Umgang mit sexualisierter Gewalt durch das Ract! Festival Tübingen

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Hiermit veröffentlichen wir ein Schreiben, was zuerst direkt an das Tübinger Ract! Festival ging. Wir thematisieren darin den Umgang des Ract! mit sexualisierter Gewalt. Im Anschluss an Diskussionen über Täterschutz in linken Strukturen, halten wir die Veröffentlichung für wichtig, da der Umgang des Ract! kein Einzelfall ist. Wir wünschen uns einen solidarischen Umgang mit diesem Schreiben.

Hiermit veröffentlichen wir ein Schreiben, was zuerst direkt an das Tübinger Ract! Festival ging. Wir thematisieren darin den Umgang des Ract! mit sexualisierter Gewalt. Im Anschluss an Diskussionen über Täterschutz in linken Strukturen, halten wir die Veröffentlichung für wichtig, da der Umgang des Ract! kein Einzelfall ist.

Wir wünschen uns einen solidarischen Umgang mit diesem Schreiben.

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Liebes Ract-Team!

Wir wenden uns mit diesem Schreiben an euch, um den verheerenden Umgang
mit sexualisierter Gewalt in euren Reihen zu thematisieren.
Ziel dieses Schreibens ist es, einen politischen Umgang mit den
Vorfällen zu finden und gleichzeitig die Handlungsfähigkeit betroffener
Personen zu fördern.
Wir veröffentlichen es, da wir eine allgemeine Auseinandersetzung mit
dem Passierten und der Thematik forcieren wollen.

Ihr, das Ract!-Festival seid eines der größeren politischen
Umsonst&Draußen Festivals in Deutschland. Laut euren eigenen
Selbstansprüchen stellt ihr euch unter anderem gegen jegliche Form von
Sexismus, Rassissmus und Nationalismus.
So zählt ihr zu euren Partner*innen unter anderem die Anlaufstelle
sexualisierte Gewalt in Tübingen für Frauen*Männer (AGIT) und es gibt
auf dem Festival seit einigen Jahren eine Awareness-Struktur.

Entsprechend wird das Ract! jedes Jahr von einer Anzahl linker Projekte
in Tübingen und darüber hinaus unterstützt. Dies geht von materieller
und organisatorischer Unterstützung bis zum Anbieten von Räumen für
Soli-Partys und Schlafplätze für Arbeitende.

Zu den Geschehnissen:

Im Spätsommer 2019 wurde euer Plenum darüber informiert, dass eine
Person aus euren engen Orga-Strukturen gegenüber einer anderen Person
(außerhalb dieser Strukturen) sexualisierte Gewalt ausgeübt hat. Dies
wurde von Unterstützer*innen der betroffenen Person an euch
herangetragen.

Die Forderung lautete, die gewaltausübende Person vorerst aus den
Orga-Strukturen auszuschließen. Auch wurden Hausverbote in mehreren
Wohnprojekten ausgesprochen, damit die betroffene Person diese Orte
aufsuchen kann und nicht mit der Anwesenheit der gewaltausübenden Person
rechnen muss. Schließlich sollte ihre Bewegungsfreiheit nicht
eingeschränkt werden.

Zunächst seid ihr auf diese Forderung auch eingegangen und habt die
gewaltausübende Person aus eurer Struktur vorerst ausgeschlossen. Im
Oktober 2020 sollte dann erneut über den Umgang mit dem Vorfall
entschieden werden. Diesen ersten Schritt begrüßten wir als
Unterstützer*innen der betroffenen Person sehr!

Dennoch ist die gewaltausübende Person nach kurzer Zeit wieder in die
inneren Strukturen aufgenommen worden. Die offizielle Begründung in
Bezug auf die Wiederaufnahme war, dass es keine Beweise für die Tat gäbe
und man Neutralität bewaren müsse. Sich darauf zu berufen,dass es keine
Beweise gäbe, stellt aber keine Neutralität dar. Damit wird aktiver
Täterschutz betrieben. Die gewaltausübende Person bekommt ihren
Platz wieder und muss sich nicht mit ihrem Verhalten auseinandersetzen.
Außerdem stellt diese Aussage die Perspektive der betroffenen Person
komplett in Frage.

Die Entscheidung der Wiederaufnahme fiel außerdem ohne die
Unterstützer*innen der betroffenen Person in Kenntnis zu setzen. So
zeigt ihr, dass ihr sexualisierte Gewalt nicht ernst nehmt, gar
verleugnet und keine Verantwortung übernehmen wollt, wenn Personen aus
euren eigenen Reihen sexualisierte Gewalt ausüben. Für uns bedeutet das,
dass die Stimme der betroffenen Person (die über die Unterstützer*innen
getragen wurde), bei dieser Entscheidung nicht gehört werden wollte.
Gleichzeitig wurden Teile der Unterstützer*innen der Betroffenen letzten
Sommer sogar persönlich angegangen und von Ract! Plena ausgeschlossen.
So wurde ein adäquater Austausch eurerseits verhindert. Die
Unterstützer*innengruppe sah sich gezwungen, unter anderem schriftlich
ein Statement zu verfassen. Dieses sollte den Vorwürfen ihnen gegenüber
begegnen und bestenfalls eine Klärung herbeiführen. Dieses Statement
konnte einige Missverständnisse klären und es schien so, als hättet ihr
Verständnis für das Anliegen der Unterstützer*innen Gruppe gehabt. Dass
die gewaltausübende Person nun doch wieder Teil der inneren Strukturen
ist, können wir kaum fassen.

Dabei möchten wir noch mal betonen:
Wir sehen generell die Lösung nicht in permanenten Ausschlüssen und
erachten Ansätze wie transformative justice oder community
accountability als weitaus sinnvoller. (Infos darüber weiter unten im
Text)
Allerdings wird im konkreten Fall nicht auf die Wünsche der betroffenen
Person gehört. Mit der Betroffenen parteiische Personen werden
konsequent ausgeschlossen und der Vorfall somit banalisiert. Wir halten
das für kein Umfeld, in dem diese Ansätze aktuell angewandt werden
können.

Bei einem anderen Fall von sexualisierter Gewalt während des Festivals
vor einigen Jahren wurde beispielsweise sofort reagiert und
durchgegriffen. Hierbei handelte es sich um eine Person, die nicht Teil
der engeren Orga-Strukturen war. Es ist nun sehr verwunderlich, dass das
Vorgehen, wenn es sich um eine Person der engeren Orga-Struktur handelt,
ganz anders ist!

Des Weiteren haben wir immer wieder von Vorfällen sexistischer
Machtausübung aus euren Reihen mitbekommen. So werden gerne mal junge
Mädchen umsonst auf Aftershow-Parties gebracht, um sich dadurch
letztendlich mehr von ihnen zu erhoffen. Auch ist es wohl ein Spiel
unter den Helferkoordinatoren, sich darüber auszulassen, welche Helferin
man sich schon "angeln" konnte. Diese Form von Sexismus und
Machtausübung müsst ihr dringend thematisieren, wenn ihr euren eigenen
Ansprüchen gerecht werden wollt.

Einordnung:

Bei Vorfällen von sexualisierter Gewalt ist es grundsätzlich wichtig,
die betroffene Person ernstzunehmen und sie in Entscheidungen
miteinzubinden und zu informieren. Diese Chance habt ihr leider nicht
wahrgenommen. Stattdessen wurde nur die gewaltausübende Person gehört,
mit dem Ergebnis, diese wieder aufzunehmen. Wir ordnen dieses Vorgehen
als verharmlosend dem gegenüber ein, was die betroffene Person erfahren
musste. Auch eurem Wunsch genauer wissen zu wollen, was direkt passiert
ist, können wir nicht nach gehen. Das ist einzig und allein Sache der
betroffenen Person, ihre Privatsphäre muss geschützt werden. Es tut auch
nicht zur Sache, was genau im Detail vorgefallen ist. Die Frage danach,
was „wirklich“ passiert ist, setzt außerdem voraus, dass es eine
objektive Realität gibt. Doch sexualisierte Gewalt wird aufgrund der
persönlichen Geschichte, Gegenwart und Erfahrung von Betroffenen
unterschiedlich erlebt, eingeordnet und eingeschätzt. Wenn eine
Betroffene einen sexualisierten Übergriff als solchen bezeichnet, dann
entspricht das ihrer Wahrnehmung und ist genauso zu akzeptieren. Ihr
wisst Bescheid über die Art der Gewalt, welche ausgeübt wurde und mehr
ist nicht nötig, um sich damit auseinander zu setzen und entsprechend zu
reagieren.

Forderungen:

Wir wollen und können dieses Verhalten nicht tolerieren und fordern
daher das Ract! Festival auf, die eigenen Strukturen grundlegend zu
überdenken. Es muss eine ernsthafte und transparente Auseinandersetzung
mit den Geschehnissen passieren.
Eine langfristige Begleitung, wie beispielsweise durch Supervision oder
professionelle Beratungsstellen, sind deshalb dringend notwendig.
Hierbei ist notwendig, dass ihr euch unter Anderem Gedanken über
Parteilichkeit, Definitionsmacht und Transformative Justice macht.

Infos dazu findet ihr hier:

- https://www.transformativejustice.eu/en/was-heist-verantwortungsubernahme/

- http://defma.blogsport.de/material/

Wir fordern, dass Verantwortung übernommen wird und diesen sexistischen
Zuständen eine kritische Auseinandersetzung entgegengebracht wird. Wir
wünschen uns somit auch, dass Menschen oder Gruppen, die das Ract!
anderweitig unterstützen, sich unseren Forderungen anschließen.

Außerdem fordern wir alle Mitlesenden dazu auf, keine Gerüchte zu
verbreiten und die Privatsphäre der Betroffenen zu schützen!

Abschließend ist zu sagen...

Es geht uns nicht ausschließlich darum, das Ract! Festival an den
Pranger zu stellen.
Uns ist wichtig, dass sexuelle Übergriffe nicht im Geheimen bleiben und
ein angemessener Umgang damit stattfindet.
Wenn das gelingt, ist dieses selbstverwaltete und selbstgestaltete
Projekt auch zukünftig wieder unterstützenswert.
Hierfür solltet ihr als Ract!-Orga dieses Schreiben ernst nehmen und
ganz genau hinschauen, inwiefern eure Strukturen sexistisch und
antifeministisch sind.

Schwarz-Roter-Ring
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