Videoüberwachung in Kassel 2020

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Ein Kommentar zur innerstädtischen Ausweitung von Überwachungsstrukturen: "Kassel Watch-Log" nimmt Stellung zu dem aktuellen Vorhaben einerAusweitung von Videoüberwachung in der Kasseler Innenstadt undformuliert eine kritische Einschätzung zu ordnungspolitischer Gestaltungvon Überwachungsräumen. Während der Kasseler Oberbürgermeister allemAnschein nach im Alleingang auch nicht-Kriminalitätsschwerpunkte mitVideokameras überwachen will, läßt ein seit langem gefordertesSicherheitskonzept auf sich warten. In der Diskussion um ein erhöhtesSicherheitsgefühl, welches als Hauptargument für eine erweiterteÜberwachung der Innenstadt vorgebracht wird, zeigt sich jedoch deutlichein Mißachten grundständiger Bedingungen für eine Expansion vonÜberwachungsinfrastruktur seitens deren Befürworter. 

Bereits seit mindestens 2017 im Gespräch, nun aufgrund der erfüllten damaligen anstehenden strukturellen Anforderungen - dem Umbau der Königsstraße - wieder aktuell, das Thema einer Erweiterung der Videoüberwachung in der Kasseler Innenstadt. Oberbürgermeister Christian Geselle, von Haus aus Polizist und Jurist, somit vermeintlich qua Ausbildung ein Spezialist, Fachmann und Experte für Sicherheit, liegt das diffuse und nicht näher bestimmbare „Sicherheitsgefühl“ der Kasseler Bürger nach wie vor sehr am Herzen. Daher bringt er eine Ausweitung der Videoüberwachung auch der Oberen Königsstraße in Gang, welche bisher lediglich partiell durch Kameras von nicht-öffentlichen Stellen überwacht worden ist. (Wie diese Seite dokumentiert, wird der „Kriminalitätsschwerpunkt“ Untere Königsstraße bereits seit langem von drei Kameras in den Blick genommen.) Da diese besagten Umbauten nun abgeschlossen sind, ist entsprechend mit einer Konkretisierung der Pläne zu rechnen.
Bereits mit Ankündigung des Vorhabens eines Ausbaus der Videoüberwachung in der Kasseler Innenstadt ist im Jahr 2017 ein sicherheitspolitisches Konzept unterschiedlicher Fraktionen der Kommunalpolitik gefordert worden, in dessen Rahmen der geplante Ausbau zu bewerten und zu verhandeln sei. Meinen Informationen zufolge liegt dieses Sicherheitskonzept bis zum heutigen Tage nicht vor, was kein Hinderungsgrund für den Oberbürgermeister zu sein scheint, neue Kamerasysteme installieren zu lassen.
Das vorgebrachte „Theorem“ des Sicherheitsgefühls zielt inhaltlich erfahrungsgemäß ins Leere, da es in letzter Konsequenz nicht das hält, was es verspricht. Fühlen sich Nutzer des öffentlichen Raumes durch Videoüberwachung vielleicht auch erstmal „sicher“, wird diese Sicherheit tagtäglich unter den Augen von Kameras durch Delikte wie bspw. affektierten Gewalttaten konterkariert. Im Fokus steht m.E. auch hier in Kassel vielmehr das Bild einer sauberen und ordentlichen Stadt, welche keinen Platz bietet für Randgruppen wie Junkies, Bettler und sonstige den Glanz des innerstädtischen Konsumapparates störenden Glückes der „anständigen“ Nutzer des öffentlichen Raumes - wenngleich diese „Randgruppenbelästigung“ durch Videoüberwachung innerstädtisch nicht oder nur bedingt reduziert werden wird. Zumindest scheint das Narrativ des Sicherheitsgefühls implizit werbeeffektiv im Hinblick auf das zukünftige „temporäre“ Wohlbefinden der Bürger zu sein. Die Argumentation des aus dem Rathaus tönenden „Sicherheitsgefühls“ und der Forderung um Ausweitung einer kameraüberwachten Innenstadt, steht dem ordentlichen Einsatz von Videoüberwachung vor dem Hintergrund einer erforderlichen Gefahrenabwehr - wie der Einsatz im Hessischen Gesetz über die öffentliche Sicherheit und Ordnung kodifiziert ist - im ersten Blick diametral gegenüber. Die durch Polizei und Kommunen überwachten Orte müssen als erwartbare und potentiell risikobehaftete Orte mit Aussicht auf zu begehende Straftaten gewertet werden. Dies ist m.E. nicht haltbar für den Bereich der Oberen Königsstraße. Es bleibt abzuwarten, ob mit dem Sicherheitskonzept für die Stadt Kassel somit nicht doch noch die nötige Hintertür geschaffen wird, um weitere Teile der Innenstadt als „gefährlich“ zu deklarieren und die diskursive Grundlage für den Ausbau der Videoüberwachung (nachträglich) zu schaffen und zu begründen.
Die Anwesenheit von Kameras wird vergessen oder überhaupt gar nicht erst gewußt, sowohl auf Seiten von „Tätern“ als auch „Opfern“ - ferner aller anderen den öffentlichen Raum nutzenden Bürger. Somit ist die Diskussion um Sicherheit mit Blick auf Ausweitung von Videoüberwachung überhaupt immer nur eine heilsversprechende, d.h. beruhigende und vermeintlich „gute“ Lösung, welche signalisiert, „wir tun was“ für die Sicherheit in der Stadt. Das Vergessen und das Nicht-Wissen von Kameras jedoch liegt auf Seiten aller - auf Handlungsebene ist hier folglich wenig verändernde Interaktion im öffentlichen Raum erwartbar, um dies nochmals zu betonen. Somit ist der präventive Charakter von Videoüberwachung weitestgehend zu vernachlässigen, Videoüberwachung erscheint als kein geeignetes Mittel, um Straftaten zu verhindern. Auch in Kassel ist es das nicht und wird es nicht dadurch, daß nun zusätzlich nicht-„Kriminalitätsschwerpunkte“ videoüberwacht werden sollen.
Mittels expandierender Law-and-Order-Rhetorik wird Videoüberwachung als Konstrukteur von „sicheren Räumen“ genutzt und kolportiert, welche als symbolisches Schutzschild ungebetene Bevölkerungsteile von vorne herein abhalten soll, Teilhaber dieser Räume zu sein und hier subjektive Sicherheitsgefühle Anderer zu beschädigen. Neben dem Aspekt eines erhofften Ausschlusses jeglicher potentieller Gefährder innerstädtischer Ordnung muß erwähnt werden, daß sicherlich auch Straftaten mittels Videoüberwachung aufgeklärt, Täter identifiziert und Fälle erfolgreich abgeschlossen werden. Doch deren Zahl ist gering, und so muß der Überwachungsaspekt und der Eingriff in die informationelle Selbstbestimmung immer mitgedacht und entsprechend bewertet werden. Es darf an dieser Stelle auch gefragt werden, inwieweit sich die gegenwärtige „Maskenpflicht“ im Rahmen der Covid-19-Pandemie auf Täteridentifikationen mittels Bildaufzeichnungen auswirkt. Die staatlich verordnete Vermummung hat Potential jegliche bildgeberischen Aufklärungsansätze ad absurdum zu führen.
Anstelle einer permanenten Überwachung mittels Videoüberwachung Aller im öffentlichen Raum wäre eine Intensivierung von Sozialarbeit, Aufklärungsarbeit und elaborierter Prävention wünschenswert, um etwaige Devianz im öffentlichen Raum zielgenau bewerten zu können und mit entsprechenden Mitteln nicht ausgrenzende sondern teilhabende Unterstützungsangebote hierzu bieten zu können. Ferner bedarf es sicherlich gesamtgesellschaftlicher Veränderungen, wodurch es gar nicht erst zu einer so massiven „Entgrenzung“ von Bevölkerungsteilen führt, welche den gegenwärtigen Sicherheitsdiskurs überhaupt erst in diesem Umfang konstituiert. Was weiter bleibt ist in jedem Fall eine nötige Diskussion um Videoüberwachung, welche sich weithin als Symptomatik einer unzulänglichen Auseinandersetzung und mangelnden konstruktiven Beachtung gesellschaftlicher und sozialer Brüche etabliert hat.

 

*phleng betreibt zum Thema die Kasseler Internetseite Kassel Watch-Log (https://www.ks-watch.de/)

 

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