Über was reden?

<p>Kürzlich dachte ich: es werden so langsam alle Irre. Hintergrund war, das Beate Klarsfeld und ihr Mann Serge erklärten hatten, den Rassemblement National wählen zu wollen, sollte im zweiten Wahlgang die Linke um Jean-Luc Mélenchon die Wahl gewinnen können. Ihr Sohn, so hieß es bei Beate Klarsfeld, habe mehrfach mit Marine Le Pen gesprochen und fand sie vertrauenswürdig. Vertrauen zu einer kommenden Macht – was für eine dumme Ebene.</p>
<p>Nun bin ich kein Mélenchon-Fan. Nicht alleine deswegen, weil er Jurist ist, um einen kleinen Scherz hier zu machen gegen den Juristen an sich, der dann aus allem immer ein Herauswinden finden wird. Sondern aus dem gleichen Grund, warum ich Sarah Wagenknecht auch kein Mandat geben würde:</p>
<p>Sie alle winden sich um eine immer offen werdende Erkenntnis herum, dass historisch etwas an ein Ende gekommen ist.</p>
<p>Wer hier systemimmanente Strategien verfolgt, ist auch nicht weniger irre als es die Klarsfelds – mit vielen anderen – gerade sind.</p>
<p>Man könnte hinter der Position der Klarsfeld vielleicht auch etwas anderes sehen, was uns alle betrifft:</p>
<p>Was ist heute »links« und was ist »rechts«</p>
<p>Hier die Linke, da die Rechte, das werden lächerliche Kategorien, wenn die Linke aus einer systemimmanente Konzeption agiert. »Systemimmanente Konzeption« bedeutet: <strong>Immer im Dialog mit der Macht sein.</strong></p>
<p>Wer das System externer <strong>Werteproduktion </strong>akzeptiert und Teil der Welt des Produzieren, Konsumieren, Kaufen und Verkaufen ist, ist verloren. Egal, mit welcher Politfahne man dabei über seinem Kopf oder seiner Gruppe wedelt. Man gehört dann in das Innere oder über die Systemgrundlage zu dem, was man »Natur«Gesetz des Kapitals nennen könnte. Innerhalb dessen ist die Frage berechtigt und längst beantwortet: Was ist »links«, was ist »rechts«? Ich kann dazu nur sagen: Alles ist dann rechts. Dann gibt es <strong>kein <em>Linkes!</em></strong></p>
<p>Die Frage <strong><em>links oder rechts</em></strong> zu beantworten kann man <strong>nur über die Kategorie »innerhalb« oder »außerhalb«</strong> des Systems. <strong>Ohne </strong>die antagonistische Position zum Bestehenden zu suchen, muss keiner von seinem Sessel aufstehen.  Zu was? Zum nächsten Betrug? Erst von dieser antagonistischen Position lässt sich bestimmen, was ist links und was ist rechts. Aber was ist die antagonistischen Position? <strong>Plakativ und mit Zorn könnte ich sagen: Jeden als Schwein zu bezeichnen,</strong> der nicht radikal mit dem Objektverhältnis bricht, dem alle heute unterworfen sind, sei es wegen des Zwangs der Ausbeutung und Verwertung, sei es aus der Knechtung etablierter Herrschaftsstrukturen, um das Bestehende weiter zu managen.</p>
<p>Wir wissen heute: Der Faschismus ist längst strukturell da. Er liegt in dem gnadenlosen Zwang der Masse gegenüber, ihre Haut unter immer größeren Anstrengungen und immer größerer Kontrolle zu Markt zu tragen und reinzufressen, was die kapitalistische Maschine ausspuckt. Und er liegt in den technischen Strukturen, die innerhalb des staatlichen Systems angelegt sind, meist in ihrem ganzen Umfang verdeckt bleiben, jedoch in bestimmten Situationen rasend schnell die Decke der erlaubten, also der Scheinfreiheiten durchbrechen und zuschlagen.</p>
<p>Die Pandemie war das große Übungsfeld, um Erziehung der Gesellschaft als offene Norm zu etablieren.</p>
<p><strong>Kein Dialog mit der Macht.</strong> <strong>Lieber niedergeschlagen werden als integriert sein.</strong> Dem kann ich etwas abgewinnen. Nie war die Freiheit so groß wie in jenen Zeiten, wo wir gegenüber der Macht jede Angst verloren hatten und bereit waren, jeden Preis zu zahlen.</p>
<p>Nichts in der Form ist wiederholbar. Darum geht es mir nicht. Mir geht es um das Verhältnis.</p>
<p>Und was müssen wir noch wissen?</p>
<p><strong>Die Linkspartei ist gescheitert</strong>, weil sie aus der Frage des Antikapitalismus einfach ein <strong>politisches Ornament</strong> gemacht hat, um dann sozialreformerisch bzw. verteilungspolitisch hier und da etwas zu drehen und damit zu zeigen, dass sie auf bürgerlicher Grundlage steht. Ob Dietmar Bartsch oder Eduard Bernstein – wo ist da der Unterschied? Ein labender Gregor Gysi? Man kann sie nicht mehr ertragen, mit ihrem rosaroten Linkssein, mit dem sie ihren gehobenen Stand in der Gesellschaft maskieren. Das braucht wirklich niemand und wird auch als verlogen erkannt, diese Trennung des eigenen Lebens vom politischen Schein des Anderen. Daran wird auch Wagenknecht scheitern, obwohl sie die Problematik zumindest ahnt und deshalb ihre kommende Partei so verortet, dass die Begriffe »links« und »rechts« nicht auf sie passen würden. Sie entkommt damit aber nicht  dem Widerspruch, drin zu sein und etwas anderes sein zu wollen. Mélenchon wird es auch nicht anders ergehen.</p>
<p>Die Rechten haben auch das Problem, das Ideologie keinen Wert besitzt. Marine Le Pen strebt wie alle der Mitte zu, das ist der Fluchtpunkt, eine eigenständige, unantastbare Ideologie gibt es nicht dazu. <strong>Die Rechten haben nur einen höheren Wahrheitsgehalt</strong>: Sie geben nicht vor, antikapitalistisch zu sein. Giorgia Meloni macht im wirtschaftlichen nichts anderes als die Mario Draghi-Politik. Sie sind <strong>nicht antikapitalistisch</strong>, sie sind – und damit sehr kapitalkonform – <strong>antidemokratisch.</strong></p>
<p>Die Systemlinke tut so, als sei sie demokratisch und antikapitalistisch und muss permanent den Terror der kapitalistischen Akkumulationszwänge in die Breite der Gesellschaft vermitteln. Deswegen haben wir heute eine Situation, wo linke Demokraten das faschistoide Potential des Staates und jenes der Objektstellung des Menschen durch die Kapitalisierung des gesamten Lebens de facto fördern, während die ideologische Rechte mit ihrer Hinwendung zur Mitte so tut, als würde sie demokratisch werden.</p>
<p>Es ist damit nicht alles gleich. Denn die ideologischen Faschisten sind für bestimmte gesellschaftliche Gruppen bzw. für Gruppen der Weltbevölkerung gefährlicher. Sie drehen jene kostenlosen Freiheit zurück, die in den Modernisierungsschüben der kapitalistischen Gesellschaften gewährt worden waren: Recht der Frauen, über ihren Körper zu verfügen, sexuelle Selbstbestimmung, Entwicklung anderer Lebensformen usw.</p>
<p>Aber wir müssen aus der Falle raus, die seit über 100 Jahren dem Fortbestehen der alten Verhältnisse gedient haben: Die Entscheidung für das kleinere Übel. Es ist, und daran krankt alles, immer die Entscheidung für das Unmittelbare und Kurzfristige.</p>
<p>Wir verlieren damit, also warum machen wir damit weiter?</p>
<p><strong>Was aber ist ein »außen« heute?</strong> Zu meiner glorreichen Zeit war das noch einfach herstellbar. Ein angstloses Kollektiv, das, wie Mao propagierte, »Keine Angst vor Vierteilung hatte«, konnte schlicht und einfach bewaffnet die Systemfrage aufwerfen und als eine Art Gegensouverän auftreten. Es gab damals noch den großen »Gegensouverän«: die realsozialistischen Staaten und einen sich scheinbar neu entwickelnden: die Antikolonialen Bewegungen im Trikont.</p>
<p>Schon lange kenne wir die Grenze dessen: Die zu Staaten gewordenen Befreiungsbewegungen sind innerhalb des kapitalistischen Weltsystems entrevolutioniert worden. Die ganzen bewaffneten Gruppen, darunter auch meine, sind irgendwann auf der Stelle getreten, d.h. sie hatten ihr Potential ausgereizt und konnten nichts neues mehr setzen, die einen früher, die anderen später. Der Grund dafür blieb der gleich: Die Dinge bzw. die gesellschaftlichen Dinge hatten noch nicht von sich aus ihr Zerstörungspotential vermittelt.</p>
<p>Heute leben wir im Widerspruch, dass wir scheinbar eine Reife der Zeit habe, eine, in der unzähliges himmelschreiend darauf hinweist, dass es so nicht weitergehen darf, und eine Subjektivität und vor allem Vereinzelung, die uns machtlos aussehen lässt. Manche versuchen an dieser Machtlosigkeit etwas zu ändern. Hier denke ich z.B. an die Klima-Bewegung oder solche, die wie in Ungar sich gegen die staatlich geschützten Faschisten stellen. Aber wir entkommen damit der Ohnmacht nicht. Es findet sich kein Hebel, um alles aushebeln zu können.</p>
<p>Diese Ohnmacht resultiert aus einer fundamentalen Erfahrung heraus, die alle ahnen aber nicht in den Griff bekommen: Es gibt kein Subjekt von Herrschaft mehr. Aber wenn es kein Herrschaftssubjekt gibt, gegen wen kämpfen dann die Sklaven?</p>
<p>Man darf hierbei eines nicht machen: Herrschaft gleichzusetzen mit der Macht von Konzernen, Institutionen oder dem Staat. Überall gibt es Machtverhältnisse, in der institutionellen Hierarchie, in den Geschlechtsverhältnissen, zwischen denen die Geld haben und die keines haben, zwischen denen, die zuschlagen können und denen, die das nicht können. Das ließe sich noch hundertfach erweitern.</p>
<p>Wenn ich von fehlender Herrschaftssubjektivität spreche, dann spreche ich von grundlegender Herrschaft, von der, die über unserem Leben steht. Und diese Herrschaft ist signifikant. Sie macht u.a., dass wir hier ratlos sitzen. Aber es ist eine Systemherrschaft, die überall ist und gleichzeitig kein Zentrum und keine wirkliche Personifizierung besitzt. ›Wir haben Trump nicht zu fürchten‹, erklärte damals der Präsident der amerikanische FED, also des US-Zentralbankensystems, Alan Greenspan, weil das System sich inzwischen so globalisiert und herausgebildet hat, dass es von alleine funktioniert und alle zwingt. Es zwingt eben nicht nur Le Pen und Meloni, Mélenchon oder Wagenknecht, auch in die Mitte zu gehen, es zwingt auch den Führer der noch mächtigsten Nation, den USA, die Antiglobalisierungsbewegung auf rechts zu machen, sich also gegen eine Globalisierung zu stellen, die sie selber vorangetrieben hatten, der sie nun aber auch selbst unterworfen sind. Die dämlichen Fantasien der 70er Jahre aus den Metropolen von der Blaupausenmacht, in der sich das Wissen sammelt und die anderen müssen es abkaufen und die Arbeit machen, haben sich schnell blamiert.</p>
<p>Wir leben, wie ich an anderer Stelle schon mal aufzuführen versucht habe, unter der Herrschaft einer Nicht-Subjektivität, nämlich der des globalisierten freien Marktes. Und deswegen sitzen wir hier herum. Nicht weil wir feige oder faul sind, sondern weil wir vor einem Makrosystem stehen, dass rasend auf- und abbaut, spekuliert und den Ekstasen der Geldakkumulation folgt, wie mein Freund Achim Szepanski immer wieder zu fassen versucht. Und nichts in der Hand haben. Eigentlich warten wir auf den großen Knall, auf die Überdehnung, darauf, dass die inneren Bremsen des Systems versagen und es in einer irren Beschleunigung auseinanderfällt. Aber dieses Warten kommt eher aus der Ohnmacht, wirkungsrelevant zu handeln. Und ist auch gefährlich. Denn wir wissen auch: Wenn das System aus Überdehnung und Beschleunigung auseinanderfällt, dann fliegen uns die Trümmer um die Ohren und erschlagen uns, so wie die Raketen von hier nach da massenhaft töten, ob in Gaza oder in der Ukraine.</p>
<p>Das System hat inzwischen eine offensichtlich kranke Machtelite hervorgebracht, die wieder im Kriegsmodus ist, den Ausnahmezustand als Lösung der Fundamentalkrise sucht und darin ihre Scheinsubjektivität erfährt. Kapitalistenvertreter, die Kapitalistenvertreter bekämpfen, »liberale gegen autoritäre« und das als Freiheitskampf maskieren. Die Systemelite zockt wieder mit dem Leben von Millionen. Was sehnt man sich manchmal nach Zeiten zurück, wo man Feinde mit Charakter und Intelligenz hatte, wie bspw. Franz-Joseph Strauß, wenn man dagegen heute die Sprechpuppen einer verselbständigten Logik sich anschauen muss und gezwungen werden soll, diese Baerbooks, Habecks, Scholzs, Linders und diese ganzen Nicht-Existenzen anzuhören?</p>
<p>Das war ja auch der Hintergrund von Agamben, wenn er für »Geschäftslosigkeit« plädierte. Einfach mal aufhören, mitzumachen, weiterzumachen, irgendetwas tun, was wie neues Handeln erscheint und doch aus der Routine des Alten nicht herauskommt. Geschäftslosigkeit und Verlangsamung – so in seiner Überlegung als Möglichkeit, die rasende Megamaschine des Kapitals zu verlangsamen als Bedingung, überhaupt erst in ihr »Maschinengestänge«, um im Bild zu bleiben, eingreifen zu können. Es sieht nicht danach aus, dass es irgendwo eine Kraft gibt, der das gelingt. Das verheißt uns nichts Gutes. Was bleibt uns dann? Es bleibt uns nichts, <strong>wenn unsere Ohnmacht nicht in die Wut umschlägt, die alles will.</strong> Es ist geradezu absurd, wie unser Leben in einem absolut leeren System verrinnt. Ich gebe hier keine Widerstandsform vor. Aber wir müssen die Gesellschaft besetzen mit ihrer vollständigen Negation. Nichts weniger. Damit sind wir wieder da, wo wir früher schon mal waren.</p>
<p>Rede auf der Veranstaltung: Gezeiten der Revolte, 12.07.2024 in Berlin.</p>
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Autor/Gruppe: 
Karl-Heinz Dellwo
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Dienstag, Juli 16, 2024 - 22:57