[Tübingen] 14.11.2019: GEGEN DEN AUSVERKAUF DER STADT

Aufruf zur Demo

Am 10. Oktober stimmte der Tübinger Gemeinderat mit 36 zu sechs Stimmen für den Verkauf mehrerer kommunaler Flächen an Bosch. Geplant ist außerdem der Bau eines siebenstöckigen Parkhauses. Der Ortsbeirat der Nordstadt hatte zuvor wenig Begeisterung für den rasanten Ausbau des Technologieparks gezeigt: Nur ein Vertreter stimmte dafür, zwei dagegen, der Rest enthielt sich. Es war keine grundsätzliche Kritik an der KI-Forschung in Tübingen und der engen Kooperation zwischen Industrie und Forschung, sondern die Sorge um Kaltluftschneisen und die Aussicht auf die Schwäbische Alb, die nun mit einem „Gebäude, das aussieht wie ein UFO“ verbaut werden soll.
Kein Wunder, dass sich Unmut regt. Das Bündnis gegen das Cyber Valley warnte schon im Juli 2017 vor einem „Ausverkauf der Stadt, der Universität und des Wissens“. Denn das Cyber Valley besteht nicht nur aus einer vertraglich fixierten Forschungskooperation zwischen der Universität, der Max-Planck-Gesellschaft und der Industrie, sondern auch aus der erklärten Absicht, die Region zu einem „Ökosystem“ für die Entwicklung und Kommerzialisierung Künstlicher Intelligenz zu machen.

ATOS

Kurz vor der formalen Gründung der Forschungskooperation Cyber Valley übernahm mit Atos ein erster Global Player das Tübinger StartUp „Science & Computing“. Atos hatte in den vergangenen Jahren u.a. mit „Bull“ das französische Pendant zu IBM und mit Siemens IT Solutions & Services den wichtigsten Anbieter für öffentliche und „sensible“ Datendienstleistungen in Deutschland übernommen. Bereits 2001 hatte Atos wesentliche Teile von KPMG - einem der größten Kapital- und Beratungsunternehmen weltweit - eingekauft. Heute verwaltet Atos u.a. die Rechenzentren der Bundeswehr und ist Anbieter des Battle Managment Systems, mit dem die französischen Streitkräfte die Zusammenarbeit zwischen bemannten und unbemannten Luft- und Bodentruppen koordinieren.

AMAZON

Doch Atos war erst der Anfang. Ein halbes Jahr nach Bekanntgabe der Forschungskooperation wurde bekannt, dass Facebook – aus bis heute unbekannten Gründen – aus der Kooperation ausgestiegen war und stattdessen Amazon gewonnen werden konnte. Kein schlechter Tausch: Amazon gilt als wertvollstes Unternehmen und dessen Chef, Jeff Bezos, als reichster Mann der Welt. „Die … Ansiedelung eines Forschungszentrum von Amazon in Tübingen war aus der Sicht von Amazon die Grundvoraussetzung für den Eintritt von Amazon in das Cyber Valley“ so die Universität und das Max-Planck-Institut in einem ungewöhnlichen Brandbrief an den Tübinger Gemeinderat, bevor dieser angesichts wachsender Proteste über die Verkaufsoption für das Amazon-Forschungszentrum mit ca. 200 Arbeitsplätzen entscheiden sollte. Zwischenzeitlich wurde bekannt, dass zwei Direktoren des Max-Planck-Institus für Intelligente Systeme als sog. Amazon Scholars neben ihrer öffentlichen Finanzierung bei Amazon beschäftigt sind und einer von ihnen in der Vergangenheit ein Startup („Body Labs“) gegründet hatte, das später für einen zwei- bis dreistelligen Millionenbetrag an Amazon verkauft wurde.

BOSCH

Viel schneller als bei Amazon ging es bei Bosch. Bosch war von Anfang an „Kernpartner“ im Cyber Valley, im Universitätsrat Tübingen stark vertreten und hat im Rahmen des Cyber Valley zwei Industry-on-Campus- und eine Stiftungsprofessur eingerichtet. Dass das Unternehmen darüber hinaus einen eigenen „Forschungscampus“ mit ca. 700 Beschäftigten auf dem Horemer neben dem Technologiepark errichten will, wurde erst im Juli 2018 bekannt – und knappe drei Monate später im Gemeinderat abgesegnet. Bosch genießt den Ruf eines Familienunternehmens und ist formal als Stiftung organisiert. Das bedeutet aber nicht, dass das Unternehmen mehr am Gemeinwohl, als am Profit orientiert wäre. Es lieferte jene „intelligenten“ Komponenten der Abschaltautomatik, mit der die Autokonzerne ihre Diesel-Abgaswerte manipulierten. Bosch hat wg. der sog. Diesel-Krise mit der Entlassung hunderter, vielleicht auch tausender Arbeitnehmer*innen gedroht. Zugleich baut Bosch seine Forschungsstandorte massiv und beständig aus. Unweit von Tübingen hat Bosch erst 2015 ein Forschungszentrum mit ca. 1.700 Beschäftigten auf einem ehemaligen Flughafen bei Renningen fertiggestellt, das in den kommenden Jahren ebenfalls erweitert werden soll. Nach Angaben des Instituts der deutschen Wirtschaft (IdW) hält Bosch aktuell weit vor Google und Tesla die meisten Patente für „Autonomes Fahren“ weltweit. Das ist insofern nachvollziehbar, als Bosch v.a. im Bereich der Sensorik global bestens aufgestellt ist. Deshalb bildet Bosch tatsächlich eine Symbiose mit Plattformunternehmen wie Google oder Amazon, als es – besonders jenseits der Welt des Internets – jene Daten produziert, auf deren Verwaltung und Analyse sich letztere spezialisiert haben.

ZF FRIEDRICHSHAFEN

Ebenfalls von Anfang an dabei in der Forschungskooperation Cyber Valley war ZF Friedrichshafen. ZF ist ebenfalls in Teilen als Stiftung organisiert und portraitiert sich gerne als regionales Unternehmen ambitionierter, deutscher Ingenieurskunst von weltweitem Ruf. Tatsächlich handelt es sich um ein traditionsreiches und strategisch von verschiedenen deutschen Regierungssystemen gestütztes Rüstungsunternehmen. Es ist eng verwoben mit MTU, aktuell Teil von Rolls Royce, einem der größten Rüstungsunternehmen weltweit. ZF liefert gemeinsam mit MTU Motoren und Getriebe für die Land-, Luft und Seestreitkräfte Deutschlands, Europas, der Türkei, Algeriens und Katars. Das Tochterunternehmen ZF Luftfahrttechnik ist Dienstleister der Bundeswehr und tw. unmittelbar auf Bundeswehrstandorten für die Wartung von Militärhubschraubern zuständig. Nach eigenen Angaben hat das Unternehmen eine „globale Markpräsenz“ und unterhält es 240 Niederlassungen in 40 Ländern. Im August 2018 wurde bekannt, das ZF das Tübinger Startup „Brake Force One“ (BFO) - das es bereits zuvor als „Entwicklungsdienstleiter“ betrachtet hatte - zu 100% übernommen hat. Aus Sicht von ZF ging damit auch eine Übernahme der Grundstücksoption für ein Entwicklungszentrum im Baugebiet Aischbach II einher, welche von lokalen Handwerksbetrieben heftig kritisiert wurde. "Wenn ZF über den Standort Aischbach II sprechen möchte, sind wir dazu bereit", so Baubürgermeister Soehlke, "zumal wir mit ZF einen seriösen Partner haben, mit dem man so etwas gut besprechen kann“.

AUTOMOBILINDUSTRIE

Neben Amazon, Bosch und ZF Friedrichshafen gehören auch Daimler, BMW und Porsche sowie IAV zu den „Kernpartnern“ des Cyber-Valley. Über Porsche als Mutter- und IAV als Tochterkonzern von VW ist damit nahezu die gesamte Automobilindustrie in Deutschland vertreten. Wenn hier die „Mobilität der Zukunft“ entworfen und gestaltet wird, dann wird diese durch die Interessen der Automobilindustrie geprägt sein, die in Deutschland und Baden-Württemberg bereits großen Einfluss auf die Politik ausübt. Zugleich handelt es sich auch hier um Konzerne von Weltrang. Das Magazin Fortune listet VW auf Platz neun und Daimler auf Platz 18 der umsatzstärksten Konzerne weltweit. Daimler ist nach wie vor auch in der Rüstung aktiv und gemeinsam mit ZF Friedrichshafen Mitglied im wichtigsten Lobbyverband der Rüstungsindustrie, der „Gesellschaft für Wehrtechnik“.

STARTUPS UND RISIKOKAPITAL

Zum Ökosystem gehören jedoch auch Startups und eng damit verbunden Risikokapital. Auch deshalb scheint Amazon so wichtig für das Cyber Valley zu sein, weil es wie ein Magnet auf Risikokapital wirken soll. Startups sollen Produkte entwickeln und deren Kommerzialisierung vorbereiten. Hierzu werden sie umfassend von der Industrie und der öffentlichen Hand unterstützt. Entsprechend entstehen bereits jetzt in verschiedenen Stadtteilen Tübingens und der Umgebung Co-Working-Spaces und Startup-Büros - statt Wohnraum. Um die neuen Produkte am Markt zu platzieren, müssen dann in großem Stil Investoren einsteigen. Das ebenfalls im Technologiepark angesiedelte Als Erfolgsmodell gilt das Tübinger Startups CureVac, das 2003 mit 18 MitarbeiterInnen in den Technologiepark einzog, bevor der ehemalige SAP-Gründer Dietmar Hopp – zwischenzeitlich der reichste Mensch in Deutschland – mit zunächst 80 Mio. und die Bill & Melinda Gates Foundation mit zunächst knapp 50 Mio. Euro einstiegen. Heute wird das Unternehmen auf einen Marktwert von 1,7 Mrd. US$ geschätzt. Um jedoch tatsächlich Produkte auf den Markt zu bringen, wird mit einem Kapitalbedarf von mindestens einer weiteren Mrd. Euro gerechnet – damit scheint die Zusammenarbeit mit einem der großen Pharmakonzerne unausweichlich. Deshalb arbeitet das rapide expandierende Unternehmen gegenwärtig u.a. mit Boehringer Ingelheim und der Sanofi-Aventis-Gruppe zusammen. Das häufigere Szenario für Startups ist allerdings gerade in der Tech-Branche – neben dem Scheitern – der „Exit“, also der Verkauf an einen der marktbeherrschenden Branchenriesen.

ÖKOSYSTEME
Solche Ökosysteme zur Entwicklung Künstlicher Intelligenz entstehen gerade in vielen Ländern der Welt und in verschiedenen Teilen Deutschlands. Kapital- und Beratungsgesellschaften wie Roland Berger, PriceWaterhouseCoopers und Capgenmeni haben konkrete Blaupausen entwickelt, wie solche Ökosysteme gestaltet sein sollten: Neben einem räumlich verdichteten „Forschungscampus“, auf dem Universität(en), Industrie, Startups und Kapital vertreten sind, zählen hierzu u.a. die Deregulierung des Arbeitsmarkes, Steuererleichterungen für Investitionen und: Baugrund. Zum Ökosystem für die Entwicklung Künstlicher Intelligenz gehört eine Kommunalpolitik, die bereit ist, die Bedürfnisse der Bewohner*innen den Ansprüchen internationaler Konzerne und des Risikokapitals zu unterwerfen.

„JA ZUR KI-ZUKUNFT TÜBINGENS“

Am Donnerstag, den 10 Oktober 2018, votierten im Tübinger Gemeinderat 31 Abgeordnete bei einer Enthaltung und sechs Gegenstimmen für den Verkauf mehrerer städtischer Flächen an die Bosch-Stiftung und die Robert Bosch Wohnungsgesellschaft mbH. Bosch will im Technologiepark im Tübinger Norden einen „geschäftsübergreifenden Campus für Künstliche Intelligenz (KI)“ mit 700 Arbeitsplätzen errichten. Das Gebäude selbst soll eine Tiefgarage mit 150 Stellplätzen haben, außerdem ist ein siebenstöckiges Parkhaus für 338 Autos geplant. Etwa zwei Drittel der hier Beschäftigten sollen bei Bosch selbst angestellt sein, der Rest in angegliederten Start-Ups oder mehr oder weniger selbstständig die sog. Co-Working Arbeitsplätze nutzen.
Die Gegenstimmen stammten von den Mitgliedern der „Linken“ und der „Partei“. Diese hatten gefordert, dass die kommunalen Flächen nicht verkauft, sondern in Erbpacht vergeben werden, wodurch sie grundsätzlich im Besitz der öffentlichen Hand verblieben wären. Außerdem forderten sie eine Verpflichtung, dass alle hier Beschäftigten nach Tarifvertrag bezahlt und ein Teil der für sie von Bosch gebauten Wohnungen für Menschen mit Wohnberechtigungsschein reserviert würden – schließlich muss auch im KI-Campus jemand die Brötchen schmieren, die Pflanzen gießen, den Teppich saugen und den Kaffee servieren; Arbeiten erledigen, bei denen das Geld schon jetzt kaum für die Mieten und Lebenshaltungskosten in Tübingen reicht. Zudem forderte die Linke erneut eine Zivilklausel für den Technologiepark bzw. für Bosch, um zu verhindern, dass mit der zunehmenden Ausrichtung auf KI-Forschung in und um Tübingen ein Rüstungsstandort bzw. ein „militärisch-forschungsindustrieller Komplex“ entsteht.
"Das wäre das sofortige Ende der Ansiedlung", hatte Oberbürgermeister Boris Palmer diesen Forderungen nach übereinstimmenden Pressemeldungen widersprochen. 31 Gemeinderatsmitglieder schlossen sich seiner Position an und votierten für das Bauvorhaben ohne die geforderten Bedingungen und Nachverhandlungen – obwohl es erst knapp drei Monate zuvor öffentlich und damit auch dem Gemeinderat bekannt gegeben wurde. Dies ist umso ungewöhnlicher, da sich der obligatorisch „einbezogene“, aber mit keinerlei Rechten und wenig demokratischer Legitimation ausgestattete „Ortsbeirat“ für den Tübinger Norden - der alle im Gemeinderat vertretenen Fraktionen umfasst – mit einer knappe Mehrheit (zwei Gegenstimmen, viele Enthaltungen und eine Stimme für den Bosch-Neubau) eigentlich gegen das Projekt positioniert hatte. „Es gibt hier jedenfalls keinen wirklichen Rückhalt für das Projekt“, fasste eine Vertreter*in die Stimmung in den umliegenden Wohngebieten zusammen.
Die überragende Zustimmung des Gemeinderats trotz des negativen Votums des Ortsbeirates und der nicht grundsätzlich ablehnenden Forderungen der Linken und der Partei feierte der Redaktionsleiter des „Schwäbischen Tagblatt“ in seinem Bericht von der Gemeinderatssitzung als „Ja zur KI-Zukunft in Tübingen“ - und brachte dabei eher unfreiwillig auf den Punkt, was die KI-Zukunft (in Tübingen) bedeutet: Privatisierung kommunalen Eigentums, Aushebelungen der Tarifbindung, eine Absage an sozialen Wohnungsbau, eine grundsätzliche Offenheit für militärische Forschung und notfalls auch eine Ignoranz gegenüber der (vermeintlichen) Mitsprache und den Bedürfnissen der Anwohner*innen. 31 Abgeordnete des Tübinger Gemeinderates haben diesen Prinzipien am 10. Oktober zugestimmt. Christoph Joachim, Gemeinderatsmitglied von den Grünen, erleichterte ihnen das mit der prägnanten Aussage: "Bosch sind die Guten."

AUSVERKAUF HOCH DREI: !$:!!:“=!);!(H

Bei der nächsten Sitzung des Gemeinderates am 14.11.2019 steht der Verkauf weiterer kommunaler Flächen für den Weltkonzern Amazon an. Amazon wird die Flächen nicht selbst kaufen, sondern über eine Projektentwicklungsgesellschaft (Reisch GmbH). Auch Amazon will hier ein Entwicklungszentrum für Maschinelles Lernen errichten. Die Stadtverwaltung will Amazon verpflichten, zumindest für zehn Jahre in Tübingen zu bleiben, danach hat sie keine weitere Kontrolle darüber, an wen die Reisch GmbH das von ihr errichtete Gebäude vermietet oder verkauft. Wenn Bosch „die Guten“ sind, gehört Amazon wohl zu „den Bösen“. Der Konzern ist für Steuervermeidung, Monopolbestrebungen, miserable Arbeitsbedingungen und eine systematische Bekämpfung des Datenschutzes bekannt. Er bietet seine Demokratie und Freiheitsrechte gefährdenden Technologien Polizei- und Geheimdienstbehörden weltweit an und bewirbt sich aktuell um den größten Dienstleistungsvetrag in der Geschichte des Pentagon, bei dem es explizit darum geht, Methoden des Maschinellen Lernens in die Führungs- und Informationssysteme der US-Streitkräfte zu integrieren.

KALTLUFTSCHNEISEN UND KAPITALISMUS

Im Ortsbeirat Tübingen Nord und womöglich auch der Sarchhalde und am Aischbach dämmert den Menschen langsam, dass das Cyber Valley nicht nur ein Marketing-Gag ist – sondern ihre Zukunft, ihre Expansionspläne, ihre Existenzweise bedroht. Der Ausverkauf der Stadt beginnt damit, dass ein ablehnendes Votum im Ortsbeirat schlicht nicht zur Kenntnis genommen wird. Wer sich ATOS, AMAZON, BOSCH und die AUTOMOBILINDUSTRIE in die Stadt holt, verspricht, auch zukünftig so zu handeln. Darin besteht das „JA zur KI-Zukunft Tübingens“, die abschließend dadurch besiegelt werden soll, indem man auch „den Bösen“ – Amazon - –kommunales Eigentum zur Verfügung stellt.
Die Gegenuniversität in Gründung ]GiG[ ruft alle zur kritischen Teilnahme an der Gemeinderatssitzung am 14.11.2019 auf. Kaltluftschneisen statt Bosch, Streuobstwiesen statt Amazon – für eine Technik, die den Menschen dient und nicht dem Profit. Gegen den Ausverkauf der Stadt, der Universität und des Wissens. Antikapitalismus ist keine Haltung, sondern auch eine Aufforderung, zu handeln!

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