Macht der Kapitalismus depressiv?

Martin Dornes und Martin Altmeyer beantworten diese falsche Frage in der Zeit: „Macht der Kapitalismus depressiv? Nein.“

Die Autoren beginnen ihren Artikel mit der Vorstellung zweier Arten der psychosozialen Kapitalismuskritik – es soll ja schließlich differenziert zugehen -, die sich schlicht als das gleiche entpuppen: „Die eine besagt, die Menschen litten an einer Überfülle von Freiheiten und Optionen: Von den Zumutungen einer selbstbestimmten Lebensführung psychisch überfordert, ziehe sich ein zunehmend "erschöpftes Selbst" in die Depression zurück. Dieser "postmodernen" steht eine "spätkapitalistische" Theorie der Depressionszunahme gegenüber. Ihr zufolge treibe nicht zu viel Freiheit, sondern ein Übermaß an Leistungsanforderungen immer mehr Menschen in die Erschöpfung.“ Das Freiheit nichts anderes Bedeutet als eine Zumutung an ihre Träger, für Ihr Ein- und Auskommen selbst zu sorgen ist den beiden Martins kein Begriff. So wird zuerst geschieden was zusammen gehört – die gute Freiheit und die bösen, als Leistungsanforderungen euphemistisch beschriebenen Härten der Lohnarbeit – um dann keine der ‚beiden‘ Theorien weiter zu behandeln oder gar zu kritisieren.

Die Martins arbeiten lieber empirisch und finden scheinbar entlastendes Material für ihr Sorgekinde, den Kapitalismus: „Wissenschaftliche Untersuchungen, mit denen die Verbreitung von Krankheiten ermittelt wird, sogenannte epidemiologische Studien, zeigen zwischen 1947 und 2012 keinen Anstieg von Depressionen und anderen psychischen Störungen. Es gibt keine konsistenten Belege dafür, dass diese Erkrankungen zugenommen hätten – weder bei Erwachsenen noch bei Kindern.“ Dabei scheinen die Autoren schlicht vergessen zu haben, dass auch 1947 die Menschen im Kapitalismus gelebt haben. Ihre Frage: Macht der Kapitalismus depressiv? wird weder bestätigt noch verneint mit der Tatsache – mag sie stimmen oder nicht – das die Depressionen in den letzten 60 Jahren nicht zugenommen haben. Mit dieser Methode könnte auch der Zusammenhang zwischen dem ersten Weltkrieg und toten Soldaten geleugnet werden, weil zwischen 1915 und 1917 kein Anstieg der toten Frontsoldaten zu verzeichnen war.

Ist die Frage, die einmal gestellt war erst einmal derart unbeantwortet aus dem Weg geräumt, kommt der Artikel erst richtig in Fahrt: Mit Depressionen kann der Kapitalismus gar nichts zu tun haben, ist er doch gerade für unser Glück verantwortlich: „Die Suizidraten haben seit 1980 abgenommen, die Tötungsdelikte ebenfalls. Dagegen hat die subjektive Lebenszufriedenheit in drei Vierteln von 52 untersuchten Ländern, in denen entsprechende Studien durchgeführt wurden, zwischen 1981 und 2007 zugenommen. Da dieser Zeitraum mit der globalen Ausbreitung des Kapitalismus zusammenfällt, sollte die antikapitalistisch argumentierende Globalisierungskritik einmal innehalten. Anscheinend überwiegen die positiven Folgen ökonomischer und gesellschaftlicher Modernisierung deren negative Folgen, jedenfalls in der Mehrheit der untersuchten Länder.“

Die Frage, ob es auch Menschen gibt, welche sich 1981 weniger zufrieden mit ihren Lebensverhältnissen gezeigt haben als 2007 hat natürlich mit dem Zusammenhang zwischen Depression und Kapitalismus ebenfalls nichts zu tun. Allein die Tatsache, dass Kapitalismus nicht notwendig Depressiv macht, scheint hier als Argument herhalten zu müssen dafür, dass der Kapitalismus angeblich nichts mit den geistigen Stellungen der Leute zu der von ihm erzeugen Lebensrealität zu tun hat. Hier wird klar: Die Frage „Macht der Kapitalismus depressiv“ ist falsch.

Depressiv macht nicht ein Zustand, sondern die Urteile die jemand über sich, sein Leben und über die Fährnisse welchen er ausgesetzt ist fällt. Subjekt beim Denken ist eben der Mensch und nicht ein Zustand. Deshalb ist die Antwort der Autoren nicht weniger absurd: „Nein“ klingt bei dem Soziologe Martin und dem Psychologe Martin tatsächlich so, als ob die Depressionen nichts zu tun hätten mit jenen Zuständen, auf die ein Mensch reflektiert und nachdenkt und darüber – mag sein Urteil auch falsch sein – Depressiv wird. Davon wissen auch die Autoren, auch wenn sich ihre Antwort als Lob über die Verhältnisse liest:

„Mit der Modernisierung der Welt modernisiert sich eben auch das Seelenleben: Es entkrampft sich und wird durchlässiger für vormals tabuisierte innere Impulse und äußere Anregungen. Wahrscheinlich wird es dadurch auch irritierbarer und ablenkungsanfälliger. Wo innere und äußere Festlegungen nachlassen, steigen die Anforderungen an die eigene Selbststeuerungsfähigkeit, aber auch die Gestaltungs- und Freiheitsspielräume des Einzelnen. Daran kann man scheitern.“

Von dem journalistischen Neusprech gereinigt kann man dem dann zugegebenermaßen stark veränderten Fazit zustimmen: Wo jeder Einzelne in die Verantwortung gesetzt wird, mit seinen Mittel voran zu kommen, muss ein Teil scheitern. Falsch erklärtes Scheitern führt dann dazu, sich auch noch selbst in die Verantwortung zu nehmen für die Beschädigung und über sich selbst mehr zu verzweifeln als über das Übel, dass einem angetan wird. Bei den beiden Autoren indes ist dieses Urteil als Lob des Kapitalismus zu verstehen: Weil man immer noch die Möglichkeit hat, mit seiner Beschädigung so umzugehen, dass man nicht Depressiv wird, können sie guten Gewissens ihre eigene falsche Frage mit Nein beantworten: Depressiv macht nicht der Kapitalismus, sondern der falsche Umgang mit seinen Härten.
Quod erat demonstrandum: Die Leute sind doch selbst Schuld an ihrem Elend.

Alle Zitate aus http://www.zeit.de/2015/02/kapitalismus-depression-untersuchung-studie

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Ergänzungen

Ein Beitrag zum Zusammenhang zwischen Kapitalismus und Depression findet sich im Artikel "Abstraktive Arbeit, konsumtives Wohl und Depression" (in Streifzüge Nr. 55, Wien, 2012). Vgl.   http://www.meinhard-creydt.de/archives/402