Paris gehört uns
Noch nie zuvor waren die Champs Élysées wirklich "die schönste Allee der Welt". Für einen Tag wurde diese Arterie, dieses Symbol des Luxus, zur Verkörperung einer wiedergewonnenen gemeinsamen Kraft.
Ja, die Ordnung hat es geschafft, den größten Teil der Unruhe auf die Champs und die umliegenden Straßen einzugrenzen - trotz einiger mehr oder weniger erfolgreicher Versuche der wilden Ausbrüche. Der XVIII. Akt gewann an Intensität, was er durch die geographische Ausdehnung verlor. Aber es reichte, um die Gelben Westen den ganzen Nachmittag "Revolution" anstimmen zu hören. Es reichte, um zu sehen, wie die Menge die riesige Metallplatte, die den Bulgari Shop schützte, herunterriss, sie vorwärts trug und die Polizei angriff - und dabei rief: "Wir haben gewonnen! Wir haben gewonnen!". Es genügte, um zu sehen, wie die Transparente nur wenige Meter vom Arc de Triomphe entfernt waren, dem Rückzugsort des Gegners, und dieser vor unserem Angriff vor dem Louis Vuitton fliehen musste (1). Kurz gesagt, es reichte aus, da zu sein, um zu begreifen.
Trotz des offensichtlichen Machtverhältnisses gab es eine wahnsinnige Entschlossenheit, ein überbordendes Vertrauen: Die Menschen hatten keine Angst mehr. Bei einem Aufstand kommt es nicht auf die Menge der Sachschäden an, die Zahl der eingeschlagenen Fenster, geworfenen Steine oder verbrannten Autos. Nein, was zählt, ist die Qualität. Es ist die kollektive Energie, die freigesetzt wird, und wie dieser Einsatz das Bewusstsein verändert. Es zählen nicht die statistischen Verluste, die dem Feind zugefügt werden. Es sind die politischen und ideellen Kräfte, die unter den Menschen freigesetzt wurden.
Die Medien und die Regierung, die von den "1500 Ultragewalttätern" besessen sind, die angeblich die Gewalt organisiert haben, verschleiern die Wahrheit. Am 16. März nahmen alle auf und um die Champs auf die eine oder andere Weise an dem Aufstand teil.
Im Gegensatz zu den ersten Akten dachte niemand daran die Plünderungen, Zerstörungen oder Auseinandersetzung mit der Polizei zu verdammen oder dagegen zu intervenieren. Splitternde Scheiben und Hammerschläge wurden mit Begeisterung aufgenommen. Für die Tausenden von Anwesenden erschien all dies völlig logisch, ja geradezu normal. Wie in der plötzlich klarsichtigen 'Le Monde' zusammengefasst: "In den ersten Wochen der Bewegung gab es immer wieder Demonstranten, die gegen die Plünderer protestierten. Diesmal nicht."
Das ist es, was die Regierung entsetzt: Es ist unmöglich, die vom Verlauf des Ereignisses mitgerissenen Menschen zu spalten. Was für ein Grauen, friedliche Mütter und Väter, auf den Samtsofas vor 'Fouquets' in Flammen (2) sitzend, lächeln zu sehen. Castaner (3) ermutigte sie immer wieder, sich von den "Vandalen" zu distanzieren. Aber all dieses Gerede war umsonst, unerhört. Die Arroganz der Regierung und die Brutalität ihrer Polizei haben solche Dimensionen erreicht, dass es keinen Raum für Distanzierungen gibt.
Dies ist ein weiterer Beweis dafür, dass Volksaufstände diejenigen, die an ihnen teilnehmen, wachrütteln. Die Menschen entwickeln ihre Überzeugungen und Gewissheiten durch den Kontakt mit der konkreten Praxis. Heute ist der prinzipientreue Pazifismus fast aus den Demonstrationen der Gelben Westen verschwunden. Auch die Blauäugigkeit gegenüber staatlicher Repression ist geschwunden. Erinnern Sie sich an diejenigen, die vor nicht allzu langer Zeit so getan haben, als könnten sie die Gelben Westen in diese oder jene Schublade stecken? Der einen oder anderen innewohnenden ideologischen Identität zuordnen.
Aber wer ist verantwortlich für diese fortschreitende "Radikalisierung" der Gelben Westen? Wer hat es geschafft, sie davon zu überzeugen, dass sich nur der Antagonismus lohnt, wenn nicht die Regierung selbst? Der Aufstand erreichte innerhalb von drei Wochen das, was traditionelle soziale Bewegungen seit Jahrzehnten nicht mehr erreicht haben. Indem Macron Anfang Dezember den Forderungen der Gelben Westen nachgab, bestätigte er, dass der Staat nur dann gesellschaftliche Bedürfnisse wahrnimmt, wenn er dazu gezwungen ist und wenn er nichts anderes mehr tun kann. Die Gelben Westen haben das perfekt verstanden:
"Wir haben erkannt, dass man uns nur dann hört, wenn wir zerstören." - Johnny (37), Leiter einer Kindertagesstätte
"Es ist großartig zu zerstören, denn die Bourgeoisie ist sich in ihrer Blase so sicher. Sie müssen um ihre körperliche Sicherheit fürchten, damit sie nachgeben.." - Anne, eine Postbotin (33) aus Toulouse
Dass die Bewegung nach 18 Wochen wieder ein solches Konfliktniveau erreicht hat, ist bereits eine bemerkenswerte Tatsache. Aber das Ultimatum des 16. März sollte kein letzter, wenn auch extravaganter Schwanengesang sein. Nichts könnte gefährlicher sein als die Zufriedenheit mit diesem Samstag. Er macht nur als Sprungbrett Sinn. Es geht darum, dieses Ereignis zu nutzen, um eine neue Phase einzuleiten, um eine neue Grundlage des Kampfes aufzubauen.
Die starken parallelen Mobilisierungen für den Klimaschutz und gegen [rassistische] Übergriffe der Polizei (4) stellten die brennende Frage der Koagulation. Weil der Aufruhr, auch wenn er wiederholt wird, unzureichend ist. Er muss mit einer Wiederbelebung der Blockaden der Ökonomie und mit der Fortsetzung der politischen und strategischen Präzisierungen verbunden sein. Éric Drouet (5) erkannte dies am Samstagabend: Die beaufsichtigten Spaziergänge waren nutzlos. Nur die Überwindung von vorgegebenen Rahmenbedingungen und eine weit verbreitete Sabotage der Wirtschaft können die Bewegung zum Sieg führen.
Wir haben keine Wahl: Die ersten Ansätze der repressiven Reaktion deuten darauf hin, was die Unterdrückung der gegenwärtigen Bewegung für alle bedeuten wird.
Fussnoten
(1) https://twitter.com/i/status/1106999631882391558
(2) Luxusrestaurant auf den Champs. Hier feierte z.B. Sakorzy medial seinen Wahlsieg. Darauf nahmen dann auch tags am am 16. März zerstörten Restaurant Bezug. Das Restaurant wurde erst im Innenbereich verwüstet, später geriet die Markise des Vorbaus in Brand, wobei unklar ist, ob eine Tränengaskartusche dafür die Ursache war.
(3) Französischer Innenminister
(4) Zeitgleich zum Acte 18 (Ultimatum) fanden in Paris ein Sternmarsch gegen die Klimakatastrophe (um die 80.000 Menschen) und eine seit langem geplante Demo gegen rassistische Polizeigewalt (vor allem in den Vorstädten und gegen sans papiers statt (um die 10.000 Menschen).
(5) Eines der bekannten Gesichter der GJ. Er genießt ein hohes Ansehen in allen Spektren.
Der Text erschien im Orginal: https://acta.zone/paris-est-a-nous/, auf englisch: https://gatorna.info/threads/paris-is-ours-2074/