Die Pathologisierung von Frauen: Eine kritische Auseinandersetzung mit der Hysterie und der Borderline-Persönlichkeitsstörung
Die historische Entwicklung der psychischen Diagnosen der Hysterie und der Borderline-Persönlichkeitsstörung (BPS) offenbart eine bemerkenswerte Parallelität in der Pathologisierung von Frauen und der Unterdrückung von emotionalem Ausdruck innerhalb patriarchaler Strukturen. Sowohl die Hysterie des 19. Jahrhunderts als auch die Borderline-Persönlichkeitsstörung des 20. Jahrhunderts spiegeln die Tendenz wider, emotionale Instabilität von Frauen als psychische Krankheit zu diagnostizieren, ohne die gesellschaftlichen und kulturellen Kontexte zu berücksichtigen, in denen diese Symptome entstehen. Beide Diagnosen sind somit Ausdruck eines tief verwurzelten Genderbias, der die emotionale und zwischenmenschliche Komplexität von Frauen pathologisiert und ihre Handlungsfähigkeit einschränkt.
1. Die Hysterie als historische Diagnose
Die Hysterie, ein Konzept, das im 19. Jahrhundert populär wurde, betraf vor allem Frauen und wurde als Krankheit betrachtet, die eine Vielzahl von körperlichen und psychischen Symptomen umfasste, für die keine organische Ursache gefunden werden konnte. Der Begriff „Hysterie“ stammt vom griechischen Wort „hystera“, was „Gebärmutter“ bedeutet, und deutete auf die Annahme hin, dass weibliche Sexualität und die Gebärmutter die Ursache für psychische Störungen seien. Frauen, die als „zu emotional“, „zu rebellisch“ oder „zu launenhaft“ wahrgenommen wurden, erhielten häufig diese Diagnose. Die Symptome reichten von Nervosität und Wutausbrüchen bis hin zu körperlichen Beschwerden, deren Ursachen nicht medizinisch erklärbar waren.
Die gesellschaftliche Konstruktion der Hysterie als „Frauenkrankheit“ stellte die emotionale Intensität von Frauen als problematisch dar. In vielen Fällen wurden emotionale Ausbrüche und Verhaltensweisen, die als unangepasst oder außerhalb der sozialen Norm lagen, als Zeichen einer Störung verstanden. Dies war eng verknüpft mit der Vorstellung, dass Frauen aufgrund ihrer vermeintlichen emotionalen Instabilität als weniger kontrolliert und rational galten, was zu ihrer medizinischen Stigmatisierung führte.
2. Borderline-Persönlichkeitsstörung: Die Moderne Neuformulierung der Hysterie
Im 20. Jahrhundert trat die Borderline-Persönlichkeitsstörung (BPS) als eine Diagnose auf, die in vielerlei Hinsicht eine Neuformulierung der Hysterie darstellt. Frauen, die an BPS leiden, zeigen oft Symptome wie emotionale Instabilität, Schwierigkeiten in zwischenmenschlichen Beziehungen und impulsives Verhalten. Diese Symptome werden häufig als unsicher oder nicht kontrollierbar wahrgenommen. In einer patriarchal geprägten Gesellschaft, in der emotionale Stabilität und Selbstkontrolle als weibliche Tugenden gelten, wird das Verhalten von Frauen mit BPS häufig als problematisch für die traditionelle weibliche Rolle betrachtet.
Die Diagnose der BPS wird zwar nicht nur Frauen zugeordnet, aber sie trifft besonders häufig Frauen, da ihre emotionalen Reaktionen oft als übertrieben oder unangemessen beurteilt werden. Hier wird wieder ein medizinisches Modell verwendet, das die Symptome als Ausdruck einer individuellen Störung interpretiert, ohne die sozialen und kulturellen Bedingungen zu berücksichtigen, die diese emotionalen Reaktionen auslösen. Toxische Beziehungen, soziale Isolation oder erlebte Diskriminierung werden dabei oft nicht in Betracht gezogen, sodass die Frau als „krank“ und ihr Verhalten als „unnormal“ eingestuft wird.
3. Die Pathologisierung von Emotionen und ihre gesellschaftlichen Implikationen
Sowohl die Diagnose der Hysterie als auch die der BPS führen zur Pathologisierung von Emotionen. In beiden Fällen wird die Frau als emotional instabil wahrgenommen, was ihre Fähigkeit zur Selbstkontrolle infrage stellt. Dies hat weitreichende gesellschaftliche Implikationen: Frauen, die nicht in die vorgegebenen normativen Rollen von Mutter, Ehefrau oder Tochter passen – etwa weil sie emotionale Ausdruckskraft oder soziale Unangepasstheit zeigen – werden als zu komplex oder unberechenbar angesehen. Ihr Verhalten wird damit in den Bereich der Pathologie verschoben, was ihre gesellschaftliche Position weiter schwächt.
Die medizinische und psychiatrische Diagnostik neigt dazu, das Verhalten von Frauen zu individualisieren und als psychische Störung zu erklären, ohne die gesellschaftlichen und kulturellen Faktoren zu berücksichtigen, die dieses Verhalten beeinflussen könnten. Die Diagnose BPS wird besonders häufig Frauen zugeschrieben, da sie mit den vorherrschenden Geschlechterrollen kollidiert, die emotionale Zurückhaltung und Stabilität von Frauen verlangen. Indem Frauen als emotional instabil pathologisiert werden, wird ihr Verhalten als Ausdruck einer individuellen Krankheit betrachtet, anstatt es als Reaktion auf soziale und strukturelle Belastungen zu verstehen.
4. Der Genderbias in der Diagnostik
Ein zentraler Aspekt beider Diagnosen ist der Genderbias. Die Symptome der BPS und der Hysterie sind nicht geschlechtsspezifisch, aber beide Diagnosen betreffen Frauen deutlich häufiger als Männer. Dies lässt auf einen patriarchalen Blick schließen, der Frauen als emotional und weniger rational betrachtet. Männer, die ähnliche Symptome zeigen, werden nicht als krank oder gestört wahrgenommen, sondern eher als rebellisch oder als Individuen, die den gesellschaftlichen Normen des „männlichen“ Verhaltens entsprechen. Dieser Geschlechterbias zeigt sich sowohl in der medizinischen Diagnostik als auch in der gesellschaftlichen Wahrnehmung von emotionalem Verhalten.
In der Geschichte wurde die Hysterie fast ausschließlich Frauen zugeschrieben, während Männer mit ähnlichen Symptomen selten als „krank“ oder „gestört“ diagnostiziert wurden. Stattdessen wurde ihr Verhalten oft als Ausdruck von männlicher Stärke oder als Ausdruck von Individualität interpretiert, der in der Gesellschaft akzeptiert war. Dies verdeutlicht, dass emotionales Verhalten von Frauen systematisch abgewertet und als problematisch betrachtet wird, während ähnliches Verhalten von Männern als normal oder sogar als anerkannt angesehen wird.
5. Soziale und psychologische Folgen der Pathologisierung
Die Stigmatisierung durch Diagnosen wie Hysterie oder BPS hat weitreichende soziale und psychologische Konsequenzen für betroffene Frauen. Frauen, die als hysterisch oder borderline diagnostiziert werden, erleben häufig Isolation und Entmündigung. Sie werden als unfähig, ein „normales“ Leben zu führen, wahrgenommen. Frauen mit BPS werden häufig als manipulativ oder unzuverlässig bezeichnet, was ihre gesellschaftliche Teilhabe weiter einschränkt und die Wahrnehmung ihrer Autonomie untergräbt. Beide Diagnosen führen dazu, dass Frauen nicht als Subjekte ihrer eigenen Erfahrungen und Emotionen anerkannt werden, sondern als Objekte medizinischer Behandlung, deren Verhalten „geheilt“ oder kontrolliert werden muss.
Die medizinische Interpretation dieser Symptome verstärkt die Vorstellung, dass Frauen die Ursache ihres eigenen Verhaltens sind, und lenkt von den sozialen und kulturellen Belastungen ab, denen sie ausgesetzt sind. Damit werden die gesellschaftlichen Machtverhältnisse und die sozialen Ungleichgewichte, die emotionales Verhalten beeinflussen, nicht hinterfragt, sondern die Verantwortung für das Verhalten wird individuell den betroffenen Frauen zugeschrieben.
6. Fazit: Die Funktion der Diagnose als Werkzeug der Unterdrückung
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Diagnosen der Hysterie und der Borderline-Persönlichkeitsstörung als Instrumente der Unterdrückung von Frauen fungieren. Beide Diagnosen werfen ein kritisches Licht auf die Art und Weise, wie psychische Erkrankungen in patriarchalischen Gesellschaften interpretiert werden. Sie verdeutlichen die problematische Tendenz, das Verhalten von Frauen zu pathologisieren und ihre emotionalen Reaktionen als krankhaft oder unangemessen zu bewerten, ohne die sozialen, kulturellen und geschlechtsspezifischen Hintergründe dieser Reaktionen zu berücksichtigen.
Ein kritisches Hinterfragen dieser Diagnosen ist notwendig, um ein umfassenderes Verständnis von psychischen Erkrankungen zu entwickeln, das den sozialen und politischen Kontext stärker berücksichtigt. Es ist wichtig, die Verantwortung nicht auf die Individuen selbst zu schieben, sondern auf die gesellschaftlichen Strukturen, die diese Erkrankungen begünstigen. Nur durch eine solche Perspektivverschiebung können wir zu einer gerechteren und weniger stigmatisierenden Behandlung von Frauen und ihrer psychischen Gesundheit gelangen.
7. Die Gabe von Psychopharmaka als Mittel zur "Beruhigung": Eine kritische Perspektive
Ein weiteres problematisches Element in der Behandlung von Frauen, die mit Diagnosen wie Borderline-Persönlichkeitsstörung oder Hysterie konfrontiert werden, ist der häufige Einsatz von Psychopharmaka. Diese Medikamente werden oft als schnelle Lösung für emotional instabile oder unruhige Verhaltensweisen verschrieben, ohne dass ausreichend auf die zugrunde liegenden sozialen oder psychologischen Ursachen eingegangen wird. Der Einsatz von Beruhigungsmitteln, Antidepressiva oder Antipsychotika kann als eine Form der sozialen Kontrolle interpretiert werden, die nicht nur den Symptomen der betroffenen Frauen begegnet, sondern auch die gesellschaftliche Erwartung widerspiegelt, dass Frauen sich emotional zurückhalten und „normales“ Verhalten zeigen sollen.
Psychopharmaka werden häufig als eine Art von "ruhigstellendem" Mittel eingesetzt, um die als problematisch wahrgenommenen emotionalen Reaktionen von Frauen zu dämpfen. Diese Praxis birgt jedoch erhebliche Risiken, sowohl hinsichtlich der Nebenwirkungen der Medikamente als auch in Bezug auf die langfristige Missachtung der sozialen und psychologischen Faktoren, die das Verhalten auslösen. Der medikamentöse Eingriff verstärkt die Vorstellung, dass emotionaler Ausdruck oder Störung allein als Krankheit betrachtet werden sollte, die durch Medikamente behandelt werden kann, statt durch das Aufarbeiten von sozialen, kulturellen oder persönlichen Traumata. Diese Vorgehensweise entmündigt die betroffenen Frauen und nimmt ihnen die Möglichkeit, ihre eigenen Erfahrungen und Gefühle zu verstehen und zu bearbeiten.
Die „medikalisierte“ Kontrolle über das Verhalten von Frauen steht in engem Zusammenhang mit den patriarchalen Strukturen, die Frauen in ihrer emotionalen und sozialen Autonomie einschränken. Anstatt die gesellschaftlichen Bedingungen, wie z.B. geschlechtsspezifische Diskriminierung, emotionale Vernachlässigung oder traumatische Erfahrungen, zu hinterfragen, wird von den Betroffenen erwartet, dass sie sich durch den Einsatz von Medikamenten in eine sozial akzeptierte Rolle einfügen. So wird die Verantwortung für das emotionale Verhalten der Frauen erneut auf den individuellen Körper verschoben, während die sozialen Bedingungen, die dieses Verhalten hervorgerufen haben, unbeachtet bleiben. Diese Form der Behandlung kann als eine Form der „beruhigenden Unterdrückung“ verstanden werden, die Frauen nicht hilft, ihre Erfahrungen zu verstehen oder zu verarbeiten, sondern sie lediglich in einen Zustand der emotionalen Abstumpfung versetzt, ohne die zugrunde liegenden Ursachen anzugehen.
In der Forschung und klinischen Praxis muss deshalb verstärkt darauf geachtet werden, ob der Einsatz von Psychopharmaka wirklich im besten Interesse der Patientinnen liegt oder ob er nicht vielmehr eine Form der gesellschaftlichen Anpassung darstellt, die den Ausdruck von Emotionen und die Auseinandersetzung mit tief liegenden, oft gesellschaftlich bedingten Konflikten unterdrückt. Ein solches Vorgehen sollte immer kritisch hinterfragt werden, um die Gefahr einer erneuten Stigmatisierung und Entmündigung von Frauen zu verhindern.