Jagt einen Pfeil ins Herz des Systems: Eine anarchistische Auseinandersetzung ums Wählen

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Es ist wieder soweit. Seit Wochen ziert Brennmaterial mit abscheulichen Fratzen das Bild der Betonkäfige, welche sie Städte nennen. Die Bundestagswahl steht an.

Während Anarchist_innen sich historisch schon immer Wahlen enthalten haben oder aber zum Wahlboykott aufgerufen haben, versucht so manche befremdliche Seele auf Hopium innerhalb der parlamentarischen Arena zu spielen und andere zu ermutigen sich an diesem Zirkus zu beteiligen. Das Wahlrecht wird als eine Errungenschaft betrachtet. Für das Recht zu wählen haben unzählige Menschen erbitterte Kämpfe ausgefochten und sind dafür gestorben. Warum also stellen so viele Anarchist_innen dieses Recht in Frage?

 

„Alles, was über das Wahlrecht gesagt werden kann, lässt sich in einem Satz zusammenfassen. Wählen heißt, seine eigene Macht aufzugeben. Einen Herrn oder viele zu wählen, für eine lange oder kurze Zeit, bedeutet, die eigene Freiheit aufzugeben… Anstatt die Verteidigung eurer Interessen anderen anzuvertrauen, kümmert euch selbst um die Angelegenheit. Anstatt zu versuchen, Berater zu wählen, die euch in zukünftigen Handlungen leiten werden, macht die Sache selbst, und zwar jetzt! …. Stimmt nicht ab!“ — Elisee Reclus

 

Der gesamte Wahlzirkus soll dich glauben lassen, dass deine Stimme wichtig ist. Jedes Kreuz zählt. Wer der Wahlurne fernbleibt, schneidet sich ins eigene Fleisch. Wer nicht wählen geht, gibt die Stimme dem Feind. Überall werden wir mit Lügen konfrontiert, um die Wahlbeteiligung zu erhöhen, weil es ja auch „ohnehin kein großer Aufwand ist“. Wenn Anarchist_innen argumentieren, dass deine Stimme sowieso keinen Unterschied machen wird, werden sie beschuldigt apathisch oder privilegiert zu sein.

 

Es wird behauptet: „Wenn du nicht wählst, hast du kein Recht, dich über das Ergebnis zu beschweren.“ Doch das absolute Gegenteil ist der Fall. Es sind diejenigen, die gewählt haben, die den Regeln des Systems zugestimmt haben und damit einverstanden waren, von der dominierenden Partei regiert zu werden, die sich nicht beschweren können. Mit der Abgabe deiner Stimme hast du dich bereit erklärt jedes Ergebnis zu akzeptieren.

 

„Los, stimm nur ab! Hab Vertrauen in deine Mandataren, glaub an deine Gewählten. Aber hör auf, dich zu beklagen. Die Joche, die du erleidest, die legst du dir selber auf. Die Verbrechen, die dich quälen, die begehst du selber. Du bist der Herrscher, du bist der Verbrecher, und, welch Ironie, du bist der Sklave, du bist das Opfer.“ — Albert Libertad

 

Die Illusion dieser Show ist eine mögliche Veränderung innerhalb der Mauern des Systems. Die Fratzen mögen sich ändern und einige Menschen werden ein Stück vom Kuchen abbekommen, aber das zugrundeliegende Gerüst aus Kapital, Grenzen, Polizei etc bleibt bestehen. Stellt die Linke die Regierung, so werden Arme vermeintlich entlastet indem die Last auf die Reichen verteilt wird — mit dem Ergebnis, dass die Lebenshaltungskosten im gleichen Umfang steigen werden. Stellen die Grünen die Regierung, so wird mittels einer Ausweitung der angeblich „grünen Energie“ nur eine andere Form des Ökozids begangen. Und das setzt noch voraus, dass das „geringere Übel“ auch wirklich nur die besten Absichten hat. Lasst uns nicht vergessen, dass der Afghanistan-Einsatz von SPD und Grüne beschlossen wurde oder dass es aktuell eine linke Regierung ist, welche in Berlin reihenweise die besetzten Häuser räumen lässt.

 

Doch wir wollen uns hier nicht einzelne Parteien und Politiker_innen beschweren. Und schon gar nicht wollen wir für eine bessere Form der Demokratie kämpfen. Demokratie bedeutet immer Herrschaft und ist der Anarchie entgegengesetzt. Was wir wollen ist freie Selbstbestimmung. Ermächtige dich selbst und werde unregierbar.

 

„Du beklagst dich über die Polizei, die Armee, die Justiz, die Kasernen, die Gefängnisse, die Behörden, die Gesetze, die Minister, die Regierung, die Finanzleute, die Spekulanten, die Beamten, die Bosse, die Priester, die Eigentümer, die Löhne, die Arbeitslosigkeit, das Parlamant, die Steuern, die Zöllner, die Rentiers, die hohen Lebensmittelpreise, die Pachtzinsen und die Mieten, die langen Tage im Betrieb und in der Fabrik, die magere Kost, die unzähligen Entbehrungen und die endlose Menge an sozialen Ungerechtigkeiten. Du beklagst dich, aber du willst die Aufrechterhaltung des Systems, worin du dahinvegetierst.“ — Albert Libertad

 

Sich an Wahlen zu beteiligen ist ein Akt der Hoffnung. Zu hoffen, dass eine wohlwollendere Regierung die notwendigen Maßnahmen ergreift das Leben der Beherrschten zu verbessern. Es ist die selbe falsche Hoffnung wie die der Klimaoptimist_innen, die glauben der Klimawandel wäre noch irgendwie aufhaltbar (wir sind längst mitten drin!). Es kann nur als Realitätsleugnung betrachtet werden.

 

Die Hoffnungslosen wollen kein Stück vom Kuchen, sie wollen die ganze Bäckerei. Die Hoffnungslosen wählen nicht für etwas Veränderung, sie revoltieren und kämpfen für die völlige Demontage des Systems.

 

„Der Staat hat immer nur den Zweck, den Einzelnen zu beschränken, zu bändigen, zu subordinieren, ihn in irgendeinem Allgemeinen untertan zu machen…“ — Max Stirner

 

Uns wird gesagt, dass jede nicht abgegebene Stimme nur den Rechten hilft und es daher notwendig ist, dass das geringere Übel gewinnt, was auch immer das sein mag. Kompromisse mit dem Bösen um das Böse zu verhindern? Tatsächlich setzt das angeblich geringere Übel oft nur die Politik der vorausgegangenen Regierung weiter und ergreift Politiken, die du mit deiner Stimme für diese Politiker_in oder Partei verhindern wolltest. Dieses Spiel lässt sich international beobachten.

 

In den USA hat Obama die Politik Bushs fortgesetzt, während Biden nun die Politik Trumps fortsetzt.

 

In Chile hat die institutionelle Linke die Revolte von 2019 verraten. Während alle auf den Straßen die Aussetzung der Normalität feierten, wünschten sich die selbsternannten Führenden der Linken und der Opposition der Regierung nichts sehnlicher, als schnell zu einem normalen Zustand zurückzukehren. Die institutionelle Linke behauptete, dass das notwendige Ergebnis der Revolte ein Verfassungsreferendum sei. Ehemalige Anführende der chilenischen Student_innenbewegung von 2011, jetzt Politiker_innen, interpretierten den Aufstand schnell als eine Aussage über die zügellose Ungleichheit in Chile, das privatisierte Gesundheitssystem oder das unzureichende Rentensystem. Sie verbreiteten die Angst, dass das Militär einen neuen Staatsstreich inszenieren könnte, falls die Proteste eskalieren sollten. Sie gaben vor, dass die neue Gemeinschaft auf der Straße es vorziehen würde, ihre Teilnahme auf das bloße Ankreuzen eines Kästchens in einem Referendum zu beschränken. Später unterzeichneten die Regierung und die Oppositionsführenden ein Abkommen für ein Verfassungsreferendum, das im Jahr 2020 abgehalten werden soll, und viele linke Politiker_innen stimmten für das „Anti-Masken-, Anti-Plünderungs- und Anti-Barrikadengesetz“ der Regierung. Die Kampagne für einen Volksentschied wurde schnell als das Ergebnis eines Verrats entlarvt und die linken Parteien wurden sofort mit den Konsequenzen ihrer Aktionen konfrontiert, da ihre Mitglieder in Scharen austraten und einige Gruppierungen ganz zusammenbrachen.

 

In Deutschland sollten die Grünen mit ihrer „radikalen Politik“ einst das Aushängeschild für eine grüne Bewegung sein. Heute sollte es für jede Person klar sein, dass die Grünen nur eine Ansammlung von Karrierist_innen sind und eine Business-as-usual-Politik mit einer hübschen blassgrünen Fassade fahren. Krieg, nicht nur in Afghanistan, war für die Grünen schon immer eine tolle Sache und die aktuelle Grünen-Chefin, Annalena Baerbock, fordert schnellere Abschiebungen. Und die Linke? Sie sind nicht einmal in der Lage rechte Politiker_innen in den eigenen Reihen, wie Sahra Wagenknecht, loszuwerden.

 

Die USA zeigen uns zudem, dass Trump nicht durch das Theater des Elektoralismus verhindert wurde. Es waren direkte Aktionen auf der Straße. Hätte es nicht vier Jahre lang intensive Basiskämpfe unter Trump gegeben — besonders sollte man den Sommer der Revolte von 2020 und das starke Wiedererwachen der BLM-Bewegung hervorheben — wäre es ihm wahrscheinlich gelungen, sich auf die eine oder andere Weise an der Macht zu halten. Und wenn wir uns die Politik der vermeintlichen Radikalen ansehen, wie zB von Mickey Leland aus Texas oder Bobby Rush aus Chicago, die beide aus der Black Panther Party stammen, so wurden sie zu konventionellen liberalen Politikern und, was noch wichtiger ist, nichts verbesserte sich für die urbanen Schwarzen Gemeinschaften, die sie repräsentierten.

 

„Wir werden die kapitalistische Klasse nicht abwählen oder diese rassistische Gesellschaft durch Wahlaktionen verändern. Das ist ein reiner Mythos. Wir müssen auf den Straßen und in den Gemeinschaften kämpfen, um dieses ganze System zu demontieren.“ — Lorenzo Kom’boa Ervin

 

Wählen ist eine inhärent autoritäre Aktivität und autoritäre Mittel werden niemals zu wünschenswerten Ergebnissen führen. Der Akt des Wählens ist ein Versuch der Wählenden eine Macht an eine andere Person oder Partei zu delegieren. Demokratie basiert auf Zwang und Anarchist_innen argumentieren, dass niemand Macht über andere haben sollte. Folgerichtig können Anarchist_innen nicht konsequent für das Wählen eintreten. Niemand sollte die Autorität haben, andere zu zwingen, und deshalb sollten sie sich nicht in die Lage versetzen, diese Autorität an Dritte zu delegieren, was das Wesen des Wählens ist.

 

„Die Teilnahme an Wahlen bedeutet die Übertragung des eigenen Willens und der eigenen Entscheidungen auf einen anderen, was den Grundprinzipien des Anarchismus widerspricht.“ — Emma Goldman

 

Nicht wählen zu gehen ist kein Zeichen der Apathie. Es ist ein Zeichen der Ablehnung. Wenn es uns als Anarchist_innen ernst damit ist, andere Wege des Lebens zu finden, sollten wir uns aus dem giftigen Sumpf der Wahlpolitik heraushalten. Dein Akt des Wählens spielt keine Rolle, doch die Tatsache, dass so viele Linke denken, dass es eine Rolle spielt, offenbart eine tiefe kollektivistische Irrationalität.

 

Diese Irrationalität taucht in linken Neigungen im Allgemeinen auf. Sie suchen nicht nach Gelegenheiten für wirkungsvolle direkte Aktionen, sondern verfallen dem Zahlenwahn. Riesige Organisationen, große Mobilisierungen, viel Wahlbeteiligung. Die Zahl wird zum alleinigen Maßstab für den Erfolg. Geh weiter wählen, nimm weiter an Demonstrationen teil, mobilisiere die Massen, dann vielleicht und nur vielleicht….

 

„Lehn die Demokratie ab. Lehne die Vorstellung ab, dass du von irgendjemandem regiert werden solltest. Umarme die Selbstbestimmung. Umarme die Anarchie.“ — ziq

 

Wir plädieren stattdessen für direkte Aktion und dafür, Wege zu finden, um die Dinge zu bekommen, ohne erst zu einer riesigen Masse an Menschen aufsteigen zu müssen oder im Sumpf der Wahlpolitik zu ertrinken. Nicht zu wählen reicht nicht aus.

 

Konkrete Beispiele für direkte Aktionen gibt es genug. So kannst du direkt für selbstverwaltete Gemeinschaften von den Wohnungslosen kämpfen anstatt darauf zu hoffen, dass die nächste Regierung das Problem der Obdachlosigkeit angehen wird. Anarchist_innen aus Gran Canaria liefern uns Praxiserfahrung aus mittlerweile zehn Jahren Kampf.

 

Politiker_innen haben nur die Macht über uns, weil wir sie an ihnen delegieren. Auch wenn wir uns nun wiederholen: Ermächtige dich selbst und werde unregierbar!

 

Dem Elektoralismus verfallende Linke argumentieren, dass wir direkte Aktion und Wahlkrampf kombinieren sollten um zumindest die Situation innerhalb des Systems zu verbessern. Doch das vernachlässigt die Natur des Systems. Wenn uns die Geschichte eins lehrt, dann ist es die Tatsache, dass Macht korrumpiert und wohlwollende Politiker_innen nach einer erfolgreichen Wahl ihre Wahlkampagne von gestern längst wieder vergessen haben.

 

Das, was uns angeboten wird, ist eine Diktatur des Kapitals ohne wirkliche Wahlmöglichkeit. Es gibt reale Grenzen für das, was eine Regierung tun kann. Die wirkliche Entscheidungsfindung findet in den Händen des Kapitals statt. Als Anarchist_innen betrachten wir nicht den Staat als alleiniges Übel — die Strukturen der Macht und Unterdrückung sind alle miteinander verwoben. Regierung und Staat handeln weder allein noch unabhängig. Politiker_innen können somit nur den Kapitalismus etwas „freundlicher“ gestalten, solange es im Rahmen liegt.

 

„Jedes Parlament, ob seine Mehrheit links oder rechts vom Präsidenten sitzt, ist seiner Natur nach konservativ. Denn es muß den bestehenden Staat wollen – oder abtreten. Es kann nichts beschließen, was den Bestand der heutigen Gesellschaft gefährdet, also auch nichts, was denen, die unter der geltenden Ordnung leiden, nützt. Die Entscheidung für diesen oder für jenen Kandidaten ist nicht die Frage des Stichwahltages. Die Frage heißt: Soll ich überhaupt wählen oder tue ich besser, zu Hause zu bleiben? Überlege jeder, daß er mit jedem Schritte, den er zum Wahllokal lenkt, sich öffentlich zur Erhaltung des kapitalistischen Staatssystems bekennt. Frage er sich vorher, ob er das tun will. Wer aber denen glaubt, die vorgeben, durch Ansammlung von möglichst vielen Stimmen, mögen sie gehören, wem sie wollen, die Fähigkeit zu erlangen, in parlamentarischer Diskussion sozialistische Ansprüche zu ertrotzen, dem sei erklärt: solche Behauptung ist blanker Schwindel.“ — Erich Mühsam

 

Für den unwahrscheinlichen Fall, dass eine neue Regierung tatsächlich zu weit gehen sollte, wird diese mit allen Mitteln beseitigt.

 

Lasst uns wieder einen Blick nach Chile werfen: Die demokratisch gewählte Regierung von Allende war ein Schimmer der Hoffnung für die einfache Bevölkerung, doch die Allende-Regierung plante das System zu sehr umzukrempeln und das Ergebnis war ein von der CIA unterstützte Militärputsch. In der unmittelbaren Folge wurden über 30.000 Militante hingerichtet und mehr als eine Million floh ins Exil. Aus dem Schimmer der elektoralen Hoffnung entstand schnell eine brutale Diktatur.

 

„Lasst euch niemals davon täuschen, dass die Reichen zulassen werden, dass ihr Reichtum durch Wahlen abgeschafft wird.“ — Lucy Parsons

 

Als Anarchist_innen glauben wir daher nicht, dass wir mit dem Staat oder innerhalb des Systems arbeiten sollten, noch dass wir es überhaupt können. Unsere Politik sollte die Zerstörung des Staates sein. Die Demontage des Systems in all seinen Formen ist der einzige Weg.

 

Lasst jedes Wahlplakat in Flammen aufgehen. Boykottiert jede Wahl, lasst das lodernde Feuer in euren Herzen entflammen und werdet unregierbar!

 

Jagt einen Pfeil ins Herz des Systems!

 

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Ergänzungen

Der Chavismo war und ist nicht reformistisch. Chavez hat sich vor seiner Machtübernahme militärisch so abgesichert, dass es keinen US-Putsch geben konnte.

Falls sie immer noch siegen sollte, ist die Revolution in Venezuela halt nicht anarchistisch, sondern sozialistisch. Lateinamerika ist nicht Deutschland. Es gibt dort genau so radikale KommunistInnen wie in Deutschland AnarchistInnen. Das ist gut so. Denn in Deutschland würde eine autoritäre revolutionäre Bewegung auf Nationalsozialismus hinauslaufen.

Schaut mal hier: tatuytv.org (falls ihr Spanisch versteht)