Interview zum Bremer Hauptbahnhof: Verdrängung hilft nicht gegen Armut
Interview zur aktuellen Situation am Bremer Hauptbahnhof mit einer Genossin, die in diesem Bereich arbeitet.
Seit mehreren Wochen führt die Bremer Polizei regelmäßig Aktionen zur „Bekämpfung der Straßen- und Drogenkriminalität“ am Hauptbahnhof durch. Die treffen vor allem wohnungslose oder drogengebrauchende Menschen. Das Ziel der Politik: Verdrängung der Menschen, damit Passant*innen sich nicht mehr gestört fühlen. Die Kontrollierten werden sozial und teilweise rassistisch abgewertet, kriminalisiert und müssen erniedrigende, repressive Maßnahmen über sich ergehen lassen. Warum all die Repression der Behörden die Situation nicht verbessern wird – und was die immer schlechteren Lebensumstände vieler Wohnungsloser und drogengebrauchender Menschen damit zu tun haben, hat uns eine Genossin die in diesem Bereich beruflich tätig ist, im Interview erzählt.
Die bürgerliche Presse spricht von Suchtkranken und stigmatisiert damit. Wovon sprichst du?
Ich spreche von drogengebrauchenden Menschen.
Warum?
Ich finde es wichtig, dass sich bewusst gemacht wird, dass es ein gesellschaftlich gemachtes Ding ist, dass Sucht eine Krankheit ist. Eine Krankheit, das bedeutet gesellschaftlich immer auch stigmatisiert zu sein. Ich finde, dass „drogengebrauchende Menschen“ erst mal neutral ist. In der Einrichtung in der ich arbeite, gebrauchen wir das in unserem Arbeitsalltag. Und das finde ich auch gut.
Weil es ein rein beschreibender Begriff ist?
Genau! Und anhand dessen guckt man, was ist denn hier eigentlich konkret los? Was bringen Menschen überhaupt als Probleme mit? Es gibt Leute, die sagen von sich, mein Problem ist nicht die Sucht, sondern mein Problem sind die Umstände drum herum. Das sie ihre Wohnung verloren haben, ist ihr Problem. Warum sie ihre Wohnung verloren haben. Weitere, andere Umstände und komplexe Zusammenhänge spielen hier oft noch mit hinein. Aber all das muss nicht unbedingt liiert sein mit der Sucht.
Am Hauptbahnhof halten sich viel mehr Menschen als sonst auf, die Drogen gebrauchend sind. Warum denkst du, ist das so? Und, ist das eigentlich überhaupt so? Oder sind die Leute einfach nur alle mehr komprimierter an einen Ort?
Die Zahl von opiatabhängigen Menschen hat in Bremen zugenommen. Da gibt es auch Zahlen zu. Es sind mehr Leute geworden, auch unter anderem wegen Corona. Da spitzte sich vieles ja auch noch mal mehr zu, weil auch Beratungsstellen dicht gehabt haben. Die Lebensumstände werden allgemein prekärer in den letzten Monaten. Es gibt viele Angebote der Suchthilfe und des Streetworks konzentriert in der Nähe des Hauptbahnhofs. „Comeback“ ist zum Beispiel am Hauptbahnhof. Da werden Leute substituiert, da gehen sie rein um Kaffee zu trinken und Beratung sich abzuholen und sonstiges. Und dann tummeln sich da ja auch Dealer am Bahnhof und so bildet sich dann am Hauptbahnhof solch ein konzentrierter Punkt.
Warum sind während Corona es mehr Leute geworden? Du sagst, es hat was damit zu tun, dass Beratungsangebote in der Zeit weniger geworden sind?
Ja, die mussten dichtmachen.
Also sind die Personen, die sich am Hauptbahnhof aufhalten sonst in Beratungsangeboten drin gewesen und hätten sich da aufgehalten?
Naja, schon. Es gibt ja so was wie Wärmestuben oder Aufenthaltsorte. Die wurden ja auch genutzt und die sind weggefallen.
Hast du da Beispiele in Bremen von Orten, die da dichtgemacht wurden?
„Comeback“ zum Beispiel. Die haben einen Cafebetrieb und der musste zweitweise eingestellt werden. Es konnten immer nur einzelne Personen rein, wenn es nötig gewesen ist zur offenen Beratung. Dann wurde man durchgeschleust oder einzeln durften Leute rein um sich Nadeln oder Besteck zu organisieren. Das „Cafe Papagei“, was eine reine Wohnungslosenhilfeeinrichtung ist, hatte auch dicht, soweit ich das weiß. Einzeln konnten Leute da reinkommen. Aber ein Café-Betrieb in den man sich reinsetzen kann, hat nicht stattgefunden.
Aber jetzt können doch die Leute da wieder dahin zurückgehen, weil sie offen sind, oder? Es sind aber doch trotzdem immer noch viel mehr Leute am Bahnhof als sonst, oder nicht?
Ja. Aber auch die Lebensumstände sind immer prekärer geworden.
Kannst du dafür ein Beispiel geben? Und warum ist das jetzt gerade so? Liegt das allgemein an der Inflation und Preiserhöhungen gerade? Was ist das Besondere, dass das jetzt zur Folge hat?
Ich würde sagen, ja, die Preiserhöhungen und die Inflation nehmen darauf einen großen Einfluss. Es ist überhaupt schwierig eine Wohnung zu bekommen. Es ist noch schwieriger für bestimmte gesellschaftliche Gruppen eine Wohnung zu bekommen. drogengebrauchende Menschen sind keine sonderlich beliebten Mieter*innen, viele von ihnen verlieren ihre Wohnungen sehr leicht. Während der Pandemie haben sich zudem auch nochmal die psychischen Probleme vieler Menschen noch weiter verstärkt. Viel mehr Menschen als vorher ging und geht es sehr viel schlechter. Darunter hat ja alles Mögliche gelitten. Rund um den Hauptbahnhof halten sich ja nicht nur Leute auf, die als „Problematik“ Drogenkonsum haben, sondern auch Personen mit salopp gesagt, psychischen Auffälligkeiten. Das ist ein Sammelsurium.
Du hast eben gesagt, die Leute sind auch viel am Bahnhof, weil da Comeback und ähnliche Beratungseinrichtungen sind. Das könnte man ja drehen und sagen, die Leute gehen dahin wegen den Beratungseinrichtungen. Die sind das Problem. Aber die Beratungseinrichtungen ziehen doch die Leute nicht zum Bahnhof, oder?
Nein. Das wurde ja schon auch medial in der letzten Zeit diskutiert, ob das so schlau ist, dass das alles in der Nähe des Hauptbahnhofs angesiedelt ist. Gleichzeitig halte ich es aber auch für falsch zu sagen, das Problem ist die Komprimierung der Einrichtungen am Hauptbahnhof. Es ist gut für die Menschen das dort alles an einem Ort ist. Nicht die Einrichtungen sind das Problem! Eine Verteilung der Einrichtungen an verschiedene, andere Orte würde deshalb daran auch nicht wirklich etwas ändern können. Das Problem ist, dass die Menschen nicht genügend Geld zum Essen haben, aus ihren Wohnungen fliegen und kriminalisiert werden.
In der Presse liest man oft über die Menschen, die sich am Hauptbahnhof aufhalten, dass die sich auch dort an diesen Orten aufhalten, weil es öffentliche Orte sind. Orte, an denen die Leute subjektiv das Gefühl haben nicht ausgeschlossen, auch ein Teil des gesellschaftlichen Geschehens zu sein?
Klar, das kann ich mir super gut vorstellen! Warum soll ich meine Freund*innen auch am „Arsch der Welt“ treffen wollen? Der Hauptbahnhof ist für viele Menschen nicht nur ein Treffpunkt, sondern auch ein wichtiger Ort für ihre sozialen Beziehungen. Warum wird mir dann verboten mich da zu treffen und anderen aber nicht? Ich kann das sehr wohl verstehen.
Würdest du zusammenfassend sagen, dass gerade jetzt so viele Leute am Hauptbahnhof sind, ist auch eine Folge von Corona? Und wenn ja, was für Gründe gibt es noch?
Auch! Ich habe den Eindruck, es stranden gerade auch viele Leute in Bremen aus den umgebenden Städten. Weil da irgendwas nicht funktioniert hat, weil da die Wohnungshilfe vielleicht einfach nicht gut ist. Die Leute kommen dann nach Bremen, weil Bremen der größte Ort in der Umgebung ist. Zudem habe ich den Eindruck, dass gerade auch viele Leute in Bremen ankommen, die aus anderen Rastern rausgefallen sind. Zum Beispiel Gefüchtete die aus Einrichtungen geflogen sind, weil sie süchtig sind oder in Einrichtungen Drogen gebraucht haben, in denen es nicht erlaubt ist und so auf der Straße gelandet sind. Dann habe ich von Kolleg*innen gehört, dass es ein Zuwachs von minderjährigen Menschen gibt. Woher die kommen und was da passiert ist, das weiß ich aber nicht.
Warum Bremen? In der Zeitung liest man, dass Hannover und Hamburg stolz von sich verkünden würden, bei Ihnen sei das alles nicht so. Das sei außergewöhnlich in Bremen.
Nein, das ist nicht wahr! Man muss nur kurz nach Hannover fahren und zum dortigen Hauptbahnhof gehen um sofort sehen zu können: Der Unterschied zwischen Bremen und Hannover ist gering.
Lässt sich dann das Ganze vielleicht wie folgt zusammenfassen: Die allgemeine aktuelle Krisensituation in Folge der die Corona-Pandemie, die viele gesellschaftliche Ausschlüsse und psychische Zumutungen noch weiter verstärkt hat und die momentane Zuspitzung der sozialen Widersprüche, vor allem auf dem Wohnungsmarkt und in Folge der Preiserhöhungen, trifft drogengebrauchende Menschen besonders krass. Diese Menschen waren auch vor der Pandemie und den Preiserhöhungen schon besonders stark von der Kriminalisierung und damit von staatlicher Repression betroffen. Nun kommt aber beides zusammen und findet seinen offensichtlichen Ausdruck am Bremer Hauptbahnhof?
Ja, ich glaube ja. Es ist außerdem wichtig zu hinterfragen in welcher Verfassung eigentlich gerade die Auffangnetze in Bremen sind. Ich weiß, dass das momentane Bremer System da quantitativ nicht für ausreichend ausgelegt ist und das Leute durch Raster fallen, dass das System strukturell nicht für die aktuelle Situation geeignet ist. Gerade letzteres wird aktuell zu einem großen Problem, wenn Leute zu „kompliziert“ werden, zu viele „Päckchen“ mitbringen und dann für keine Unterstützungsmaßnahme mehr tauglich sind. Es wird leider erwartet das die Menschen sich auf die Unterstützungsmaßnahmen einzustellen haben – nichts andersherum wie es sinnig wäre.
Was meinst du, was müsste da passieren? Müssten da mehr Unterstützungsangebote angeboten werden? Oder müsste etwas an den Rastern verändert werden, so dass weniger Leute rausfallen können?
Beides! Die Raster müssen verändert werden und es muss natürlich mehr Angebote geschaffen werden. Nötig ist, die Beratungsangebote individueller auszurichten. Es muss geguckt werden, was braucht der Mensch, was können wir davon geben? Dann muss natürlich das Netz verstärkt werden und vielleicht braucht es auch neue Einrichtungen. Aber eigentlich brauchen die Menschen grundsätzlich nicht mehr Einrichtungen, sondern es braucht mehr Wohnraum. Es braucht Wohnungen in denen Leute auch bleiben können und dort Unterstützung bekommen. Wie können wir dafür sorgen, dass Leute auch in Wohnungen bleiben können, wenn sie „von der Norm abweichend“ laut sind oder durch anderes Verhalten im Wohnhaus auffallen? Das sind Fragen die dringend praktisch gelöst werden müssen!
Nun sind nicht alle Leute die sich am Hauptbahnhof länger aufhalten, wohnungslos. Gemeinsam haben aber alle, ob sie sich da länger aufhalten, da arbeiten oder als Passant*innen da durchlaufen, dass sie den Ort als unangenehm und vielleicht auch als Angstraum erleben. Mein Eindruck als Person, die den Hauptbahnhof fasst täglich zweimal passiert, ist, auch die drogengebrauchenden Personen die sich dort aufhalten, finden den Ort furchtbar und sind alles andere als glücklich über die Situation dort. Hast du eine Idee, wie ein unmittelbar verbessernder Umgang mit der Situation am Hauptbahnhof sein könnte? Oder denkst du, der Hauptbahnhof als Ort ist bereits grundsätzlich schon dafür nicht geeignet, dafür muss ein gänzlicher anderer Ort geschaffen werden?
Die Leute kommen da ja auch hin um sich gewissen Dinge zu beschaffen. Da muss entkriminalisiert werden und Orte müssen geschaffen werden, an denen sich Leute ihren Stoff besorgen können. Ich glaube, damit würde schon viel verändert werden. Dann suchen Leute von sich aus andere Orte auf, wenn sie in einen Laden gehen können um sich Heroin zu beschaffen zu können.
Die Entkriminalisierung von Heroin ist zwar ein erkämpfbares Reformziel. Der Weg dahin, auch auf Grund der aktuellen rechtlichen Möglichkeiten, erscheint mir aber leider noch etwas länger. Hast du noch andere Ideen, was weitere Ziele oder Möglichkeiten auf dem Wege dahin sein könnten?
In anderen Städten lassen sich eine Reihe Beispiele dafür finden, die auch mit der aktuellen Rechtslage bereits sofort möglich wären. Konzepte, die zum Beispiel begrenzten Konsum und dealen in kleinen Mengen in Konsumräumen erlauben. Das wären kleine, erste Schritte die sofort möglich wären und viel entzerren würden.