NSU-Komplex und rechter Terror nach 2011 - Überblick

Vor 10 Jahren sprengte das rechte Terror-Netzwerk NSU (Nationalsozialistischer Untergrund) ihre Wohnung in Zwickau und enttarnte sich dadurch am 4.11.2011 selbst. Am 07.11. stellte sich die Hauptbeschuldigte Beate Z. den Behörden. Mindestens 9 Menschen mit migrantischem Hintergrund wurden durch den NSU und das Unterstützungsumfeld zwischen 2000 und 2007 ermordet:

11.09.2000 Enver Şimşek wird in Nürnberg ermordet.
13.06.2001 Abdurrahim Özüdoğru wird in Nürnberg ermordet.
27.06.2001 Süleyman Taşköprü wird in Hamburg ermordet.
29.08.2001 Habil Kılıç wird in München ermordet.
25.02.2004 Mehmet Turgut wird in Rostock ermordet.
05.06.2005 İsmail Yaşar wird in Nürnberg ermordet.
15.06.2005 Theodoros Boulgarides wird in München ermordet.
04.04.2006 Mehmet Kubaşık wird in Dortmund ermordet.
06.04.2006 Halit Yozgat wird in Kassel im Beisein des Verfassungsschutzes ermordet.

Die Polizistin Kiesewetter, die sich im direkten kollegialen Umfeld einer vom Verfassungsschutz Baden-Würtemberg mit aufgebauten Ku-Kux-Klan-Zelle befand, wurde 2007 in Heilbronn ebenfalls durch den NSU getötet, ihr Kollege überlebte einen Kopfschuss.

Ein weiterer von mind. 43 Mordversuchen des NSU, der mit Sprengstoffanschlägen rassistisch mordend durch das Land zog und sich durch Raubüberfälle und über gute Vernetzung in Neonazi-Strukturen bis hinein in staatliche Strukturen finanzieren und seit 1998 untertauchen konnte.

Unter der schützenden Hand der Sicherheitsbehörden wurde bis heute die vollständige Aufklärung der Morde und Hintergrundstrukturen verhindert. Vorrangig während der Mordserie durch den Verfassungsschutz mit seinen etwa 40 V-Leuten im direkten Umfeld des NSU-Kern-Trios und nach der Selbstenttarnung 2011 durch Aktenvernichtung, Verschlusssachen, Aussageverweigerungen und politische Entscheidungen der Nicht-Aufklärung.[1,2]

Die tiefe Verwicklung des Staates in die rassistischen Morde an so vielen Menschen drückt sich heute in einem Rechtsstaat aus, der lieber das Umfeld des Tat-Netzwerkes schützt, als Aufklärung für die Angehörigen und Überlebenden zu gewährleisten. Die Geschädigten erwarten keine Aufklärung vom Staat und auch keine Hoffnung im Schutz vor rechten Anschlägen.

Bis heute haben einige Bundesländer keinen Untersuchungsausschuss eingerichtet, obwohl der NSU bundesweit aktiv war z.B. Hamburg.
Bis heute sind Akten unter Verschluss, die Hinweise auf Hintergrundstrukturen in Hessen geben könnten, aber auch in die umstrittene Arbeitsweise des Staatsschutzes mit dem V-Leute-System.
Bis heute werden Personen aus dem direkten Umfeld des NSU-Kerntrios nicht zur Rechenschaft gezogen. Darunter sowohl staatlich finanzierte V-Leute als auch dutzende andere Neonazis.[3]

Der NSU war wie andere Neonazi-Terrorgruppen auch in Schleswig-Holstein aktiv und in das deutsch-skandinavische Blood&Honour-Netzwerk eingebunden. So machte das Kerntrio hier öfter Urlaub, spähte Anschlagsziele aus und war mit Personen aus der militanten Neonazi-Szene vernetzt, z.B. mit Strukturen des Ku-Klux-Klan, Combat 18 oder mit Bernd Tödter vom Aryan Circle Germany aus Bad Segeberg, der damals in Kassel lebte und diverse Neonazi-Strukturen aufbaute.[4,5,6,7]

Die Haupttäterin Beate Z. stellte sich am 07.11.2011 den Behörden. Sie scheiterte gerade mit einer Anhörungsrüge vor dem BGH zum NSU-Urteil, allerdings liegt noch eine Verfassungsbeschwerde beim Bundesverfassungsgericht. Sie nutzt alle Rechtszüge die in der BRD möglich sind, um einen Freispruch zu erlangen.[8]

Der Staat hat mittlerweile mehr Personal, mehr Ausrüstung, massive Befugnisse und mehr Geld für Sicherheitsbehörden und Geheimdienste erhalten - an den Strukturen hat sich nichts bedeutendes geändert. Bei Morden an migrantischen Menschen und rassistischen Vorfällen häufen sich zudem Einzeltätertheorien und Ermittlungen im Umfeld der Opfer, statt von vornherein ein ausländerfeindliches, rassistisches Motiv nicht auszuschließen und gerade in Deutschland und seinen Sicherheitsbehörden vorrangig zu fokussieren.

Nach der NSU-Terrorserie endete das rassistische Morden und der institutionelle Rassismus nicht, es kam zu weiteren bisher teils unaufgeklärten Morden und Mordversuchen (unvollständige Aufzählung):

06.01.2016 Mordversuch an Ahmid A. in Kassel. Der irakische Geflüchtete überlebt knapp einen Messerangriff, der mutmaßlich durch den Kasseler Neonazi Stephan E. durchgeführt wurde.[9]

22.07.2016 Morde an Armela S., Sabina S., Can L., Roberto R., Selçuk K., Hüseyin D., Guiliano-Josef K.,Dijamant Z., Sevda D. in München. 9 Menschen mit türkischem, ungarischem, kosovarischem, und Sinti- Hintergrund sterben, darunter 6 Minderjährige. 4 Jahre kämpft eine Kampagne gegen das LKA Bayern um Anerkennung des rassistischen Tatmotivs eines 18-Jährigen, der sich in einem rassistischen Attentäter-Netzwerk befand und den Anschlag am 5 Jahrestag des neonazistischen Utøya-Attentats beging, bei dem 77 Menschen ermordet wurden.[10]

02.06.2019 Mord an Walter Lübcke in Kassel. 11 Mal steht der Kasseler Neonazi Stephan E. in geheimen hessischen Verfassungsschutz-Akten zum NSU, mit Verbindungen zu Combat 18 und dem NSU. Jahre später ermordet er aus rassistischen Gründen den Regierungspräsidenten.[11]

09.10.2019 Morde und Mordversuche in Halle. Nachdem der Schütze ein Blutbad in einer Synagoge anrichten wollte und scheiterte, erschoss er die Passantin Jana Lange und anschließend Kevin Schwarze, der sich in einem Döner-Imbiss befand. Er wurde das zweite Opfer des antisemitischen und rassistischen Attentats, bei dem 68 weitere Personen mit Glück überlebt haben.[12]

19.02.2020 Morde und Mordversuche in Hanau an Gökhan Gültekin, Ferhat Unvar, Fatih Saraçoğlu, Mercedes Kierpacz, Kaloyan Velkov, Vili Viorel Păun, Hamza Kurtović, Sedat Gürbüz und Said Nesar Hashemi. Der Bruder von Said Hashemi wurde neben 4 weiteren Personen angeschossen, überlebte aber den Mordversuch durch einen verschwörungsgläubigen Rassisten. 9 Menschen mit kurdischem, türkischem, afghanischem, bosnischem und Rom:nja- Hintergrund sterben. Der Vater vom Hanauer Schützen war lange vor der Tat polizeibekannt und ebenfalls ein verschwörungsgläubiger Rassist aus Husum.[13]

29.09.2020 Mordversuch in Köln-Porz, als CDU-Politiker Hans-Josef B. nach rassistischen Äußerungen einem Jugendlichen in die Schulter schießt.[14]

17.10.2020 Mordversuch in Henstedt-Ulzburg, als zwei Neonazis einer vierköpfigen Gruppe mit einem Pick-Up versuchten, 4 Antifaschist:innen von hinten zu überfahren.[15]

19.08.2021 Mord in Idar-Oberstein, als ein verschwörungsgläubiger Neonazi mit klarer NS- und Kriegs-Affinität den Kassierer Alex W. erschoss.[16]

Hunderte Menschen sind in Deutschland durch rechte Gewalt ums Leben gekommen. Die Zahlen staatlicher unter unabhängiger Stellen unterscheiden sich. 305 Todesopfer rechter Gewalt seit 1970 wurden 2020 in einem Buch genannt. 2013 kam die Zeit auf 849 Mordopfer mit mutmaßlich rechtem Gewaltmotiv, nur 109 erkennt die Bundesregierung offiziell bis Herbst 2020 an.[17,18]

Mindestens 21 Menschen sind seit der NSU-Enttarnung aus rassistischem oder antisemitischem Motiv durch Neonazis und Rassisten ermordet worden und viele weitere wurden seitdem angegriffen und verletzt. Dutzende Enttarnungen von rassistischen Netzwerken und Neonazis in Sicherheitsbehörden, die regelmäßige aufklärungshinderliche Verstrickung von V-Leuten in Neonazi-Terror oder die Selbstenttarnung eines neofaschistischen, militanten und bewaffneten Netzwerkes haben daran nichts verändert.

Bei der Bekämpfung neofaschistischer Strukturen kann nicht auf die Zusammenarbeit mit staatlichen Stellen gesetzt werden, die den NSU ermöglichten und das V-Leute-System weiterhin nutzen, statt von Rassismus gefährdete Personen präventiv vor Neonazi-Gewalt zu schützen und z.B. Neonazis in Schützenvereinen zu entwaffnen.
Wenn Antifaschist:innen im Rahmen ihrer Möglichkeiten versuchen, Neonazistrukturen aufzudecken und an weiteren Morden zu hindern, die Gesellschaft vor ihnen warnen oder Widersprüche bei Vorfällen rechter Gewalt und staatlicher Ermittlungsarbeit aufzeigen, werden sie kriminalisiert. Wie so oft müssen Antifaschist:innen Repression erdulden, werden diffamiert und staatlich bekämpft. Schleswig-Holstein hat dafür eine Studie "Linksextremismus" als nächste Repressions-Grundlage veröffentlicht, der VVN-BdA wird staatlich attackiert und mehrere Antifaschist:innen sitzen in deutschen Gefängnissen. Der Staat wehrt sich zeitgleich gegen Studien zum Neonazi-Problem in den eigenen Reihen bei den Sicherheitsbehörden und Geheimdiensten.[19]

[1] https://taz.de/Die-NSU-Serie-Teil-2/!5350062/
[2] https://www.nsu-tribunal.de/unsere-anklage-die-behoerdliche-verhinderung...
[3] https://rechercheportaljenashk.noblogs.org/personenuebersicht-jena/
[4] https://quimera.noblogs.org/2013/die-deutsch-danische-connection-npd-blo...
[5] http://antifapinneberg.blogsport.de/2013/12/16/janine-st-und-ihre-verbin...
[6] https://taz.de/Neonazi-mobilisiert-in-Bad-Segeberg/!5628764/
[7] https://www.ndr.de/nachrichten/schleswig-holstein/netzwerk115.html
[8] https://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2021-11/nsu-prozess-beate...
[9] https://exif-recherche.org/?p=6417
[10] https://taz.de/Rassistischer-Anschlag-in-Muenchen-2016/!5782622/
[11] https://exif-recherche.org/?p=6622
[12] https://www.mdr.de/nachrichten/sachsen-anhalt/halle/halle/rechtsextremis...
[13] https://19feb-hanau.org/
[14] https://tatorthu.noblogs.org/
[15] https://tatort-porz.org/
[16] https://www.facebook.com/AntifaDithmarschen/posts/2344171265713351
[17] https://www.fr.de/politik/anhaltende-straflosigkeit-91090419.html
[18] https://www.zeit.de/politik/deutschland/2013-12/nsu-rechtsextremismus-ge...
[19] https://www.soli-antifa-ost.org/darum-anitfa/

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