Gelber Brief No17 - Die Totalitären
Seit Beginn der Bewegung der 'Gilets Jaunes' werden mysteriöse 'Gelbe Briefe' an den Verkehrskreiseln und in den sozialen Netzwerken verteilt. Hier die Übersetzung des 17. Briefes, veröffentlicht am 14.01.2019 auf Lundi Matin.
In den letzten Tagen ist die verbale Eskalation nun an ihrer Quintessenz angelangt. Der Widerspruch zwischen der Realität von Oben und der Realität von Unten ist klar umrissen: Es gibt das Böse und es gibt das Gute! Wir sind böse, sie sind gut! Die Oberen predigen die "freie Welt", indem sie imaginäre Feinde erschaffen, um ihren folgerichtigen Triumph zu feiern. "Wir wollen Meinungsfreiheit"; "Wir wollen das Recht auf Protest verteidigen"; "Wir wollen alle Meinungen respektieren"! Aber sie benutzen diese ideologischen Vorführungen, um sich mit Tugenden zu schmücken und die wahre Natur ihrer Handlungen zu verbergen! Sie sind talentierte Illusionisten, aber ihre Zaubertricks überzeugen nicht mehr. Wir, die 'Gilets Jaunes', sehen ihre geballte Faust unter dem Samthandschuh.
Im Gegensatz zu ihren betörenden Gesängen über "Die Freiheit" sind die da Oben nun bereit, alle notwendigen Mittel einzusetzen, um jene von Unten zu eliminieren: Das Verbot von Demonstrationen, Vorbeugehaft, Diebstahl gemeinschaftlicher Fonds zur Finanzierung unseres Kampfes, Serienverurteilungen, Überwachungsdateien.... Diese Mittel wurden bis vor kurzem von wohlfeilen Reden verdeckt: Freiheit gegen Unterdrückung! Freiheit gegen die Knechtschaft! Gewaltfreiheit! Freiheit gegen Tyrannei! Aber die Freiheit von Oben wird in Wirklichkeit als erzwungene Normierung realisiert. Indem sie ein einzigartiges Universum, eine einzigartige Denkweise, eine einzigartige Handlungsweise, eine einzigartige Produktionsweise, eine einzigartige Lebensweise hervorgebracht haben, haben sie langsam aber sicher eine beispiellose totalitäre Logik geschaffen, im Namen der geschätzten Freiheit. Sie sind im Gegenteil die erbitterten Feinde der Freiheit. Sie sind totalitär, weil sie die Waren- und die Rechtsuniformität zur einzigen und ausschließlichen Norm für alle machen wollen: Die gleiche Kleidung! Die gleichen Männer! Die gleichen Frauen! Die gleichen Stadtzentren! Die gleiche Unterhaltung! Die gleichen Jobs! Die gleichen Leiden! Der gleiche elende Albtraum!
Diese Standardisierung erzeugt erstaunliche Identitäten, die immer weiter von dem Leben derer hier Unten entfernt sind. Die Europäische Union ist die letzte „Matroschka“ im System. Sie schluckte die Staaten und unterwarf sie ihrer vereinheitlichenden Gestalt. Aber die Staaten hatten zuvor schon alle regionalen Besonderheiten aufgelöst, um alles zu einem großen nationalen Ensemble zusammenzuführen. Statistiker und die fanatischen Anhänger der Europäischen Union sind vom gleichen Syndrom betroffen: der Zerstörung der Welten darunter. Jedes Mal geht es darum, eine Vereinheitlichung zu verwirklichen, die immer weiter vom konkreten Leben, vom lokalen Leben, vom alltäglichen Leben entfernt ist!
Es ist nicht die Sache von Brüssel, Frankfurt, Paris, Berlin oder Madrid, die Größe einer Tomate zu definieren, oder wie man lebt und produziert! Es obliegt nicht Brüssel, für Paris zu entscheiden! Aber es ist auch nicht Sache von Paris, für Eymoutiers, für Mont-de-Marsan, für Colmar zu entscheiden. Im Gegenteil, von hier unten beginnend entsteht das gemeinschaftliche Leben! Am Apfelbaum ist kein Apfel gleich. Aber bei denen da oben muss der Apfel Frankreichs derselbe sein wie der aus Rumänien! Der Apfel aus 'Landes' (gemeint ist die Region im Südwesten Frankreichs) muss mit dem Apfel der Normandie identisch sein! Diese Gleichmachung von oben besteht darin, eine imaginäre Idee zu fixieren, die sich von der Realität löst. Diese Inferenzierung von oben berücksichtigt nicht mehr die Fülle der Unterschiede. Sie erzeugt ein totes und standardisiertes Leben.
Aber wir, Männer und Frauen aus der Tiefe der Gesellschaft, wir 'Gilets Jaunes', wir verkörpern die Besonderheiten. Wir verteidigen Charaktere, Nuancen, Chancen. Wir verteidigen andere Lebensweisen! Wir verteidigen die Vielfalt des Lebens und nicht seine Verarmung! Wir verteidigen das verankerte Recht aller Männer und Frauen, Teil des Lebens zu sein, um Vielfältigkeiten hervorzubringen und keine stromlinienförmigen Identitäten! Das Universum derer da oben will einen oberflächlichen Menschen monströser Identität kreieren! Die Welt derer von hier unten will die Wärme, die Farbe und die Neugierde des Andersseins wiederfinden!
Für uns!
Anmerkung:
Die (freie und sinngemäße) Übersetzung erfolgte vorwiegend aus der englischen Version, die auf 'autonomies' veröffentlicht wurde http://autonomies.org/2019/01/the-gilets-jaunes-a-rebellion-against-the-totalitarians/#more-10009. Die französische Version erschien hier: https://lundi.am/Lettre-jaune-17-Les-Totalitaires
Ergänzungen
Vom Diskurs leider Biologismus ...
Ob eine Betonung von "natürlichen" Heimatressourcen und dem eigenen Sein des Regionalismus der richtige Weg gegen nationalistische und antieuropäische rechte Strömungen der gegenwärtigen Zeit ist, wage ich zu bezweifen. Diese Logik greift rechte Begriffswelten auf und macht solche Diskurse stärker statt schwächer.