Bericht des ersten Prozesstages zu #le0907

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Prozessbericht zu den Ereignissen in der Hildegardstraße am 09.07.19

1. Tag

Am 06.01.20 wird das Verfahren am Amtsgericht in Leipzig gegen zwei Angeklagte eröffnet, denen vorgeworfen wird, bei einer Demonstration Flaschen und Steine auf Polizeibeamte geworfen zu haben. Der Angeklagte K., vertreten durch Rechtsanwalt Mucha und der Angeklagte B., vertreten durch Rechtsanwalt Engel, müssen sich vor Richter Weber, zwei Schöffenrichter*innen sowie Staatsanwalt Brückner verantworten.

 

Der Prozess wird von etwa 30 Interessierten verfolgt. Ein beachtlicher Teil gelangt aus Platzgründen nicht mehr in den Gerichtssaal. Jene, die einen Platz bekommen, müssen sich einer umfangreichen Kontrolle unterziehen.

 

Das Verfahren wird um 9.00 Uhr mit einer Schilderung des Geschehens durch Richter Weber eröffnet. Demnach versammelten sich am 09.07.19 zunächst etwa 30 Menschen in der Hildegardstraße, um gegen die Abschiebung eines Geflüchteten zu protestieren. Dem sei eine angemeldete Versammlung mit friedlicher Stimmung gefolgt, bis deutlich wurde, dass die Beamten den Geflüchteten bereits im Polizeiauto abtransportiert haben.

 

Als die Demonstrierenden die Straße nicht sofort verließen, kam es zu körperlicher Gewaltausübung durch die Polizei. Polizeibeamt*innen berichten daraufhin von Flaschen- und Steinwürfen seitens der Demonstrant*innen. Den beiden Angeklagten wird gefährliche Körperverletzung, schwerer Landfriedensbruch und Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte vorgeworfen, sowie dem Angeklagten B. Beleidigung. B. befindet sich seit 10.07.19 in Untersuchungshaft, der Angeklagte K. war etwa zweieinhalb Monate in Untersuchungshaft. Im Laufe der Nacht wurden elf Einsatzfahrzeuge beschädigt und elf Beamte verletzt. Bei den Verletzungen handelt es sich um Zerrungen, Schürfwunden, Hämatome, Schwellungen, Schnittverletzungen oder Schmerzen am kleinen Finger.

 

Richter Weber verweist direkt zu Beginn der Verhandlung auf einen BGH Beschluss vom 24.05.2017. Danach begründet bereits psychische Beihilfe im Sinne eines „ostentativen“ Mitmarschierens die Strafbarkeit wegen Landfriedensbruchs. Mit anderen Worten: Eine Anwesenheit am Tatort (z.B. Demonstration) könne unter Umständen schon zu einer Verurteilung führen, auch wenn keine strafrechtlich relevanten Handlungen vom Angeklagten selbst vorgenommen wurden.

 

Nach einer Pause folgt die Beweisaufnahme. Als Zeugen sind ausschließlich Polizeibeamte geladen, die während der Ereignisse vor Ort waren. Rechtsanwalt Mucha stellt einen Antrag, um die Polizisten als Zeugen auszuschließen. Durch das Mitteilen der Vorgangsnummer und dem damit einhergehenden Zugang zur polizeilichen Akte, seien Polizist*innen im Gegensatz zu nicht verbeamteten Zeug*innen privilegiert. Sie können sich in Aktenteile vor dem Prozess einlesen und vorbereiten.

 

Grundsätzlich sollen Zeug*innen vor Gericht aber unbeeinflusst von Angaben Dritter aussagen. Ziel sei es, die eigenen Erinnerungen der Erlebnisse hervorzurufen, was nicht mehr gewährleistet werden könne, sobald ein*e Zeug*in Kenntnis von der Akte habe. Daher seien Polizeibeamt*innen im Prozess kein zulässiges Beweismittel.

 

Ferner kennen sich die vor Gericht geladenen Polizist*innen. Sie sind Kolleg*innen und somit alle im „selben Lager“, weshalb sie voreingenommen seien und keine neutrale Aussage gewährleisten können.

 

Staatsanwalt Brückner lehnt ein absolutes Beweisverwertungsverbot von polizeilichen Zeug*innenaussagen ab. Eine differenzierte Bewertung von Beweisen hält er aber für zulässig, wenn sich ergäbe, dass sich die Polizeibeamten auf den Prozess vorbereitet haben. Der Widerspruch gegen die Vernehmung der Zeugen wird nach kurzer Besprechung mit den Schöff*innen durch Richter Weber zurückgewiesen, nachdem einer der beiden den Antrag zunächst annehmen wollte.

 

Der erste Zeuge, als Außendienstleiter (ADL) am Ort des Geschehens tätig, erscheint um 11.30 Uhr. Richter Weber geht kurz auf den Stimmungswechsel der Demonstration im Laufe des Einsatzes ein. Auf die Frage, wann die Würfe mit Steinen und Flaschen einsetzten, kann der Polizist nicht antworten. Seiner Einschätzung nach, löste sich die Menschenmenge nach dem Rückzug der Polizei ohne weitere Vorkommnisse auf. Staatsanwalt Brückner versichert sich, ob aus gemeinschaftlichen Rufen seitens der Demonstrant*innen auf einen Konsens der Menschenmenge geschlossen werden könne. Bei zahlreichen folgenden Nachfragen seitens der Verteidigung weiß der ADL den genauen Tathergang, sowie Details über den Ablauf des Polizeieinsatzes nicht mehr und verweist auf den Einsatzverlaufsbericht. So beantwortet er nicht, ob Bodycams im Einsatz waren, oder Platzverweise ausgesprochen wurden. Über potenzielle polizeiliche Tatbeobachter*innen macht er keine Angaben. Während der Aussage blickt der Zeuge mehrmals in seinen Sachbericht (den er selbst bis zum 15.07.19 schrieb). Als Einsatzdienstleiter habe er den die Verwendung von Reizgas nicht angeordnet. Den Befehl zur Räumung der Demonstration hingegen schon. Er äußert diesbezüglich, dass seine Kolleg*innen sich nach dem Wegdrängen von Personen (Räumung) „etwas Luft gemacht haben.“ Dass eine Personenbeschreibung der Tatverdächtigen über Funk zu hören war, schließt er aus. Auf Nachfrage, wie lange er an diesem Tag schon im Dienst gewesen sei, beruft er sich auf seine Aussagegenehmigungsbeschränkung. Bezüglich der Verletzungen von Beamt*innen ist ihm bis auf die verletze Schulter eines Kollegen nichts weiter im Gedächtnis geblieben. Seinen Angaben zufolge, hatten die Demonstrierenden 15 Minuten Zeit, um sich nach Beendigung der Versammlung vom Versammlungsort zu entfernen. Auf Nachfrage gab er an, dies gegenüber den Demonstrierenden nicht kommuniziert zu haben.

 

Bevor der Vernehmungsbeamte des Angeklagten K. als Zeuge spricht, rügt Rechtsanwalt Mucha die Beweisverwertung. Die Belehrung des Angeklagten K. durch den Polizeibeamten in der Tatnacht sei durch einen Dolmetscher erfolgt, der weder in die Muttersprache, noch in eine andere dem Angeklagten verständliche Sprache übersetze (dies erfordere u.a. die EMRK). Daraus folge, dass ihm die Möglichkeit eines fairen Verfahrens genommen worden sei. Der Dolmetscher soll weder vereidigt gewesen sein, noch fände man ihn im Internet als solcher. Über seine vorläufige Festnahme und die Möglichkeit der Beiordnung eines Pflichtverteidigers sei der Angeklagte nicht informiert worden. Eine Beiordnung durch die Staatsanwaltschaft fand zunächst nicht statt, was spätestens vor einer Befragung durch die Polizei als offensichtlich notwendig gelte. Richter Weber weist das Beweisverwertungsverbot zurück. Der Zeuge weist darauf hin, dass keine Anhaltspunkte für aufgetretene Schwierigkeiten in Zusammenhang mit der Belehrung und der Kommunikation mit dem Dolmetscher bestanden hätten.

 

Der dritte Zeuge ist Polizeiobermeister der Beweis- und Festnahmeeinheit. Aus eigenem Antrieb („Wir müssen ihn kriegen“) habe er sich von seiner Einheit entfernt und bei der Festnahme einer Person geholfen. Ob es sich dabei um einen der Angeklagten handelte, wisse er nicht. Er habe sein Gesicht nicht gesehen.

 

Eine mittels körperlicher Gewalt durchgeführte Festnahme zeigt Rechtsanwalt Engel in einem Twittervideo. Der Zeuge erkennt sich in der Situation nicht wieder. Auf die Frage, ob er von einem Gegenstand getroffen wurde, antwortete er mit den Worten „Bestimmt, aber nicht so dass ich verletzt wurde.“ Rechtsanwalt Mucha weist den Zeugen auf eine gegen ihn laufende Anzeige wegen einer Körperverletzung im Amt hin. Dieser gibt an, nichts davon zu wissen. Der Zeuge wird zu zwei vorliegenden Sachberichten befragt, an dessen Zustandekommen er sich im Detail nicht mehr erinnern kann. Auf näheres Nachfragen des Rechtsanwalts Mucha, reagiert Richter Weber mehrfach gereizt und nimmt Antworten mit dem Hinweis vorweg, der Zeuge habe diese Fragen schon beantwortet. Der Polizeiobermeister war nach eigenen Angaben Teil einer Kette, die die Straße für die Polizeifahrzeuge „befreite“. Erst in diesem Teil des Einsatzes sei es zur „Eskalation“ gekommen, dem Wurf von Flaschen und Steinen. Von den Verletzungen der Kolleg*innen erfuhr er erst im Nachhinein. Über die Anzahl und Arbeitsweise der polizeilichen Tatbeobachter*innen in Zivil machte er keine Angaben.

 

Der vierte und letzte Zeuge, Polizeimeister, wird durch Rechtsanwalt Mucha ebenfalls auf eine gegen ihn laufende Anzeige wegen gefährlicher Körperverletzung im Amt hingewiesen, von der er angibt, nichts zu wissen. Ferner beschreibt der Zeuge einen verfehlten Flaschenwurf. Auf Nachfrage der Staatsanwaltschaft bezüglich der Grundstimmung der Demonstration betont er mehrfach, die Gewalt sei lediglich von Einzelpersonen bzw. Teilen der Menge, nicht aber aus der Gesamtmenge hervorgegangen. Die werfende Person beschreibt der Zeuge als „männliche und ausländische Person“. Daraufhin legt Mucha den Anwesenden ein Foto vor, auf dem der Zeuge mit einem weiteren Polizeibeamten und Mitgliedern des „Imperium Fight Teams“, einer rechtsradikalen Kampfsportgruppe, zu sehen ist. Er stellt die Glaubwürdigkeit des Zeugen in Frage, da dieser mit Personen aus dem rechtsradikalen Umfeld verkehre und somit als Vertreter der Exekutive eine Gesinnung pflegt, die den demokratischen Grundprinzipien in weitestem Sinne widerspricht. Staatsanwalt Brückner und Richter Weber sehen darin keinen Widerspruch zur Glaubwürdigkeit des Zeugen. Letzterer entlässt den Zeugen unmittelbar und gibt seine ablehnende Haltung hinsichtlich der Glaubwürdigkeitsfrage kund, indem er einen Zusammenhang des Fotos mit dem Verfahren ausschließt.

 

Gegenüber den Zuschauer*innen äußerte der Richter zahlreiche Ordnungsrufe, die sich durch den ganzen Prozess zogen, sowie die Androhung eines Ordnungsgeldes.

 

Am späten Nachmittag endet der erste Prozesstag. Dieser wird am 24.01.20 fortgesetzt und durch einen dritten Termin am 17.02.2020 ergänzt.

 

Kritische Jurist*innen Leipzig und Solikomitee 1007

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