Thesen zu Antifaschistischem Schutz

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Seit einigen Monaten steht der Schutz antifaschistischer und anderer Veranstaltungen wieder vermehrt auf der Tagesordnung linksradikaler Politik. Dabei stellen sich auch Fragen zum Verhältnis von Schutz, Gewalt und Patriarchat. Wir dokumentieren folgend einen Zwischenstand unserer Diskussionen. Wir freuen uns über Gedanken & Feedback an schutzdebatte@riseup.net.

Als Antifaschist*innen reagieren wir auf die jeweiligen rechten Bedrohungen unserer Zeit und setzen diesen eine eigene Praxis entgegen. Diese Praxis steht vor der Herausforderung, effektive Mittel einzusetzen und dabei die eigenen antifaschistischen Ziele und Ansprüche nicht zu verraten. Insofern setzt die Anwendung politischer Gewalt bspw. eine Auseinandersetzung mit den damit verbundenen patriarchalen Fallstricken voraus. Aus Schutzerfahrungen und Diskussionen wissen wir, dass auch Schutzaufgaben das Potenzial bergen, vergeschlechtlichte Rollenbilder zu reproduzieren und patriarchale Verhaltensweisen zu festigen. Die bisherige Schutzpraxis zeigt, dass hierbei häufig patriarchal geprägte Situationen entstehen, die Frustmomente oder Unsicherheiten erzeugen. Um als Bewegung unseren Ansprüchen gerecht zu werden, sollten wir dies ernst nehmen und in die Auseinandersetzung damit treten.

Schon immer und vermehrt unter den Eindrücken im letzten Jahr gibt es Schutzanfragen aus verschiedenen Teilen der Bewegung. Aus anti-patriarchaler Perspektive beobachten wir hierbei zwei wesentliche Phänomene: Zum einen richten sich die Anfragen meist an professionalisierte Schutzteams. Statt Massenselbstschutz zu organisieren, werden Schutzaufgaben an spezialisierte Schutz-Crews ausgelagert, die den Schutz linker Veranstaltungen als den zentralen Bereich ihrer politischen Praxis ansehen. Der genaue Charakter und damit das Verhältnis von Schutzcrews zu "Geschützten" ist kontextabhängig. Schutz auf Antifademos funktioniert anders als auf CSDs oder bei Gedenkveranstaltungen mit Parteien. Insgesamt rückt Schutz hierdurch in die Nähe einer Dienstleistung für die Bewegung, während die Frage, wie wir als Bewegung Schutz machen, umso dringender wird. Hiermit verbunden beobachten wir zum anderen Unsicherheiten hinsichtlich Schutzkompetenzen und der Frage, wer überhaupt Schutz machen kann, inklusive einer Auseinandersetzung darüber, was es in welcher Situation braucht.

Vor diesem Hintergrund formulieren wir im Folgenden einige Thesen für antifaschistischen Schutz, die unseren derzeitigen Diskussionsstand dokumentieren und als Referenzpunkte für eine weitergehende Diskussion und Praxis dienen sollen. Dabei knüpfen wir an bestehende Diskussionen zu sowohl Schutz als auch Patriarchat an. Das sind zum einen Diskussionen aus Westberlin aus den 1980ern zu antifaschistischem Selbstschutz und Angriffen (https://antifainfoblatt.de/aib50/antifa-wie-weiter-rueckblicke-und-ausblicke), die immer auch patriarchale Spannungsverhältnisse gestreift haben. Zum anderen Erfahrungen und Berichte ostdeutscher Antifas aus den 1990ern und frühen 2000ern, von denen die damaligen Verhältnisse intensive Auseinandersetzung und Reflexionen zu Selbstverteidigung, Gegenwehr und Gegengewalt forderten (z.B. https://www.dampfboot-verlag.de/de/product/30-jahre-antifa-in-ostdeutschland). Da unserem Eindruck nach sehr lange weder über Schutz noch patriarchale Fallstricke hierbei gesprochen wurde, beschränkt sich der folgende Text auch nicht auf Patriarchatsaspekte, sondern betrifft als Rundumschlag auch allgemeine Schutzfragen.

 

1. Schutz als politisches Mittel des Selbstschutzes: Die Antifa als die größte Schutzgruppe der Welt

Als Antifaschist*innen kämpfen wir gegen keimenden, erstarkenden oder real-existierenden Faschismus bzw. faschistische Tendenzen. Wir wollen die Handlungsspielräume von Nazis minimieren, ihrer Bedrohung entgegenwirken und die Bedingungen, auf denen Faschismus gründet, revolutionieren. Schutz ist diesen antifaschistischen Zielen beigeordnet. Er soll die eigenen politischen Handlungsspielräume und Handlungsfähigkeit - Personen, politische Räume und Veranstaltungen, politischer Ausdruck  - schützen und erweitern. Schutz ist insofern kein Selbstzweck, sondern der antifaschistischen Bewegung immanent und stets von außen aufgezwungen. Dabei gilt es insbesondere auch dorthin zu fahren, wo Schutz besonders notwendig bzw. antifaschistische Interventionen besonders dringend, oder die antifaschistischen Strukturen besonders dünn aufgestellt sind. Insofern solidarisieren wir uns mit der Selbstverteidigung und den politischen Handlungsräumen anderer.

2. Ein breites Schutzverständnis - Schutz vor Nazis

Gewalt durchzieht unsere gesellschaftlichen Verhältnisse: Nicht nur von Nazis, sondern auch vom bürgerlich-kapitalistischen Staat - der Staat ist Teil der Faschisierung - geht Gewalt aus. Dass von den staatlichen Sicherheitsorganen für uns kein Schutz zu erwarten ist, sondern vielmehr eine zusätzliche Bedrohung ausgeht, haben die vergangenen Jahre einmal mehr gezeigt. Doch auch innerhalb unserer Strukturen sind nicht alle sicher vor Angriffen und Diskriminierung. Als Antifaschist*innen müssen wir uns also vor vielfältigen Bedrohungen schützen und sollten keinem unterkomplexen Gewaltverständnis anhängen sowie Gewalt nicht nur extern verorten. Gleichwohl muss der interne Schutz sowie der Schutz vor Nazis und Staat unterschiedlich organisiert werden. Dabei gibt es selbstverständlich mindestens dort Querverbindungen, wo der antifaschistische Schutz staatlicherseits kriminalisiert wird: Schutz ist repressionsanfällig. Auch sollten wir die Diskussion um Schutz nicht isoliert, sondern Hand in Hand mit Awareness denken, zumal "Awareness" und "Schutz" ganz unterschiedlich geschlechtlich codiert sind. Wenn wir im Folgenden über "Schutz" schreiben, dann vor diesem Hintergrund, aber mit einem Fokus auf Schutz vor körperlicher Gewalt durch (organisierte) Nazistrukturen.

3. Schutz als kollektive Aufgabe

Antifaschistischer Schutz ist eine Aufgabe, der wir uns als Bewegung gemeinsam widmen müssen. Der Umgang hiermit kann nicht in einem individuellen Hochrüsten bestehen, das Einzelne zurücklässt oder überhöht. Der Schutz vor rechter Gewalt darf nicht dazu führen, dass einzelne Antifaschist*innen am Ende mehr Zeit im Fitti als auf der Straße verbringen. Stattdessen brauchen wir einen kollektiven Umgang mit Bedrohungen und eine Normalisierung von Schutz. Dabei ist Kollektivität nicht mit Verantwortungsdiffusion zu verwechseln: Genauso wie Schutzteams nicht für 100%-ige Sicherheit sorgen können, kann Schutz auch nicht funktionieren, wenn nur auf andere vertraut wird. Vielmehr wollen wir das Bedrohungsgefühl der Einzelnen durch solidarisches Handeln  - gemeinsam agieren und gemeinsam wachsen - überwinden. Dies verlangt gemeinsame Analysen, gemeinsame Antworten, gemeinsame Trainings und stetige Kommunikation. Dabei liefert das Erfahrungswissen derer, die durch rechte Gewalt besonders stark gefährdet sind, wichtige Perspektiven, die in Schutzdebatten und -konzepten besondere Beachtung finden sollten.

4. Antifaschistischen Massenselbstschutz organisieren

Wirksamer antifaschistischer Schutz ist stets Massenselbstschutz - den müssen wir organisieren und Schutzkompetenzen als Bewegungswissen etablieren. Auch wenn dies bei vielen "Schutz-Einsätzen" derzeit anders aussieht, ist das mittelfristige Ziel also, die Unterschiede zwischen spezialisierten Schutzteams und Bewegung aufzulösen. Dies mag für explizit linke Kontexte bereits schwierig, für andere Kontexte gar unrealistisch sein. Gleichwohl sehen wir die durch eine Abgrenzung zwischen "Schutz" und "Geschützten" entstehende beidseitige Hierarchie kritisch. Auch erhält Schutz hierdurch sowie insbesondere durch kurzfristige Anfragen zunehmend einen Dienstleistungscharakter und bindet Ressourcen, die andernorts in der politischen Praxis fehlen. Insofern wollen wir darauf hinarbeiten, Schutzcrews überflüssig zu machen, indem wir andere ermächtigen: Es ist unser politisches Ziel, dass die Bewegung fortlaufend dazulernt, ihre eigene Sicherheit herzustellen. Wir schärfen als Schutzcrews das Bewusstsein in der Bewegung für Sicherheitsfragen, um Sorgen einordnend zu begegnen. Diese Einbindung in die Bewegung beschränkt das Herausbilden von Hierarchien und ermöglicht die kontinuierliche Diskussion der Schutzpraxis. Es erleichtert auch die Weitergabe von Wissen und Kompetenzen - in gemeinsamen Trainings, in Diskussionen und insbesondere als Generationenaustausch. Wie für andere Aufgaben gilt also: möglichst viele sollen Schutz können, aber nicht alle immer machen müssen. Als Aufgaben für organisierte Schutzstrukturen bleiben insbesondere Ansprechbarkeit, Wissensweitergabe, Konzepte und Koordination in unübersichtlichen Situationen.

5. Antifagruppen statt Schutzgruppen: Einbindung von Schutzaufgaben in politische, reflexionsfähige Zusammenhänge

Politisches Handeln ist niemals individuell, sondern immer in sozialen (zwischenmenschlichen und gesellschaftlichen) Beziehungen begründet, die als Referenzpunkte funktionieren. Daher müssen wir Schutz gemeinsam als Bewegung organisieren: politisch, anti-patriarchal und im Bewusstsein stetiger Kriminalisierung antifaschistischer Praxis. Daraus folgt, dass Schutz-Teams nicht abgekapselt vom Rest der Bewegung arbeiten sollten. Anstatt sich exklusiv als Schutzgruppe zu organisieren, sollte die politische Organisierung im Vordergrund stehen. Auch in diesen Zusammenhängen ist es möglich und erforderlich, Schutzaufgaben zu übernehmen. Dies sollte jedoch in eine weiterreichende politische Praxis und Selbstverständnis eingebettet sein. Andersherum sollte Schutz bspw. aus politischen Bündnissen heraus organisiert und nicht extern angefragt werden. Diese Eingebundenheit in politische Kontexte steigert unsere Sicherheit: Emotional, weil wir als Teil einer Bewegung Teil ihrer Stärke sind. Politisch, einerseits, weil uns reflektionsfähige Zusammenhänge vor Irrtümern und Verräter*innen schützen. Und andererseits, weil wir so nicht monothematisch und mono-aktivistisch unterwegs sein müssen, sondern unterschiedliche Aktionsformen und Handlungsfelder nutzen können.

6. Schutz-Offensive und -Defensive: Selbstverteidigung und Gegengewalt

Schutz, und die Erweiterung der Handlungsfähigkeit antifaschistischer Strukturen, bedeutet zum einen Selbstverteidigung und Gegenwehr bei Angriffen. Es kann aber auch notwendig sein, das Bedrohungspotenzial von Nazis aktiv und aufsuchend einzuschränken - auch das ist Schutz. Insofern gilt: Der langfristig wirksamste Schutz gegen Nazis ist kein defensiver Schutz, sondern antifaschistische Offensive. Nazis muss der Raum genommen werden. Die Bedingungen, die ihnen ihre Aktivitäten ermöglichen, müssen verändert werden. Diese Aufgaben müssen von der antifaschistischen Bewegung genauso wahrgenommen werden. Es kann jedoch sinnvoll sein, dieses weitreichende Schutzverständnis von der konkreten Aufgabe des Schutzes von Veranstaltungen zu trennen. Offensiv militante Aktionsformen sollten nur dann zum Einsatz kommen, wenn sie dem konkreten Schutzziel in der jeweiligen Situation dienen und vorher abgesprochen wurden.

7. Schutzkonzepte und Handlungsmöglichkeiten - nicht nur der heroische Akt des Umboxens

Schutzaufgaben sollten auch deshalb nicht auf handgreifliche Auseinandersetzungen reduziert werden, weil dies den Blick und die eigenen Handlungsmöglichkeiten einengt. Zudem fördert eine solche Hierarchie von Aktionsformen patriarchales Gehabe. Stattdessen gilt es, verschiedenen Menschen in Schutzkonzepten einen Platz zu geben und Bezugsgruppen aufzufordern, sich auf verschiedene Situationen vorzubereiten. Dies hilft auch für die Fälle, wo eine solche Struktur, aus welchen Gründen auch immer, nicht zugegen ist. Und auch politisch ist die gemeinschaftliche Befähigung das weitaus emanzipatorischere und radikalere Konzept.

8. Schutz als Bündel an Kompetenzen

Das alles zeigt schon: Schutz umfasst verschiedene Aufgaben. Für Schutz braucht es daher diverse Kompetenzen: die Fähigkeit, Situationen überblicken und lesen zu können; eine schnelle Auffassungsgabe; Handlungsfähigkeit in Stresssituationen; gute Menschenkenntnis, um Umstehende einzubinden und anzuleiten; Teamfähigkeit und Kommunikationsfähigkeit, um in entscheidenen Momente eine Vielzahl an Menschen koordinieren zu können; Deeskalationsfähigkeit, um Situationen mit möglichst wenig Risiko zu lösen; etc. . Zu Schutzaufgaben gehören insbesondere auch die Vor- und Nachbereitung sowie Vor- und Nachsorge. So gilt es beispielsweise bei der Veranstaltungsorganisation die Treffpunkte mitzudenken oder als Schutzcrews dafür zu sorgen, dass ein geteiltes Verständnis der Situation gegeben ist. Wesentlich sind zudem Frühwarnsysteme und Nazis zu kennen. Nicht zu unterschätzen ist auch die Kompetenz, die eigenen Leute im Blick zu behalten und im Zweifel auch mal zurückzupfeifen. Entscheidend ist bei alledem auch die eigene Ausstrahlung: Diese entsteht aus der Erfahrung, aus dem Kollektiv und dem dadurch erlangten Selbstvertrauen.

9. Auftreten von Schutzteams

Unsere Schutzpraxis wirkt nach außen wie nach innen. Während wir auf Nazis abschreckend wirken wollen, damit wir gar nicht erst angegriffen werden, wollen wir für die eigenen Leute nahbar und ansprechbar bleiben. Es ist unangenehm und peinlich, aufgrund des eigenen Auftretens selbst für Nazis gehalten zu werden. Zudem wollen wir mit der Schutzaufgabe nicht anderen politischen Ausdruck, sei es auf feministischen oder antrassistischen Demos, oder bei CSDs, überdecken. Abschreckende Wirkung sollte also keine Eigenschaft sein, sondern ein Werkzeug, das wir nur in bestimmten Situationen einsetzen und auch wieder abschalten können. Denn schließlich soll Schutz in den meisten Fällen deeskalierend wirken, was durch allzu dominantes Auftreten gefährdet wird. Insofern verbleibt dies ein Spannungsfeld. Insbesondere gilt, dass die reine Ästhetisierung von Militanz, dort, wo weniger manifeste Probleme bestehen, auf Genoss*innen in betroffenen Regionen rein symbolisch bzw. performativ wirken kann.

10. Arbeitsteilung und verlässliche Absprachen

Auch innerhalb von Schutzcrews bietet sich eine Arbeitsteilung bei gegenseitigem Verständnis an. Die Frage der Aufteilung ist jedoch keinesfalls unpolitisch. Wer hat Schlüsselrollen inne? Wer spricht? Wer nimmt wie viel Raum ein? Wessen Erfahrungen werden geschätzt? Wer leistet die emotionale Arbeit? Statt Heldentum, das Einzelne überhöht, gilt auch innerhalb emanzipatorischer Schutzcrews das Prinzip, Hierarchien abzubauen und einander gegenseitig zu befähigen. Hierzu gehören eine gute Vorbereitung, Austausch über Schutzziele, Erwartungen und Sorgen sowie Absprachen über das Vorgehen. Getroffene Absprachen müssen eingehalten werden, damit wir uns aufeinander verlassen können. Wir bereiten jeden Schutz-Einsatz nach, reflektieren gemeinsam und üben Selbstkritik. Wenn einmal etwas schief geht, lernen wir gemeinsam daraus. Dabei achten wir darauf, dass dies nicht immer nur von FLINTA* eingefordert werden muss, sondern aus Eigeninitiative und organisiert geschieht.

11. Umgang mit Fehlern

Vor- und Nachbereitung sind auch deshalb wichtig, weil es im Wesen von Schutz liegt, dass es anders kommt und Fehler passieren. Räume zu schaffen, um hiermit einen konstruktiven Umgang zu finden, ist Teil unserer Bewegungsverantwortung. Neben Besprechungen eignen sich hierfür Szenarientrainings, in denen Situationen übungsweise durchgespielt werden und Fehler geradezu erwünscht sind. Sie stellen Räume dar, in denen wir gemeinsam Fehleranalyse betreiben, die Fehler kollektiv begreifen und sie als positive Anreize sehen können - es kann sogar Spaß machen. Wenn uns bewusst ist, dass wir alle immer dazulernen, Unsicherheiten haben und Fehler machen, wird es auch leichter, zuzugeben, selbst etwas nicht zu können und unsicher zu sein. Es kommt  also darauf an, sich eine Fehlerfreundlichkeit zu erhalten und gemeinsam lernen zu wollen. Jedes Training und jeder Einsatz ist eine Übung für das nächste Mal und bringt uns als Kollektiv weiter.

12. Gewaltkompetenz: Situationen lesen, Risiken kennen und die eigene Reaktion verstehen

Manche der oben beschriebenen Kompetenzen lassen sich (auch) unter dem Stichwort der Gewaltkompetenz bündeln. Wer Schutzaufgaben übernimmt, muss damit rechnen, Gewalt ausgesetzt zu sein oder Gewalt auszuüben. Gewalt ist nichts Schönes. Diese Gewalterwartung und Gewalterfahrungen machen etwas mit uns und unseren sozialen Beziehungen. Gewaltkompetenz bedeutet, sich mit der Gewalt, die man ausübt oder erlebt, auseinanderzusetzen und sich zu fragen, was die Erfahrungen auslösen: Machen sie uns vorbereiteter? Verletzlicher? In welchem Verhältnis stehen politische Gewalt gegen Nazis und Gewalt in unseren sozialen Beziehungen? Wie wirkt sich das Verhalten auf andere konflikthafte Situationen aus? Was können wir aus unseren Erfahrungen lernen hinsichtlich unserer eigenen Reaktionen in Gewalt- oder Stressreaktionen? Zur Auseinandersetzung mit Gewaltsituationen gehört auch die Frage, wie wir uns und andere in und nach diesen Situationen unterstützen können. Hiermit muss sich in Schutzteams kontinuierlich und kollektiv befasst werden; auch dies lässt sich trainieren. Dabei ist erforderlich, dass wir immer wieder die Art und Weise, wie wir auf Gewalt blicken, kritisch reflektieren: Als politisches Mittel, das eben Mittel und nicht Selbstzweck ist und die politischen Ziele nicht verkehren darf. Zudem ergibt sich aus der Gewaltkompetenz die Notwendigkeit, Nachsorge zu etablieren: Erste Hilfe bei Verletzungen, aber auch gemeinsame psychische Nachsorge bei Gewalterlebnissen, oder die kollektive Verantwortungsübernahme bei möglicher Repression.

13. Befähigung zum Schutz

Vor diesem Hintergrund stellt sich umso dringlicher die Frage, wer sich dazu berufen fühlt, Schutz zu machen und wer sich diese Aufgabe nicht zutraut. Dies ist auch von gesellschaftlichen, vergeschlechtlichen Rollenerwartungen geprägt. Es werden dabei oft Kampfsporterfahrungen oder eine gewisse Statur explizit oder implizit vorausgesetzt. Solche Rollenerwartungen sind hinderlich und können den Blick verstellen: sie führen zu Selbstunterschätzung oder -überschätzung. Stattdessen sollten wir die genannten Kompetenzen in den Mittelpunkt stellen, die auch nicht alle in einer Person versammelt sein müssen, sondern in Teams verteilt sein und trainiert werden können. Das sinnvollste Training ist daher nicht immer der individuelle Kampfsport, sondern die Vorbereitung auf das gemeinsame Agieren in der Gruppe: Kommunikation und Entscheidungsfindung, Hilfsmittel, Perspektivwechsel, Stresstrainings und Erprobung von Konzepten. Bei all diesen Fragen danach, wer Schutz ausübt, und wer ihn in Anspruch nimmt, spielt neben Rollenerwartungen auch "Körperlichkeit" auf unterschiedlichen Ebenen eine zentrale Rolle. Wer ist körperlich wie enabled? Wer ist besonderen Risiken ausgesetzt? Wie nehmen wir unterschiedliche Körper wahr? Wen denken wir mit? Dies sollten wir nicht aus dem Blick verlieren und bereits in Schutzkonzepte und -übungen integrieren.

14. Wider die Vorstellung vom ehrenhaften Kampf

Gleichwohl ist nicht zu verkennen, dass die Frage gesellschaftlicher Rollenerwartungen nicht nur von der Gesellschaft als internalisierte Vorstellungen an uns herangetragen werden. Auch seitens der politischen Gegner*innen begegnen uns solche Erwartungen: Wen machen Nazis als „leichtes Opfer“ aus, wen wollen sie angreifen – mit wem wollen sie sich messen? Dies ist ein Spannungsfeld, dem wir uns widmen müssen, ohne vorauseilend die Position der Nazis zu übernehmen. Denn klar ist auch, es gibt keine Ehre in der Auseinandersetzung mit Nazis. Es darf nicht der Anspruch sein, sich auf einer sportlichen Ebene auf sie einzulassen - und es gibt sich auch nichts drauf einzubilden, wenn man gewinnt.

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Die vorstehenden Thesen haben keinen Anspruch auf Vollständigkeit oder universelle Gültigkeit. Uns ist bewusst, dass verschiedene Fragen offen geblieben sind und wichtige Aspekte nicht thematisiert wurden. So ist bspw. zu beobachten, dass die rechte Bedrohungslage bislang stark männlich geprägt ist - Schutzdebatten also im Kontext von Faschismus und Männlichkeit stattfinden müssen. Daher erscheint es umso wichtiger, dass wir bei Schutz patriarchale Verhaltensweisen reflektieren und minimieren, um nicht selbst zu deren Reproduktion beizutragen. Offen gelassen haben wir auch operative Fragen: Wie genau organisieren wir Schutz und Wissensweitergabe? Welche Hilfsmittel und Konzepte gibt es? Was erwarten wir voneinander im Fall der Fälle? Stattdessen wollen wir noch einmal für Fehlerfreundlichkeit und Lernbereitschaft werben und vor übersteigerten Erwartungen an Schutzteams und generell unsere Genoss*innen warnen. Den Faschismus bekämpfen wir nicht im Alleingang. Und auch die Abwehr faschistischer Gefahren und Angriffe kann nur gemeinsam und solidarisch erfolgen. In diesem Sinne rufen wir alle dazu auf, sich in ihren jeweiligen Zusammenhängen gemeinsam Gedanken über den Schutz unserer Bewegung zu machen, und eure Gedanken dazu mit anderen zu teilen.

Wir freuen uns über eure Überlegungen & Feedback an schutzdebatte@riseup.net.

 

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