegen das Waffengesetz sowie Körperverletzungsdelikten, welche ihm 2004 und 2005 zwei Haftstrafen einbrachten, die zur Bewährung ausgesetzt wurden. Letztmals wurde H. im Februar 2015 als Teilnehmer einer PEGIDA-Demonstration in Frankfurt festgestellt.

 

2.4. Der Neonazi Sören B. an der Fachhochschule in Frankfurt am Main im Jahr 1999 bis 2005

 

Einer weiteren – wichtigen - Frage wurde in den Ermittlungen zum Mordanschlag auf Bastian, Ulrike und ihr Baby seitens der Polizei nie erkennbar nachgegangen: Gab es zu dieser Zeit Neonazis, die an der Frankfurter FH studierten, die darüber einen „Zugang” zu Bastian hatten, die Kennverhältnisse zu Personen im sozialen und politischen Umfeld von Bastian hatten – und die darüber Möglichkeiten gehabt hätten, Bastian auszuspionieren? Die Antwort ist: ja. Es gab zumindest eine Person, die diese Kriterien erfüllt: Sören B., geboren 1972, damals wohnhaft in Taunusstein.

Nach Angaben von AntifaschistInnen aus Taunusstein, die ihn seit ihrer Jugend kennen, war Sören B. in den späten 1990er Jahren eine führende Person der Kameradschaft Taunusstein und wurde als „B&H-Mann” wahrgenommen. Die Taunussteiner Neonaziszene galt zu dieser Zeit als überaus militant, am 22. September 2000 wurde im Rahmen von Ermittlungen gegen Berliner Neonazis die Wohnung eines Taunussteiner Neonazis durchsucht und u. a. scharfe Munition gefunden (siehe: 4.7. „Der Waffenfund in Taunusstein am 22. September 2000”). Als Blood & Honour im September 2000 verboten wurde und die Kameradschaft Taunusstein einging, schwang sich Sören B. zusammen mit dem ehemaligen B&H-Aktiven Jürgen B. aus Nackenheim (bei Mainz) zur Führungsperson der 2001 gegründeten Kameradschaft Schwarze Division Germania auf. Diese verstand sich gleichermaßen als Schutztruppe der NPD und Nachlassverwalter von B&H und trat ultramilitant auf. Ab 2004 musste sich der damalige Innenminister Volker Bouffier in den Medien dafür rechtfertigen, dass seine Behörden nicht gegen die Truppe vorgingen. Die Schwarze Division Germania trat ab 2005 nicht mehr öffentlich auf.

Ausgelöst wurde das mediale Interesse an der Schwarzen Division Germania durch Sören B. Im Jahr 2004 war er als Neonazi an der Fachhochschule in Frankfurt aufgeflogen. Studierende hatten ihn auf Pressefotos eines Neonaziaufmarsches erkannt, wo er sich mit Drohgebärden und im Shirt der Schwarzen Division vor Polizeibeamten aufgespielt hatte. Es wurde bekannt, dass Sören B. als Neonazi unerkannt seit 1999 an der FH Sozialarbeit studierte. Über seinen Studiengang kannte er etliche Linke an der FH und er hatte jahrelang in einem Projekt der Drogenhilfe mit Angehörigen des AStA der FH zusammengearbeitet. Studierende berichteten, ihn öfter in dem Café gesehen zu haben, das sich im selben Gebäude wie der AStA befand und von dem aus ersichtlich war, wer die Räume des AStA nutzte.

Sören B. ist heute ein Neonazi mit internationalen Verbindungen vor allem nach Frankreich, England, Belgien und Spanien. Er handelt mit NS-Devotionalien und war noch 2006 zusammen mit Alexander H. aus Mühlheim im österreichischen Klagenfurt in eine Auseinandersetzung mit Teilnehmenden einer antifaschistischen Demonstration verwickelt. Mit Alexander H. verbindet ihn seit langem eine Freundschaft. Zusammen mit dem Maintaler Claus Z. (um das Jahr 2000 Blood & Honour-Mitglied und führende Person der Kameradschaft Frankfurt) bildeten Alexander H. und Sören B. in vergangenen Jahren einen sozialen Freundeskreis, der sich mehrmals im Jahr traf und auch gemeinsame Urlaubsreisen (zum Beispiel 2010 nach Spanien) unternahm – und das, obgleich Sören B. 2005 aus dem Rhein-Main-Gebiet verzog, zunächst einige Jahre im Berliner Raum wohnte und heute nahe dem schweizerischen Basel in Frankreich lebt.

Dies alles beweist freilich keine Beteiligung von Sören B. an dem Mordanschlag auf Bastian, Ulrike und ihr Kind. Fakt ist dennoch: Ein militanter Neonazi studierte im Jahr des Anschlags an der FH in Frankfurt, stand einzelnen Personen des AStA nahe und konnte unmittelbaren Einblick nehmen, wie sich AStA-Aktiven an der FH bewegten.

 

2.5. Blood & Honour, ein Buchladen im Nordend und der Südafrikaner Claus Nordbruch

 

Die Polizei erkannte in ihren Ermittlungen zum Mordschlag auf Bastian kaum Zusammenhänge zwischen den antifaschistischen Kampagnen des AStA der FH Frankfurt und einem daraus resultierenden Mordmotiv. Neben der Beteiligung des AStA an der Kampagne „Weg mit dem rechten Sounddreck”, die sich explizit gegen die Strukturen des hiesigen B&H richtete, ist vor allem die vom AStA initiierte Kampagne gegen die Nibelungen-Buchhandlung im Frankfurt Nordend eine genauere Betrachtung wert.

Die Buchhandlung, die nur wenige Fußminuten von der FH entfernt liegt, war ab dem Jahr 1998 wegen ihres rechten Literaturangebots aufgefallen. Der AStA informierte darüber, rief zum Boykott des Ladens (in dem manche Studierende einkauften) auf und organisierte in einem Fall auch eine Kundgebung vor dem Geschäft. Der Inhaber wehrte sich u. a. mit einer Klage gegen den AStA. Die juristische Auseinandersetzung dauerte im Jahr 2000 an.

Für den 4. Mai 2000 war in der Nibelungen-Buchhandlung eine Veranstaltung mit dem Referenten und Buchautor Claus Nordbruch angekündigt. Claus Nordbruch exponierte sich zu dieser Zeit in der deutschen Neonaziszene und sein geplanter Auftritt in der Nibelungen-Buchhandlung kam überraschend, denn es war sein einziger bekannter Auftritt im Jahr 2000, der nicht in einem eindeutigen neonazistischen Kontext stattfand. Claus Nordbruch stammt aus Offenbach. Er war Angehöriger der Bundeswehr, wurde dort aufgrund neonazistischer Aktivitäten entlassen und wanderte 1986 nach Südafrika aus. Er war (und ist) ein großer Anhänger des damals noch herrschenden südafrikanischen Apartheid-Regimes. Im Jahr 2000 war er ein gefragter Redner und Gastgeber für deutsche Neonazis und lud, so beispielsweise in einem Interview 1999 im Magazin von Blood & Honour Deutschland, deutsche Neonazis auf sein Farm-Gelände in Südafrika ein. Dieses Angebot nutzten – soweit bekannt - Neonazis aus B&H-Zusammenhängen in Thüringen und Sachsen-Anhalt sowie Neonazis des Thüringer Heimatschutzes (THS), darunter mehrere Personen aus dem Unterstützungskreis der untergetauchten Zschäpe, Mundlos und Böhnhardt. Verbunden waren die Südafrika-Besuche der B&H- und THS-Neonazis mit paramilitärischen Trainings.

Mindestens in den Jahren 2000 bis 2003 war Nordbruch während seiner Deutschland-Aufenthalte in Dietzenbach (Landkreis Offenbach) gemeldet.

Veranstalter der geplanten Nordbruch-Veranstaltung am 4. Mai 2000 war die Frankfurter Ortsgruppe der Evangelischen Notgemeinschaft in Deutschland (ENID), einer weit rechts stehenden evangelikalen Organisation. Arno J., Betreiber der Nibelungen-Buchhandlung, war im Jahr 2000 ENID-Vorsitzender in Frankfurt.

Zwischen em evangelikalen Milieu des Rhein-Main-Gebietes und militanten Neonazis gab es zu dieser Zeit einige Verbindungen. Dies zeigt die Teilnahme von mehreren Personen einer evangelikalen Gruppe bei der Kundgebung der „Bürgerinitiative für unser Land” mit Horst Mahler am 2. August 1999. Eine Person dieser Gruppe stellte Strafanzeige gegen den Antifa-Referenten des AStA der FH, an diesem Tag als Teilnehmer der antifaschistischen Gegendemonstration eine Körperverletzung begangen zu haben. Die Beschuldigung war offensichtlich eine gezielte Diffamierung, der AStA-Aktive wurde in dem folgenden Strafprozess freigesprochen.

Fakt ist: Die Antifa verhinderte im Mai 2000 eine Veranstaltung mit Claus Nordbruch, der zu dieser Zeit für Kreise des B&H und des THS als „Stargast” auftrat. Der AStA der FH wurde von der hiesigen Neonaziszene für deren Verhinderung verantwortlich gemacht. All das spielte in der polizeilichen Bewertung des Mordanschlags auf Bastian bzw. des dem zugrunde liegenden Mordmotivs keine erkennbare Rolle. Es gab keinen erkennbaren Ermittlungsstrang in diese Richtung und kein erkennbares Interesse an einer diesbezüglichen Informationsgewinnung.

 


3. Was nun? – eine Bewertung


 

Diese Sammlung von Fakten über Aktivitäten militanter Neonazis im Frankfurter Raum und deren Affinitäten zum „Untergrund” ist bei Weitem unvollständig. Alle relevant erscheinenden Kontakte, Verbindungen und Verästelungen zu erzählen, die beim Mordanschlag auf Bastian, Ulrike und ihr Baby eine Rolle gespielt haben könnten, würde ein ganzes Buch füllen und zudem den Blick auf das Wesentliche verstellen. Wenn auch unser Wissen um hiesige Neonazistrukturen in dieser Zeit „viel” erscheinen mag, es reicht nicht aus, um eine klare These auszuarbeiten, wer Bastian umbringen wollte und fast eine ganze Familie getötet hätte.

Doch eines ist deutlich: Es gab und gibt einen neonazistischen Untergrund in Hessen. Es gab und gibt Neonazis, die überaus gewalttätig agieren, die sich Waffen beschaffen, Wehrsportgruppen bilden, Konzepten und Labels des Combat 18 oder des „Leaderless Resistance” anhängen, Mord- und Vernichtungsphantasien entwickeln (siehe Anhang). Es kann niemanden verwundern, wenn einzelne von ihnen diese in Taten umsetzen. Es gab diese Neonazis 2000 in Frankfurt und es gab sie 2006 in Kassel, als Halit Yozgat ermordet wurde und die Mörder des NSU vermutlich von örtlichen TippgeberInnen oder HelfershelferInnen unterstützt wurden. Alle die, die sich heute als „Experten” gerieren, über diese Strukturen jedoch keine Kenntnisse haben bzw. diese nicht einzuschätzen wissen, haben nicht genau hingesehen, sich zu sehr auf die Angaben der Behörden und die Kooperation mit den Behörden verlassen und nicht verstanden, wie der Neonaziuntergrund seit vielen Jahren funktioniert.

Die Behörden des Landes Hessen betreiben Augenwischerei. Immer wieder verweisen sie darauf, dass das Land Hessen in den bundesweiten Statistiken über „rechtsextremistische Straftaten” am unteren Ende der Skala zu finden sei. Dies geschieht offenkundig um den Preis, dass sogar neonazistische Mordversuche bagatellisiert und verschwiegen werden. Die unzureichenden Ermittlungen des Frankfurter Staatsschutzes in dieser Sache beschreiben somit in Hessen eine Kontinuität. Es darf offensichtlich nicht sein, was nicht sein soll. (siehe: 4.8. „Vertuschen und Verschweigen hat Kontinuität in Hessen”)

Aus den vorausgegangenen Ausführungen zum Mordanschlag auf Bastian, Ulrike und ihr Baby ergeben sich viele offene Fäden, die nachermittelt werden müssen, und viele offene Fragen, die beantwortet werden müssen. Diese betreffen insbesondere die Ermittlungen des Frankfurter Staatsschutzes. Die zentralen Fragen sind:

  • Warum wurden die Ermittlungen so minimalistisch und offenkundig desinteressiert geführt?

  • Warum wurden die Ermittlungen bereits im Januar 2001 eingestellt?

  • Warum haben die Ermittler wesentliche Fakten, die ihnen durchaus bekannt waren, nicht in die Ermittlungen eingeführt?

  • Warum hat auch die Staatsanwalt daran mitgewirkt, einen derart eindeutigen Mordanschlag nicht als einen solchen zu bewerten?

Aus den Antworten auf diese Fragen können sich weitere Antworten (zum Beispiel auf die Frage nach „V-Leuten”) ergeben. Deswegen wird es schwer werden, einen tatsächlichen Aufklärungsprozess seitens der Behörden in Gang zu bringen, zumal derzeit auch kein öffentlicher Druck existiert.

Wir gehen davon aus, dass die Ermittlungen zum Mordversuch an Bastian, Ulrike und ihr Kind in Frankfurt im Jahr 2000 wieder aufgenommen werden müssen. Die Hoffnung, dass diese die TäterInnen ermitteln werden, ist gering. Niemand von uns hat die Illusion, dass in hessischen Behörden Kompetenz und Willen vorhanden sind, um diesen neonazistischen Mordanschlag aufzuklären.

Doch der Mordanschlag auf Bastian ist nicht vergessen und er wird von uns auch nicht vergessen werden. Wir recherchieren weiter.

 

Ein paar AntifaschistInnen aus Frankfurt, November 2015

 

Für Hinweise, Fragen und weitere Informationen sind wir verschlüsselt unter der Adresse recherche2000@riseup.net erreichbar. Der Schlüssel (0x68A3D767) liegt auf öffentlichen Schlüsselservern, oder wir schicken ihn auf Anfrage.

Fingerprint des Schlüssels: 8076 1977 E2CC 7DAA F85F E961 2C0A 0704 68A3 D767

 

 



 

Anhang

 


4. Weiterführende Informationen und Ausführungen


 

4.1. Der Kreis um den Frankfurter Rolf G. - JN-Ordnerdienst, eine paramilitärische Wehrsportgruppe und Verbindungen zum späteren NSU-Unterstützerkreis (1995 bis 1999)

 

Von 1995 bis 1999 war der Frankfurter Rolf G. eine exponierte Person der hiesigen Naziszene. G. war in der NPD und deren Jugendorganisation Junge Nationaldemokraten (JN) aktiv, hatte dort verschiedene Vorstandsfunktionen inne. Spätestens 1996 beteiligte sich G. am Aufbau militanter Gruppen. Er war Aktivist des bundesweiten Ordnerdienstes der JN und der NPD, in dem sich der militante Kern der Partei sammelte. G. nahm an Schulungen dieses Ordnerdienstes teil und band militante Neonazis aus dem Rhein-Main-Gebiet darin ein. Unter diesen befanden sich auch Personen, die sich später in B&H Südhessen und in der Gruppe White Unity organisierten.

1996 flog eine sechsköpfige Wehrsportgruppe im Rhein-Main-Gebiet auf. Die Neonazis hatten in Wäldern im Aschaffenburger Raum in Kampfuniformen paramilitärische Übungen durchgeführt. Beteiligt waren Neonazis aus Frankfurt, Hanau, dem Aschaffenburger Umland und aus dem Rhein-Sieg-Kreis (Nordrhein-Westfalen), mit dabei: Rolf G. aus Frankfurt und der spätere B&H-Aktivist Lutz F. aus Hanau. Die Polizei ermittelte gegen diese Wehrsportgruppe, doch ein Prozess gegen die Teilnehmenden ist uns nicht bekannt. In jüngerer Zeit kristallisierte sich heraus, dass einer der Leiter dieser Wehrsportübungen, der heute noch als Neonazi aktiv ist, sehr wahrscheinlich schon seit vielen Jahren als Top-V-Mann für eine bayerische Sicherheitsbehörde arbeitet. (siehe: 4.6 „‘Wehrsport’ im Spessart 2003”)

Rolf G. nahm ab spätestens 1996 an vielen Aufmärschen und Treffen teil, festzustellen war er z. B. in Bayern, Niedersachsen, Rheinland-Pfalz, Thüringen und Nordrhein-Westfalen. Wiederholt war Rolf G. in Begleitung seines Wehrsport-Kameraden Lutz F. unterwegs. Intensive Kontakte unterhielt G. - das geht unter anderem aus uns vorliegenden Unterlagen von G. hervor - nach Thüringen, dort vor allem zum Neonazi Michael See in Leinefelde. See verbreitete um 1997, 1998 über seine Zeitschrift „Sonnenbanner” Untergrundkonzepte und nahm an Blood & Honour-Treffen teil. Im Rahmen der Untersuchungen des NSU-Komplexes wurde bekannt, dass Michael See als V-Mann „Tarif” seit den 1990er Jahren für den Verfassungsschutz spitzelte. See wird verdächtigt, Beate Zschäpe, Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt zumindest in der Anfangszeit ihres Untertauchens unterstützt zu haben. See selbst behauptet heute, dass die Entstehung des NSU hätte verhindert werden können, wenn die Behörden seine Hinweise aufgegriffen hätten und eingeschritten wären.

Ob Rolf G. und Lutz F. gar Kennverhältnis zu Zschäpe, Böhnhardt und Mundlos unterhielten, können wir nicht sagen. Zwar ist in den uns vorliegenden Unterlagen von G. mehrfach von „den Thüringern” die Rede, die zum Beispiel an von Rolf G. organisierten Reisen teilnahmen, doch es ist nicht klar, wer außer Michael See seine vorrangigen AnsprechpartnerInnen in Thüringen waren. Auf Treffen bei Michael See in Leinefelde (1997) oder der Hilfsgemeinschaft für nationale politische Gefangene und deren Angehörige HNG (1997) traf Rolf G. mehrfach mit Personen des späteren Unterstützungskreises der drei Untergetauchten zusammen. Beim Rudolf-Hess-Marsch 1996 in Worms lief G. in unmittelbarer Nähe zu der Jenaer Gruppe mit Beate Zschäpe und Uwe Mundlos. Das alles belegt keine engeren Kennverhältnisse zwischen ihm und dem (späteren) NSU. Doch es widerspricht nur an einem weiteren Beispiel manchen „Experten” und „Expertinnen” im NSU-Untersuchungsausschuss, die keine Verbindungen hessischer Neonazis ins das NSU-Umfeld feststellen können.

Rolf G. wohnte bis mindestens 1999 im Frankfurter Nordend, wenige hundert Meter von der Fachhochschule entfernt. Ab 1998 zog sich G. aus der Öffentlichkeit zurück, seit 1999 ist er für uns auf Aufmärschen und in Gruppenfunktionen nicht mehr feststellbar. Die Szene hat er jedoch bis mindestens 2006 nicht verlassen. Noch 2006 (mutmaßlich auch noch später) war er Mitglied der HNG. Als sich nachfolgend des „Rudolf-Hess-Marsches” 2004 im bayerischen Wunsiedel die Teilnehmenden aus dem Rhein-Main-Gebiet zur Abreise sammelten, befand sich auch Rolf G. unter ihnen. Doch er war nicht mit ihnen angereist und konnte auch nicht als Teilnehmer des Aufmarsches festgestellt werden.

Fakt ist: Rolf G. war (ist?) ein Neonazi, der in örtlicher Nähe zur FH wohnte, der Kontakte zu terroristisch ambitionierten Neonazis in Thüringen unterhielt, an paramilitärischen Trainings teilnahm und Ende der 1990er Jahre polizeilich wegen „terroristischer Aktivitäten” kategorisiert war. Nach unseren Erkenntnissen ist er nicht ein einziges Mal Gegenstand der Ermittlungen zum versuchten dreifachen Mord in Frankfurt im Jahr 2000 gewesen. Die ermittelnden Beamten haben, so scheint es, ihn und seine Strukturen vollkommen ignoriert.

 

4.2. Die „Turner Diaries” und andere Untergrundkonzepte, die Neonazis der Nationalen Kameradschaft Frankfurt 2004 aufmerksam gelesen haben

 

Die Verfasstheit einiger Frankfurter Neonazis lässt sich in den Jahren 2003 bis 2005 unter anderem über das interne Forum des neonazistisches „Freien Widerstandes” nachvollziehen. Dort tauschten sich bis zur Einstellung des Forums 2005 in einem vermeintlich geschützten Rahmen über 600 Neonazis überwiegend aus Deutschland über private Belange, politische Themen und Aktionsformen aus.

Diskussionen, die mehrere Neonazis aus dem Raum Frankfurt dort einbrachten, strotzen vor rassistischen Vernichtungsphantasien und zeugen von genauen Kenntnissen über Konzepte des Untergrundes und des „Leaderless Resistance”. Diese darüber kommunizierenden Neonazis gaben sich zum Teil als Angehörige der Nationalen Kameradschaft Frankfurt (NKF) zu erkennen und nennen u. a. Frankfurt und Grävenwiesbach als ihre Wohnsitze. Auch wird klar, dass diese die Bücher „Turner Diaries” und „Hunter” gelesen haben. (Zu Turner Diaries siehe: 1.3. „Das Jahr 2000 - Angriffe, Anschläge und Untergrundkonzepte”).

Der Autor des Romans „Hunter”, ein amerikanischer Neonazi, beschreibt sein Buch als „educational” - es soll einen erzieherischen, bildenden Wert für die Lesenden haben. „Hunter” erzählt die Geschichte eines US-amerikanischen Rassisten und Antisemiten, der als „Lone Wolf” und Feierabendterrorist Morde und Anschläge gegen Juden und Jüdinnen, Schwarze und „Verräter der weißen Rasse” begeht. Der Roman greift in weiten Teilen die Geschichte des US-amerikanischen Serienmörders Joseph Paul Franklin auf, der zwischen 1997 und 1980 insgesamt 20 rassistisch motivierte Morde, 16 Banküberfälle und zwei Bombenattentate auf jüdische Synagogen begangen hatte, zum Tode verurteilt und 2013 hingerichtet wurde.

Das Buch „Hunter” war zu dieser Zeit eine Art Geheimtipp in der deutschen Neonaziszene, es war schwer erhältlich und liegt erst seit 2009 in deutscher Übersetzung vor. Neonazis der NKF haben diesen englischsprachigen Roman – das wird aus ihren Diskussionen deutlich – vollständig gelesen und setzten sich mit den dort beschriebene Aktionsformen intensiv auseinander. Die Zitate aus ihren Diskussionen sind kaum zitierfähig. Ein Angehöriger der NKF schreibt zur Hochzeit von Heidi Klum mit dem schwarzen britischen Sänger Seal: „Wo ist eigentlich mal ein Joseph Paul Franklin, wenn man ihn braucht??”

Von den rassistischen Mord- und Vernichtungsphantasien der Frankfurter Neonazis 2004 und 2005 lässt sich natürlich kein direkter Bogen zum neonazistischen Mordanschlag in Frankfurt im Jahr 2000 spannen. Doch die Diskussionen in diesem Forum verdeutlichen zumindest, dass neonazistische Untergrundkonzepte und Anleitungen zu Morden in der Frankfurter Szene um 2004 kursierten und von einzelnen Frankfurter Neonazis sehr aufmerksam aufgenommen wurden.

 

4.3. Das Milieu der Blood & Honour-Sektion Südhessen um 2000

 

Das Netzwerk Blood & Honour darf nicht als homogene Organisation gesehen werden. Tatsächlich existierten unter diesem Dach unterschiedliche Zusammenhänge, die sich oft uneins waren, ob B&H nun als „politische Kampfgemeinschaft” zu formieren sei oder ob B&H hauptsächlich als Label taugte, um Rechtsrock zu vermarkten. Der harte (politische) Kern schuf das Label Combat 18 als einen „bewaffneten Arm von Blood & Honour”. Es gab wohl nie eine bundesweite „autorisierte” Struktur von Combat 18, doch Combat 18 etablierte sich als ein Label für den bewaffneten Untergrund bzw. für die, die vorgaben, Teil eines Untergrundes zu sein und das Kürzel C18 als Drohgebärde gegen politische Gegner*innen nutzten.

B&H war 1995 von England nach Deutschland importiert worden. Schon kurz nach Gründung des deutschen B&H kam es zu Zerwürfnissen und Spaltungen zwischen den deutschen B&H-Sektionen. Im Rhein-Main-Gebiet organisierte sich B&H in der „Sektion Südhessen”. Diese stand unter der Direktive des einflussreichen B&H Scandinavia bzw. von Combat 18 Dänemark. Das skandinavische B&H / Combat 18 stellte nicht nur eine maßgebliche Struktur zur Produktion und Verbreitung von neonazistischer Propaganda. Seine Aktivisten werden auch für etliche Anschläge auf Linke in Skandinavien verantwortlich gemacht. Ein schwedischer B&H-Aussteiger berichtete 2012 der Presse, ein führender B&H-Exponent habe ihm gegenüber angedeutet, dass seine Gruppe einen – bis heute unaufgeklärten - Mord an einem Antifaschisten in Kopenhagen 1992 begangen habe.

Zentren der B&H-Sektion Südhessen waren zunächst Offenbach und Rodgau. Mitglieder fanden sich darüber hinaus im Raum Wiesbaden, im Raum Dieburg und um das Jahr 2000 insbesondere im Main-Kinzig-Kreis. Führende Personen der B&H-Sektion Südhessen waren:

  • Alexander H. aus Mühlheim (bei Offenbach), geboren 1973, Leiter der Sektion Südhessen und Anhänger des Combat 18

  • Claus Z. aus Maintal, Mitglied von B&H und zugleich eine führende Person der bis ca. 2000 bestehenden Kameradschaft Frankfurt

  • Andreas R. aus Maintal, geboren 1973, galt als rechte Hand von Claus Z. und vertrat die B&H-Sektion Südhessen auf bundesweiten Treffen

  • Lutz F. aus Hanau, geboren 1969, war aus der paramilitärischen Struktur des Ordnerdienstes der Jungen Nationaldemokraten zu B&H gestoßen

Die Frankfurter Rundschau verweist in ihrem Artikel über den Mordanschlag in Frankfurt im Jahr 2000 insbesondere auf Alexander H., der die B&H-Sektion Südhessen bis zum B&H-Verbot im September 2000 leitete. Seit 1998 ist uns Alexander H. als Vertreter eines politisch radikalen Flügels innerhalb von B&H bekannt. Ein ehemaliger Blood & Honour-Funktionär, der mit Alexander H. in den Jahren 1999 und 2000 zu tun hatte, beschreibt ihn als einen „hundert Prozent politischen” Aktivisten, der auf Partys unvermittelt die Rockmusik ausdrehte, um flammende Reden über den „politischen Kampf” zu halten, und der im internen Kreis davon gesprochen habe, „so etwas wie Combat 18” im Rhein-Main-Gebiet „aufziehen” zu wollen.

Wohl war Alexander H. und „seine” B&H-Sektion Südhessen bis 1998 eng mit der Struktur um den Offenbacher Neonaziladen CD-Room verbunden, doch die Kreise waren nicht identisch. Alexander H. vertrat zusammen mit Andreas R. aus Maintal B&H Südhessen im bundesweiten Zusammenhang. Besonders eng waren seine Kontakte nach Oberfranken, Chemnitz und zu B&H in Thüringen, wo er mehrfach auf Veranstaltungen festgestellt wurde. Seine guten Kontakte nach Thüringen lassen sich noch viele Jahre nach dem B&H-Verbot feststellen. Im August 2004 fuhr ein vollbesetzter Reisebus von Neonazis aus dem Rhein-Main-Gebiet ins bayerische Wunsiedel zum damals stattfindenden Rudolf-Hess-Gedenkmarsch. In dem Bus saßen Personen der Freien Nationalisten Rhein-Main, der Nationalen Kameradschaft Frankfurt (NKF, nicht zu verwechseln mit der bis ca. 2000 existierenden Kameradschaft Frankfurt um Claus Z.) und der Kameradschaft Schwarze Division Germania, unter ihnen Sören B. aus Taunusstein. Alexander H. reiste mit diesem Kreis an, lief aber auf dem Aufmarsch in einer Gruppe Thüringer Neonazis u. a. aus dem Raum Jena, die trotz des bestehenden B&H-Verbotes als B&H Thüringen auftraten.

Die guten Kontakte von B&H Südhessen nach Franken zeigten sich auch darin, dass zwei Aktive von B&H aus dem Nürnberger Raum um das Jahr 2000 nach Mömlingen und Rödermark zogen, wo sie in Post-B&H-Strukturen aktiv wurden, und dass der Maintaler Andreas R. aus der Führungsebene der B&H-Sektion Südhessen um das Jahr 2000 für einige Jahre nach Nürnberg zog, wo er sich in Kreisen des hiesigen (Post-)Blood & Honour und der Rockergruppe Hells Angels bewegte. Ca. Mitte der 2000er Jahre zog Andreas R. ins Rhein-Main-Gebiet zurück.

Personell war B&H Südhessen mit den damals existierenden neonazistischen Kameradschaften in Frankfurt und Taunusstein verzahnt. So gedachten die Kameradschaft Frankfurt, die Kameradschaft Taunusstein und B&H Südhessen 1998 gemeinsam des fünfjährigen Todestages des englischen B&H-Begründers Ian Stuart Donaldson, der 1993 bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen war. Mehrere Personen standen in Personalunion mit B&H und einer dieser Kameradschaften.

 

4.4. Blood & Honour Offenbach um 2000

 

Im Offenbacher Stadtteil Bieber war das Ladengeschäft CD-Room, später umbenannt in Wayward, Kristallisationspunkt der hiesigen B&H-Struktur. In den späten 1990er Jahre spaltete sich die B&H-Sektion Südhessen und der Kreis um den CD-Room trat zunehmend als „Blood & Honour Offenbach” auf. Zum Kern der Offenbacher B&H-Struktur zählte unter anderem der 1967 geborene Michael H. Er ist seit 1986 als organisierter Neonazi bekannt, diente nach unseren Informationen Anfang der 1990er Jahre als neonazistischer Söldner im Bürgerkrieg in Ex-Jugoslawien. Von Offenbach aus versuchte H. um das Jahr 1998 über den Versand „Brutal Attack-Services” die englische B&H-Band Brutal Attack zu vermarkten. Der Frontmann der Band Brutal Attack, Ken McLellan, galt bei den englischen Behörden zu dieser Zeit als führender Kopf des britischen Combat 18. Aber nicht nur Ken McLellan war mehrfach Gast in Offenbach. Unter anderem durch die antifaschistische Kampagne „Weg mit dem rechten Sounddreck” geriet der CD-Room unter Druck und Michael H. musste seinen Versand „Brutal-Attack Services” um das Jahr 2000 einstellen.

Intensive Beziehungen unterhielten die Offenbach B&H-Leute insbesondere zu Blood & Honour in Chemnitz. Häufig wurden Chemnitzer Neonazis in Offenbach festgestellt, bei einer antifaschistischen Demonstration gegen den CD-Room 1999 reisten nach unserem Kenntnisstand über ein Dutzend Chemnitzer Neonazis zum Schutz des Ladengeschäftes an. Unter den Chemnitzer Neonazis, die zu dieser Zeit diese Beziehungen zu den Offenbacher B&H-Leuten unterhielten, waren Personen, die just zu dieser Zeit dem engeren Unterstützungsnetzwerk der untergetauchten Zschäpe, Böhnhardt und Mundlos angehörten. Dies sind keine geheimen Informationen: Entsprechende Fotos, Berichte und Grußlisten, die die B&H-Verbindung Offenbach-Chemnitz belegen, finden sich in einigen B&H-Zeitschriften, die damals von Offenbacher Neonazis herausgegeben wurden. Dies ist nur ein weiteres Beispiel für enge Verbindungen hessischer Neonazis ins Umfeld des (späteren) NSU, die es lt. der Behörden-„Experten” im NSU-Untersuchungsausschuss nie gegeben haben soll.

 

4.5. Die White Unity ab 1999

 

In den internen Kämpfen um Marktanteile im Rechtsrock-Business und um die Hoheit über das Label Combat 18 hatte B&H Scandinavia seine (deutschen) Claims – soweit bekannt - in Thüringen, Niedersachsen, im Raum Hamburg, im Raum Dortmund, in Oberfranken und in Südhessen abgesteckt. Zur Wahrung der Interessen dieses B&H-Flügels formierte sich eine Struktur, die zeitweise unter dem Namen Strikeforce agierte und militant gegen szeneinterne Konkurrenten vorging. Aus dieser Strikeforce bildete sich 1999 die Gruppe White Unity (WU). WU war eine Schlägertruppe und Vorfeldorganisation von B&H und stellte nach dem Verbot von B&H im Jahr 2000 eine Struktur, in der Teile des B&H weitergeführt wurden. Um 2003 unterhielt WU auch kurzlebige Sektionen in Thüringen und München.

Zentrum von WU war (und ist) die Kleinstadt Mömlingen, 50 km entfernt von Frankfurt im bayerischen Landkreis Obernburg gelegen. Hier konnte WU schalten und walten, ohne von antifaschistischen Strukturen oder Behörden wirksam gestört zu werden. Selbst als bei einer bundesweiten Razzia gegen B&H-Nachfolgestrukturen 2006 bei einem Anführer der WU eine scharfe Schusswaffe gefunden wurde, hatte dies wenig Konsequenzen. Ein Prozess oder eine Verurteilung der Person ist nirgendwo vermerkt.

 

4.6 „Wehrsport” im Spessart 2003

 

In der Lotta – Antifaschistische Zeitung aus NRW, Rheinland-Pfalz und Hessen (Nr. 46) erschien im Winter 2011 der Artikel „Stets zu Diensten”, in dem der Autor Stephan Rauch unter der Überschrift „Der Fall Heimbuchental” über die fehlgeschlagenen Ermittlungen gegen eine von Frankfurter Neonazis dominierte Wehrsportgruppe im Jahr 2003 berichtet:

 

Mit acht PKW reisten am 28. September 2003 Neonazis der militanten Neonazigruppe Freie Nationalisten Rhein-Main aus dem Raum Frankfurt zu einem Wehrsportlager nach Unterfranken nahe Heimbuchenthal im Spessart. Auf dem Programm standen „Befehlsausgabe”, „Marsch- und Orientierungsübungen” sowie Schießübungen mit einer Präzisionsschleuder. Die Polizei löste das Lager auf und leitete gegen die zum Großteil uniformierten Neonazis Ermittlungsverfahren ein, unter anderem wegen des Verstoßes gegen das Waffen-, das Sprengstoffgesetz und wegen Bildung bewaffneter Haufen. Jahrelang schleppten sich die vom Frankfurter Staatsschutz angestrengten Ermittlungen hin, bis sie sang- und klanglos eingestellt wurden. Der (selbstverständlich nicht öffentlich gemachte) Grund: Die bayerischen Behörden hatte ihre Zuarbeit verweigert. Ein Teilnehmer des Lagers stand zu dieser Zeit offenkundig im Dienste des bayerischen Verfassungsschutzes (VS) und sollte durch eine Anklage nicht kompromittiert werden. Die Freien Nationalisten Rhein-Main wuchsen zur tonangebenden Nazigruppe im Großraum Rhein-Main heran. 2006 übernahmen sie den Landesverband der NPD in Hessen, der nun verstärkt militante Kameradschaften einband und darüber neue Dynamik entwickelte.

 

Der Teilnehmer des Lagers, der zu dieser Zeit offenkundig für Behörden spitzelte, ist identisch mit einer Person, die schon 1996 in der unter 4.1. beschriebenen Wehrsportgruppe um den Frankfurter Rolf G. aktiv war.

 

4.7. Der Waffenfund in Taunusstein am 22. September 2000

 

Am 22.09.2000 wurden bei einer polizeilichen Hausdurchsuchung bei einem damals 26-jährigen Neonazi in Taunusstein eine gebrauchsunfähige Maschinenpistole, ein gebrauchsunfähiger Karabiner sowie scharfe Munition gefunden. Die Razzia geschah im Rahmen eines Ermittlungsverfahren gegen zwei bekannte Neonazis aus der militanten Kameradschaftsszene in Berlin. Uns ist (noch) nicht bekannt, bei wem die Waffen gefunden wurden. Sören B. war es offensichtlich nicht, da er 1972 geboren ist. Es gab zu dieser Zeit in Taunusstein mehrere militante Neonazis, die in das Altersraster passen. Es ist nicht bekannt, wie diese Berlin-Taunusstein-Verbindung zustande kam, ob gegen weitere Personen und Strukturen aus dem Rhein-Main-Gebiet ermittelt wurde und ob diese Ermittlungen zu Prozessen und Verurteilungen führten. Es ist auch nicht bekannt, in welcher Beziehung die Person, bei der die Waffen gefunden wurden, zu Sören B., der Kameradschaft Taunusstein und der Schwarzen Division Germania stand. Der Waffenfund keine drei Wochen nach dem Mordanschlag auf Bastian ist jedoch ein weiterer (von den Behörden vernachlässigter) Hinweis auf das Bestehen militanter, bewaffneter Neonazistrukturen in Taunusstein, dem damaligen Wohn- und Aktionsort von Sören B.

 

4.8. Vertuschen und Verschweigen hat Kontinuität in Hessen

 

Wir schreiben, dass die unzureichenden Ermittlungen des Frankfurter Staatsschutzes zum Mordanschlag auf Bastian, Ulrike und ihr Baby keine Ausnahme sind, sondern in Hessen Kontinuität aufweisen. Diese Behauptung lässt sich durch viele Beispiele belegen. Ein Beispiel hierfür ist der „Fall Mitlechtern”. In der Lotta – Antifaschistische Zeitung aus NRW, Rheinland-Pfalz und Hessen schreibt Stephan Rauch im Winter 2011 in dem Artikel „Stets zu Diensten”:

 

Am 5. November 2005 überfielen zirka 20 Neonazis aus Kreisen der Division 28 und der White Unity, die sich als »Erbfolge« des 2000 in Deutschland verbotenen Neonazinetzwerkes Blood & Honour verstehen, ein Rechtsrock-Konzert der neonazistischen Kameradschaft Nibelungensturm in Mitlechtern (Südhessen). Hintergrund des Überfalls war, dass Mitglieder des Nibelungensturms den Führungsanspruch der Division 28 in der Szene nicht anerkannten und sich von der Division 28 keine »Erlaubnis« zur Durchführung des Konzertes eingeholt hatten. Der Überfall war brutal. Besucher_innen wurden mit Messern und abgebrochenen Bierflaschen in Schach gehalten, während der Konzertveranstalter mit einem Totschläger ins Krankenhaus geprügelt wurde. Shirts des Nibelungensturms wurden „eingezogen” und die Eintrittskasse geraubt. Der Überfall wurde Monate später von Antifaschist_innen präzise beschrieben, die Informationen waren in einer gehackten neonazistische Internetplattform gefunden worden. Die Behörden hatten bis dato geschwiegen. Das Landeskriminalamt (LKA) ermittelte nun und die Delikte erschienen schwerwiegend – ein gemeinschaftlicher, bewaffneter und geplanter Raubüberfall plus versuchten Totschlag. Das LKA erhielt in Vernehmungen von mehreren Neonazis detailliert Auskünfte, die die Täter schwer belasteten. Auch ein anwesender V-Mann des hessischen Verfassungsschutzes, der zu dieser Zeit (gut bezahlt vom VS) in der Führungsebene der Gruppe Combat 18 Südhessen aktiv war, hatte den Überfall hautnah erlebt und sein Wissen an die Behörde weitergegeben. Doch der Anführer des Überfalls, ein bekannter »alter« Blood & Honour-Aktivist aus Rheinland-Pfalz, war nur kurz in Polizeigewahrsam und dann geschah nichts mehr. Erst 2011 kam heraus, dass die Staatsanwaltschaft Darmstadt das Verfahren still und leise, selbst für den Anwalt eines beschuldigten Neonazis »völlig überraschend«, eingestellt hatte. Die Chance, Neonazis aus dem militanten Kern der Blood & Honour-Nachfolgestrukturen für längere Zeit aus dem Verkehr zu ziehen, war auf dem Silbertablett serviert worden. Doch sie wurde nicht ergriffen.

 

In Mitlechtern geschah 2005 nur eine weitere von Neonazis verübte schwere Straftat, die für die TäterInnen keine juristischen Konsequenzen hatte und in keine entsprechende Statistik der hessischen Behörden einging.

 


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