Revolten in den Warschauer-Pakt-Staaten

Hier geht es um den Arbeiteraufstand es 17.6.1953 in der DDR und den Prager Frühling 1968.

Der 17. Juni.1953

 

Der Ausbau der DDR zu einer Volksdemokratie nach dem Vorbild anderer sozialistischer Staaten trat 1952 durch eine Reihe einschneidender Maßnahmen in ein neues Stadium ein. Sie zielten auf eine schärfere Abgrenzung der DDR von Westdeutschland, auf eine Zentralisierung der Verwaltung im Innern und auf eine Eingliederung in das politische Gefüge der Ostmächte.

Am 26.05.1952 erließ die Regierung eine Verordnung über Sperrmaßnahmen an der Zonengrenze:[1] „Die entlang der Demarkationslinie zwischen der Deutschen Demokratischen Republik und Westdeutschland festgelegte Sperrzone umfasst einen 10 m breiten Kontrollstreifen unmittelbar an der Demarkationslinie, anschließend einen etwa 500m breiten Schutzstreifen unmittelbar an der Demarkationslinie und dann eine etwa 5 km breite Sperrzone. (…) Das Überschreiten des 10 m Kontrollstreifens ist für alle Personen verboten. (…) Bei Nichtbefolgung der Anordnungen der Grenzstreifen wird von der Waffe Gebrauch gemacht. (…) Einwohner der Deutschen Demokratischen Republik müssen einen Passierschein für die Einreise in die 5 km Sperrzone beantragen. (…) Innerhalb des 500 m Schutzstreifens ist der Aufenthalt auf Straßen und Feldern, der Verkehr aller Art von Transportmitteln und die Ausführung von Arbeiten aller Art außerhalb der Wohnungen nur von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang gestattet.“

Aufgrund dieser Verordnung wurde der 10 m Streifen entlang der Zonengrenze vielerorts eingeebnet und umgepflügt.

Auf einer Parteikonferenz der SED am 12.07.1952 wurde beschlossen, zum „planmäßigen Aufbau des Sozialismus“ überzugehen, durch eine Verwaltungsreform den Staatsaufbau zu zentralisieren, die Justiz durch Ausarbeitung neuer Gesetzbücher umzugestalten, nationale Streitkräfte aufzustellen und die Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften (LPG) zu fördern. In dem Beschluss hieß es:[2] „Die Schaffung der Aktionseinheit der kommunistischen, sozialdemokratischen, christlichen und parteilosen Arbeiter, das Bündnis der Arbeiterklasse mit den werktätigen Bauern und der Zusammenschluß aller deutschen Parteien in der Friedensbewegung und in der Nationalen Front des demokratischen Deutschlands ist die vordringlichste Aufgabe. Der große Befreiungskampf des patriotischen Deutschen gegen die fremden imperialistischen Eindringlinge und Ausbeuter erfordert zugleich den entschiedenen Kampf gegen die rechten sozialdemokratischen Führer und Gewerkschaftsführer, die den Feinden der deutschen Nation Hilfsdienste leiten. (…) Das Hauptinstrument bei der Schaffung der Grundlagen des Sozialismus ist die Staatsmacht.“

Dem Parteibeschluss entsprechend wurden am 23.07.1952 durch Gesetz die bestehenden fünf Länder der DDR, Mecklenburg, Brandenburg, Sachsen-Anhalt, Thüringen und Sachsen, aufgelöst und stattdessen 14 Verwaltungsbezirke eingerichtet:[3] „Die örtlichen Organe der Staatsgewalt müssen (…) so reorganisiert werden, daß der Staatsapparat die Möglichkeit erhält, den Willen der Werktätigen, der in den Gesetzen der Deutschen Demokratischen Republik zum Ausdruck gebracht ist, unverbrüchlich zu erfüllen.“

Es existierte gegenüber Westdeutschland ein eklatanter Unterschied in den bereichen Produktivität und Lebenshaltung. Das amerikanische Angebot zur Wirtschaftshilfe war 1947 von der SMAD und von der SED und LDPD abgelehnt worden. Die Vorsitzenden der Ost-CDU, Jakob Kaiser und Ernst Lemmer, hatten sich für die Beteiligung der SBZ ausgesprochen. Daraufhin wurden sie als „Agenten der amerikanischen Reaktion“ bezeichnet worden, und die sowjetische Militärverwaltung hatte die Verbindung zu ihnen abgebrochen. Beide setzten ihre politische Tätigkeit im Westen fort.

Die wirtschaftliche Unzufriedenheit vieler Menschen in der DDR dokumentierte sich in den hohen Flüchtlingszahlen: ab September 1949 beantragten 129.245 Menschen aus Ostberlin und der DDR das Notaufnahmeverfahren in Westberlin und in der Bundesrepublik. Im Jahre 1950 wurden 197.788 Anträge gezählt, ein Jahr später sank die Zahl auf 165.648. 1952 verließen 182.393 Menschen die DDR.

Die große Zahl der Flüchtlingszahlen war nicht nur ein Symptom für die Stimmung der Bevölkerung, sondern zugleich auch ein steigender Verlust an Produktivkraft, der sich auf den wirtschaftlichen Aufbau negativ auswirkte.

Das Wirtschaftssystem in der SBZ hatte schon in den ersten Jahren der Besatzung die Form einer zentral gelenkten Planwirtschaft bzw. einer unmittelbaren Staatswirtschaft erhalten. Beim weiteren Ausbau dieses Systems wurde das Schwergewicht auf die Grundstoff- und Schwerindustrie, nicht auf die Konsumgüterindustrie gelegt. Dafür waren zunächst die sowjetischen Reparationsforderungen ausschlaggebend, später die Absicht, die Staatsmacht der DDR zu festigen und das industrielle Gesamtpotential der kommunistischen Länder zu vergrößern. Bis 1951 waren 77% der gesamten industriellen Produktion in Volkseigentum übergeführt. Die Landwirtschaft war dagegen noch fast völlig in Privatbesitz, wobei auch hier eine Ablieferungspflicht nach festgesetzten Normen bestand. Abgesehen von den Waren, die die Läden der staatlichen Handelsorganisation (HO) zu überhöhten Preisen anboten, blieben Lebensmittel und Verbrauchsgüter noch auf Jahre hinaus rationiert. Die Versorgung der Bevölkerung wies immer wieder erhebliche Mängel auf.

Die Entwicklung der gesamten Wirtschaft in der DDR wurde nach sowjetischem Vorbild durch Jahrespläne geregelt, die die staatliche Plankommission nach den Weisungen der SED ausarbeitete. Das Entwicklungstempo und das Verhältnis der Produktion einzelner Industriezweige zueinander wurden hier festgelegt. Der Volkswirtschaftsplan für das Jahr 1950, der von der Provisorischen Volkskammer am 09.02.1950 genehmigt wurde, sah eine Steigerung um 21% der Industrieproduktion vor, wobei dies Ziel durch „Entwicklung der Aktivistenbewegung, Aufstellung technisch begründeter Arbeitsnormen, Einführung des Leistungslohns und die Einschränkung unproduktiver Arbeit“ erreicht werden sollte.[4] Für die Jahre 1951-1955 gab es erstmalig einen Fünfjahresplan. Er forderte eine Steigerung der Industrieproduktion von 23 Milliarden auf 43,8 Milliarden DM, eine Erhöhung der landwirtschaftlichen Erträge um 25% und eine Hebung des Volkseinkommens um 60%. Als Auftakt für dieses Programm fand im Januar 1951 die Grundsteinlegung für das Eisenhüttenkombinat Ost in Fürstenberg an der Oder statt, wo russisches Erz mit schlesischer Kohle verarbeitet werden sollte. Der erste Fünfjahresplan konnte nicht durchgehend erfüllt werden, vor allem blieb die Erzeugung von elektrischer Energie, Braunkohle, Eisnerz, Roheisen, Rohstahl und Kupfererz hinter den Zielen zurück.

Für den Güteraustausch zwischen Westdeutschland und der DDR trat am 20.09. 1951 ein Interzonenhandelsabkommen in Kraft, das einen Warenverkehr auf Verrechnungsbasis vorsah.[5] Bedingung dafür war der freie Verkehr zwischen der Bundesrepublik und Westberlin. Behinderungen auf den Zufahrtswegen führten jedoch noch im selben Jahr zu einer zeitweiligen Unterbrechung des Interzonenhandels.

Für die Landwirtschaft wurde das Jahr 1952 ein entscheidender Wendepunkt. Die bis dahin noch selbstständig produzierenden Bauern wurden mehr und mehr zur Zusammenarbeit in Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften (LPG) angehalten, wofür staatlich gebilligte Musterstatuten maßgebend waren. Als Vergünstigung erhielten die Mitglieder der LPG’s Steuermäßigungen, bevorzugte Belieferung mit Düngemittel, Geräten, Zuchtvieh und Futtermitteln. Die Maschinenausleihstationen wurden verpflichtet, LPG’s vorrangig und zu niedrigsten Preisen zu versorgen. Bis Ende 1953 gab es 6691 solcher Produktionsgenossenschaften, wodurch sich die Nutzfläche, die weiter von selbständigen Bauern bewirtschaftet wurde, auf 75% verringerte.

Außenpolitisch versuchte die DDR seit ihrer Errichtung gute Beziehungen mit den Nachbarländern Polen und der Tschechoslowakei zu erreichen. Beide Staaten wünschten sich eine endgültige Anerkennung der Grenz- und Bevölkerungsverhältnisse, wie sie seit dem Ende des 2. Weltkrieges gestaltet worden waren. Eine feste Vereinbarung darüber sollte der Weg für die schnelle Eingliederung der DDR in den Block osteuropäischer kommunistischer Staaten ebnen. Am 06.06.1950 schlossen die DDR und Polen ein Abkommen über wirtschaftliche Zusammenarbeit ab und vereinbarten eine kulturelle Zusammenarbeit.

Ein Grenzabkommen vom 06.07.1950 besagte unter Bezugnahme auf das Potsdamer Abkommen, dass die Grenze entlang der Oder und Lausitzer Neiße die Staatsgrenze zwischen Deutschland und Polen bilde. Am 23.06 wurde weiterhin in einem Abkommen zwischen der DDR und der Tschechoslowakei festgestellt:[6] „Unsere beiden Staaten haben keine Gebiets- oder Grenzansprüche, und ihre Regierungen betonen ausdrücklich, daß die durchgeführte Umsiedelung der Deutschen aus der Tschechoslowakischen Republik unabänderlich, gerecht und endgültig ist.“

Da die Festlegung einer deutsch-polnischen Grenze jedoch nicht den Bestimmungen des Potsdamer Abkommens entsprach, wo eine solche Regelung bis zu einer Friedenskonferenz zurückgestellt worden war, und weil der DDR-Regierung nicht das Recht einer Vertretung der Bevölkerung in der SBZ, geschweige denn Deutschlands überhaupt zugestanden werden konnte, erklärte das Bundeskabinett der Bundesrepublik:[7] „Alle ihre Abreden und Vereinbarungen sind null und nichtig.“

Für die Verstärkung der Staatsmacht der DDR forderte die SED 1952 die Aufstellung nationaler Streitkräfte. Die Remilitarisierung in der DDR hatte jedoch schon eine längere Vorgeschichte. Bereits 1948 ordnete die Sowjetische Militärverwaltung die Schaffung kasernierter Volkspolizeiverbände an, die in den folgenden Jahren stark ausgebaut wurden. Bis 1951 wuchs ihre Stärke auf etwa 65.000 Personen. Seit Anfang 1952 wurden sechs motorisierte Divisionen zusammengestellt. Daneben existierten bereits Seestreitkräfte der KVP. Die Einrichtung von Luftstreitkräften ließ nicht lange auf sich warten. Die dann folgende offene Aufrüstung wurde als Maßnahme gegen den „aggressiven amerikanischen und den revanchelüsternden westdeutschen Imperialismus“ bezeichnet.

Die neuen Streitkräfte gingen aus der kasernierten Volkspolizei hervor. Bis Ende 1952 wurden bereits zwei Armeekorps aufgestellt. Die Gesamtstärke der neuen Streitkräfte betrug damals ca. 110.000 Personen. Während in der DDR zunächst noch nicht die allgemeine Wehrpflicht eingeführt wurde, leitete die Staatsführung die vor- und paramilitärische Ausbildung durch die Gründung der „Gesellschaft für Sport und Technik“ in die Wege.

Die Erhebung begann mit der Arbeitsniederlegung der Bauarbeiter auf der Stalinallee in Ostberlin, jener Straße, die einen schnellen Aufbau des Sozialismus in der DDR repräsentieren sollte. Anlass zu den Demonstrationen, die sich in kürzester Zeit auf das gesamte Gebiet der DDR ausweiteten, hatte eine am 28. Mai angeordnete Erhöhung der Arbeitsnormen um mindestens 10% gegeben.[8]

Die Arbeitsbedingungen in der DDR unterschieden sich von denen in der Bundesrepublik und anderen westlichen Ländern vor allem dadurch, dass der Staat weitgehend die Rolle des privaten Unternehmers übernommen hatte. Betriebsräte wurden aufgelöst und durch Betriebsgewerkschaftsleitungen ersetzt.

Die Gewerkschaften wiederum hatten sich in ein ausführendes Organ der staatlichen Arbeitspolitik verwandelt. 1950/51 waren ohne Mitwirkung der Arbeiter Rahmen- und Betriebskollektivverträge formuliert worden, die zu erbitterten Protesten führten. Löhne und Arbeitsnormen waren daraufhin durch Gesetz geregelt, und zwar erheblich günstiger als ursprünglich vorgesehen.

Im Winter 1952/53 ergab sich in der DDR eine ernste wirtschaftliche Krise. Die Anforderungen des Fünfjahresplans hatten zu einem forcierten Aufbau der Schwerindustrie und zu einer Vernachlässigung der Konsumgüterindustrie geführt. Um die Krise zu überwinden, propagierten Partei und Gewerkschaft Normerhöhungen, die die Arbeitsproduktivität steigern sollten oder aber, falls dies nicht eintreten würde, Lohnsenkungen bewirken konnten, die ihrerseits wieder zu einer Drosselung der Kaufkraft der Bevölkerung führen mussten.

Der Appell an die Freiwilligkeit der Arbeiter war jedoch weniger erfolgreich. Im Gegenteil, es kam bereits im Frühjahr 1953 zu Protesten und Streiks.[9] Der Grad der Unzufriedenheit in der Bevölkerung über die schlechte Ernährungslage und über die staatliche Wirtschaftspolitik zeigte sich in einem rapiden Anstieg der Flüchtlingszahlen (von Januar bis Mai 1953 allein 184.793). Die Antwort der SED und der Regierung war die bereits erwähnte Anordnung über die Arbeitsnormen vom 28.05.1953.

Die SED-Regierung war sich der Zweckmäßigkeit seiner Maßnahmen jedoch keineswegs sehr sicher. Ganz offensichtlich herrschte gerade in jenen Wochen innerhalb der Partei- und Staatsführung ein Zustand der Ratlosigkeit, der schon bald zu einer Kursänderung führen sollte. Am 11. Juni erklärte das Politbüro des Zentralkomitees der SED öffentlich, „daß seitens der SED und der Regierung der DDR in der Vergangenheit eine Reihe von Fehlern begangen wurde, die ihren Ausdruck in Verordnungen und Anordnungen gefunden haben, wie z.B. der Verordnung über die Neuregelung der Lebensmittelkartenversorgung, über die Übernahme devastierter landwirtschaftlicher Betriebe, in außerordentlichen Maßnahmen der Erfassung, in verschärften Methoden der Steuerhebung usw. Die Interessen solcher Bevölkerungsteile wie der Einzelbauern, der Einzelhändler, der Handwerker, der Intelligenz wurden vernachlässigt. Bei der Durchführung der erwähnten Verordnungen und Anordnungen sind außerdem ernste Fehler in den Bezirken, Kreisen und Orten begangen worden. (…) Aus diesen Gründen hält das Politbüro des ZK der SED für nötig, daß in nächster Zeit im Zusammenhang mit Korrekturen des Plans der Schwerindustrie eine Reihe von Maßnahmen durchgeführt werden, die die begangenen Fehler korrigieren und die Lebenshaltung der Arbeiter, Bauern, der Intelligenz, der Handwerker und der übrigen Schichten des Mittelstandes verbessern.“[10]

Zugleich teilte das Presseamt beim Ministerpräsidenten mit, dass der Ministerrat bereits eine Anzahl von Korrekturmaßnahmen beschlossen habe: Aufhebung gewisser Beschränkungen für die Lebensmittelkartenausgabe, Zurücknahme von Preiserhöhungen in HO-Läden, Aussetzung der Zwangsmaßnahmen zur Betreibung von Steuerrückständen, Rückgabe von Handwerks-, Industrie- und landwirtschaftlichen Betrieben an die Privateigentümer, Rückgabe des Eigentums an zurückkehrende Flüchtlinge, Überprüfung von Verhaftungen, Strafverfahren und Urteilen und anderes mehr.

Dieser neue Kurs, der den im Vorjahr proklamierten Ausbau des Sozialismus erheblich revidierte, spiegelte nicht allein die Unsicherheit des SED-Regimes angesichts der eklatanten Wirtschaftsmisere wider, sondern er war zugleich Ausdruck einer großen Krise des gesamten Sowjetsystems. Nach dem Tode Stalins am 05.03.1953 war in Moskau ein Führungskampf entstanden, der seinen Höhepunkt in den Auseinandersetzungen um den sowjetischen Innenminister Berija fand. Stalins Nachfolger Malenkow hatte unverzüglich einen gemilderten innenpolitischen Kurs eingeschlagen. Wladimer Semjonow, der politische Berater der sowjetischen Kontrollkommission in Berlin, war im April nach Moskau gefahren und kehrte am 5. Juni als Chef der neu gebildeten sowjetischen Hohen Kommission zurück. Die Änderung des innenpolitischen Kurses in der DDR stand zweifellos im Zusammenhang mit diesen Vorgängen. Eine vorübergehende Nachgiebigkeit gegenüber der Bevölkerung sollte die Macht der kommunistischen Regierung sichern.

Unter den Korrekturen vom 11. Juni fehlte jedoch eine Aufhebung der gerade erst verkündeten Normerhöhungen für die Arbeiter. Regierungs- und Parteistellen waren sich offenbar nicht klar darüber, ob sie auch hier nachgeben sollten. Während das Zentralorgan der SED, „Neues Deutschland“, am 14. Juni die administrative Einführung der Normen verurteilte, erschien im Gewerkschaftsorgan „Tribüne“ ein Artikel, der forderte, dass die Maßnahme durchgeführt werden müsse. Daran entzündete sich die Empörung der Bauarbeiter auf der Stalinallee. Hinter den folgenden Ereignissen stand jedoch mehr als nur die Frage der Normen; die seit langem aufgestaute Verbitterung gegen das SED-Regime machte sich Luft.[11]

Auf dem Bauabschnitt 40 in der Stalinallee war bereits am 15. Juni beschlossen worden, den Ministerpräsidenten Grotewohl und den SED-Generalsekretär Ulbricht um die Zurücknahme der Normerhöhungen zu bitten und bis zu einer positiven Antwort die Arbeit niederzulegen.[12] Als Gewerkschaftsfunktionäre dieses Vorhaben unterbinden wollten und am Morgen des 16. Juni wegen des Artikels in der „Tribüne“ zur Rede gestellt wurden, vertraten sie den Standpunkt: „Erst mehr arbeiten, dann besser leben.“[13] Daraufhin entschlossen sich die Arbeiter, zunächst achtzig an der Zahl, gemeinsam einen Protestmarsch zu veranstalten. Der Demonstration schlossen sich schnell Arbeiter anderer umliegender Baustellen an, und bald bewegte sich ein Zug von 2000 Streikenden die Stalinallee entlang auf die Gewerkschaftszentrale in der Wallstraße. Ein Transparent trug die Aufschrift: „Wir fordern Herabsetzung der Normen.“ Da das Gewerkschaftshaus verschlossen war, marschierten sie weiter zum Haus der Ministerien in der Leipziger Straße. Unterwegs verstärkte sich der Zug durch die Belegschaften anderer Baustellen, und als er gegen 13 Uhr vor dem Regierungsgebäude ankam, war die Menge der Demonstranten auf schätzungsweise 8.000-10.000 Menschen angewachsen.[14]

Durch Rufe und Sprechchöre herausgefordert versuchte die Regierung, die Demonstrationsteilnehmer zu beruhigen. Sowohl Ulbricht als auch Grotewohl zeigten sich nicht. Der Minister für Industrie, Fritz Selbmann, begann zu sprechen, kam aber kaum zu Wort und wurde schließlich von einem Arbeiter beiseite gedrängt, der erklärte:[15] „Es geht hier nicht um Normen und Preise, es geht um mehr. Hier stehen nicht allein die Bauarbeiter der Stalinallee, hier steht Berlin und die ganze Zone. (…) Was du hier siehst, ist eine Volkserhebung. (…) Die Regierung muß aus ihren Fehlern die Konsequenzen ziehen. Wir fordern freie, geheime Wahlen!“

Mit den Vorgängen in der Leipziger Straße war aus dem Protestmarsch gegen die Normerhöhungen ein Aufstand gegen die Regierung geworden. Der aufgebrachten Menge fehlte jedoch eine konkrete Zielsetzung, ein deutliches Zeichen für den improvisierten und spontanen Charakter der Demonstration.

Die Schwäche der Regierung war offenkundig; aber wie weit man gehen sollte und welche Wege am besten einzuschlagen seien, um die Verhältnisse zu ändern, blieb ungewiss.

Als die Arbeiter den Rückmarsch angetreten hatten, sandte die Regierung Lautsprecherwagen aus, um eine Herabsetzung der Normen mitzuteilen. Da jedoch zur gleichen Zeit andere Lautsprecherwagen der SED nur eine Überprüfung der Normen versprachen, fühlten sich die Arbeiter betrogen. Sie besetzten einen der Wagen und forderten nun alle Berliner Arbeiter auf, am folgenden Tag zu streiken und sich am Strausberger Platz (Stalinallee) zu versammeln. Diese Parole verbreitete sich in der Nacht durch Ostberlin und weiter in die anderen Bezirke des Landes.[16]

Dem Präludium am 16. Juni folgte dann am nächsten Tag eine Erhebung, die weit über Ostberlin hinausging und praktisch die gesamte DDR umfasste. Seit dem frühen Morgen zogen mehrere tausend Demonstranten aus allen Richtungen zum Zentrum Ostberlins. Sie kamen von der Reichsbahn-Bauunion, vom Stahlwerk Hennigsdorf, von den Großbetrieben Siemens-Plania, Abus-Maschinenbau, Stahlbau VEB, vom Kabelwerk Oberspree, von der Fabrik für Fernemeldewesen, aus Johannisthal, aus dem Walzwerk Oranienburg, aus Weißensee, Strausberg, Rüdersdorf, Mahlow, Velten und vielen anderen Betrieben. Volkspolizei und vermittelnde Partei- und Gewerkschaftsfunktionäre wurden nicht angehört, die Straßen im Zentrum füllten sich, um 7.45h begann die erste große Demonstration in Richtung Alexanderplatz und Leipziger Straße.

Diesmal war das Regierungsgebäude von Volkspolizisten abgesperrt, die wahllos auf Demonstranten einschlugen und Verhaftungen vornahmen. Von der Gegenseite wurden Steine geworfen und Fensterscheiben zertrümmert, aber es gelang nicht, den Eingang des Ministeriums zu erreichen.

Während sich immer mehr Menschen in Richtung Innenstadt in Bewegung setzten, tauchten gegen 9h die ersten russischen Panzerspähwagen auf, später folgten ihnen Panzerkolonnen, motorisierte Infanterie und motorisierte Granatwerfer. Die Soldaten trugen Stahlhelme und hatten ihre Gewehre griffbereit. Die Demonstranten wichen ihnen aus, schlossen sich aber erneut zusammen. Da weitere Aktionen in der Leipziger Straße sinnlos erschienen, kam es an anderen Stellen der Innenstadt zu Zusammenkünften. Vereinzelt wurden SED-Plakate, Embleme und Fahnen hinuntergerissen, Grenzschilder zerstört, Baracken der Volkspolizei in Brand gesteckt, Fensterscheiben eines HO-Kaufhauses zertrümmert sowie sowjetische Mannschaftswagen mit Steinen beworfen.

Der Potsdamer Platz an der Sektorengrenze füllte sich mit Demonstranten. Das Columbushochhaus mit einer Volkspolizeistelle wurde gestürmt, die rote Fahne vom Brandenburger Tor heruntergeholt und zerrissen, die Gerüste am Marx-Engels-Platz verbrannt.

Um 11h kam der gesamte Verkehr in Ostberlin zum Erliegen, um 12h tauchten sowjetische T34-Panzer am Marx-Engels-Platz, Unter den Linden, im Regierungsviertel und schließlich am Potsdamer Platz auf. Die Volkspolizei erhielt Schießerlaubnis. Die Demonstranten bewarfen sie und die Panzer mit Steinen. Lautsprecherwagen verkündeten:[17] „Der sowjetische Stadtkommandant befiehlt: Ab 13 Uhr wird der Ausnahmezustand verhängt. Menschenansammlungen über drei Personen sind verboten. Verstöße werden nach dem Kriegsrecht bestraft.“ Es gestaltete sich jedoch als schwierig, die Demonstranten auseinander zu treiben, da immer mehr Menschen hinzukamen. Am Alexanderplatz entwaffneten sie Posten vor dem Polizeipräsidium und zerstörten eine Buchhandlung und ein HO-Geschäft. In der Friedrichstraße stürmte eine aufgebrachte Menge das Gebäude des Sicherheitsdienstes. Der stellvertretende Ministerpräsident Otto Nuschke wurde über die Sektorengrenze abgeschoben, wo ihn die Polizei aus Westberlin in Schutzhaft nahm. Das Columbushaus und das „Haus Vaterland“ am Potsdamer Platz gingen in Flammen auf.

Inzwischen verstärkten sich die Gegenmaßnahmen der Polizei und des sowjetischen Militärs. Der Sitz des Zentralkomitees der SED wurde abgeriegelt, die Funktionäre unter sowjetischem Schutz in Sicherheit gebracht. Letztlich hatten die unbewaffneten demonstrierenden Arbeiter keine Chance gegen Maschinengewehre und Panzer. Im Laufe des Nachmittags gewannen Volkspolizisten und sowjetische Soldaten die Oberhand, die Straßen leerten sich und am Abend herrschte eine gespannte Ruhe in Ostberlin. Es wurde von den Sicherheitskräften eine Ausgangssperre ab 21h angeordnet.

Die Tatsache, dass die Erhebung in Ostberlin trotz des Fehlens einer zielstrebigen Koordination ein solch großes Ausmaß annehmen konnte, war bemerkenswert. Die Ereignisse in Ostberlin breiteten sich schnell in der gesamten DDR aus.[18] In Frankfurt an der Oder kam es in den frühen Morgenstunden des 17.Juni zu Arbeitsniederlegungen, in Jena formierten sich die Arbeiter zum Demonstrationszug, in Görlitz versammelten sich ca. 50.000 Menschen auf dem Obermarkt.

In Madgeburg waren ebenfalls zehntausende Menschen dem Protest gefolgt. SED-Plakate wurden vernichtet, die Demonstranten stürmten das Gewerkschaftsgebäude des Staatsicherheitsdienstes und der Freien Deutschen Jugend, sie befreiten Häftlinge aus dem Gefängnis, entwaffneten Volkspolizisten, erklärten sich mit den Reisenden des Interzonenzuges solidarisch und sprengten das Tor des Polizeipräsidiums. Gegen die einrückenden sowjetischen Infanterieeinheiten gingen sie mit Brechstangen und Hämmern vor. Als am Abend auch hier das Militär mit Waffengewalt die Oberhand errungen hatte, waren über vierzig Demonstranten gestorben und Hunderte verletzt.

In Leipzig hatten Arbeiter den Bürgermeister gezwungen, mit einem Transparent an der Spitze ihres Demonstrationszuges zu marschieren. Ein Pavillon der Nationalen Front und HO-Geschäfte wurden angezündet, Büros der Freien Deutschen Jugend, der Gewerkschaft und der SED gestürmt und die Einrichtungen zerstört. Um das Amtsgericht kam es zu Schießereien und am Völkerschlachtdenkmal wurde eine friedliche Kundgebung veranstaltet. Anders als in Berlin machte sich hier eine ausgelassene Siegesstimmung bemerkbar, bis sowjetische Panzer anrückten und die Volkspolizei mit Hilfe von Schüssen die Menge zerstreuen wollte. Auch in Dresden folgten den Arbeitsniederlegungen in den großen Industriebetrieben Demonstrationszüge in die Innenstadt. Eine Autokolonne propagierte den Generalstreik, ein großes Stalinbild wurde in Brand gesteckt, Volkspolizisten wurden entwaffnet. Durch rechtzeitiges Eingreifen der sowjetischen Truppen wurde der Aufruhr jedoch frühzeitig beendet.

Am weitesten ging die Protestbewegung im Braunkohlerevier mit den Zentren Halle, Wolfen, Bitterfeld, Merseburg, Leuna und Schkopau.[19] Hier kam es nicht nur zu Demonstrationszügen, Erstürmungen der SED-Zentralen, Entwaffnung von Volkspolizisten sowie Befreiungen von Häftlingen, sondern darüber hinaus zur Bildung von Exekutivorganen. In Halle konstituierte sich ein „Initiativkomitee“, das über die Stadtfunkanlage zur Massendemonstration aufrief und ein Flugblatt für die Bevölkerung drucken ließ. Der Vorsitzende des Komitees sprach zu den versammelten Demonstranten, forderte sie auf, friedlich zu demonstrieren und verlangte den Rücktritt der Regierung und freie Wahlen.

Auch in Bitterfeld bildete sich ein Streikkomitee, auf dessen Veranlassung die wichtigsten Posten in der Stadt – Polizeiämter, das Bürgermeisteramt, die Dienststelle des Staatssicherheitsdienstes – besetzt wurden. Während der Bürgermeister im Gefängnis saß, sandte das Streikkomitee ein Telegramm an die „sogenannte Deutsche Demokratische Regierung, Berlin-Pankow“ mit der Formulierung von neun Forderungen:[20]

 

  1. Rücktritt der Regierung;
  2. Bildung einer neuen provisorischen Regierung;
  3. Zulassung aller demokratischen Parteien;
  4. freie Wahlen in vier Monaten;
  5. Freilassung der politischen Gefangenen;
  6. Abschaffung der Zonengrenze;
  7. Normalisierung des Lebensstandards;
  8. Auflösung der Nationalarmee;
  9. Verzicht auf Repressalien gegen Streikende.

 

Ein zweites Telegramm ging an den sowjetischen Hohen Kommissar, Semjonow, mit der Bitte, den Ausnahmezustand in Berlin und alle Maßnahmen gegen die streikenden Arbeiter sofort aufzuheben.

Streikleitungen wurden auch in den Leuna- und Bunawerken bei Merseburg und in Schkopau gebildet, in Merseburg wählte eine große Menschenmenge durch Zuruf ein zentrales Komitee. Überall, wo es zur Bildung solcher Exekutivorgane kam, wurde der Grundsatz vertreten, dass ein Widerstand gegen die sowjetischen Besatzungstruppen sinnlos sei und deshalb Provokationen und Gewalt vermieden werden müssten. So beendete der Einsatz von Militär und Sicherheitsorganen schließlich die Ansätze der Erhebung im Braunkohlerevier.

Ein Überblick über die Geschehnisse, die sich am 17.Juni in der DDR abspielten, zeigt, dass der Aufstand in Ostberlin lediglich ein Ausschnitt aus dem viel weiter greifenden Gesamtgeschehen gewesen ist.[21] Nach der Auswertung der Quellen ergibt sich, dass in über 270 Ortschaften der DDR Arbeitsniederlegungen stattgefunden haben. In 13 von insgesamt 14 Verwaltungsbezirken der DDR war teilweise oder ganz der Ausnahmezustand ausgerufen worden. Insgesamt beteiligten sich ca. 300.000 Arbeiter an den Streiks. Wie hoch der Anteil der übrigen Bevölkerung gewesen ist, lässt sich zahlenmäßig nicht feststellen. Zweifellos hatten Initiative und Ausführung der Erhebung im Wesentlichen bei der Arbeiterschaft gelegen, während das Bürgertum und die Bauern stärker im Hintergrund geblieben waren. Im Verlauf der Entwicklung waren die Arbeiter jedoch auch von anderen Bevölkerungsgruppen, besonders von Jugendlichen, stark unterstützt worden. Während des Aufstandes wurden in der DDR laut Schätzungen 2.000-3.000 politische Häftlinge aus den Gefängnissen befreit.[22]

Die elementare Heftigkeit, mit der die Erhebung innerhalb kürzester Zeit zum Ausbruch kam und ihren Höhepunkt erreichte, kann nur aus einer latent vorhandenen Bereitschaft zu Veränderungen überhaupt erklärt werden, denn der Mangel an straffer Kooperation und das häufige Fehlen konkreter Zielsetzungen spricht eindeutig gegen eine planmäßige Vorbereitung und Organisation. Voraussetzung zu den Ereignissen war eine vorübergehende Schwäche der DDR-Regierung, die sich in der Unsicherheit des politischen Kurses offenbart hatte. Die Initialzündung war mit der Entschlossenheit der Bauarbeiter auf der Stalinallee gegeben. Die sofortige Resonanz in der DDR ergab sich sowohl aus den Berichten ihrer parteieigenen Presse als auch durch westliche Rundfunkmeldungen, die natürlich ein Interesse daran hatten, die Instabilität in der DDR für ihre eigene Politik zu gebrauchen.[23]

Darüber hinaus war die Eisenbahntelefonleitung und das Fernschreibnetz der Abteilung „Deutscher Innen- und Außenhandel“ zur Informationsübertragung benutzt worden. Der anfangs erfolgreiche Verlauf der Erhebung war begünstigt worden durch die Unentschlossenheit der Führungsgremien von Partei und Staat, die zunächst überrascht waren und sich dann über das Ausmaß der Vorgänge nicht schnell ein Bild machen konnten. Für die Niederschlagung der Erhebung war nicht der Einsatz der Volkspolizei entscheidend, sondern das Eingreifen der sowjetischen Besatzungsmacht. Nur unter ihrem Schutz entschloss sich die Volkspolizei zu energischen Gegenmaßnahmen und zum Schusswaffengebrauch. Die Niederlage der Streikenden ergab sich logischerweise aus der Überlegenheit hoch ausgerüsteter militärischer Einheiten über lediglich mit Steinen oder Schlagwerkzeugen bewaffneten Demonstranten.

Die Ziele der Erhebung wandelten sich im Laufe der Ereignisse. Zunächst ging es um bessere Arbeitsbedingungen und einen angemessenen Lebensstandard. Danach kamen auch Forderungen nach dem Sturz der DDR-Regierung auf, was an dem Telegramm des Bitterfelder Streikkomitees ersichtlich wurde.[24]

Die Regierung der DDR und die sowjetische Besatzungsmacht bereiteten die Ereignisse des 17. Juni große Schwierigkeiten. Zu der militärischen Niederschlagung der Erhebung gegen die eigene Bevölkerung kam die Bewältigung eines ideologischen Problems. Die Tatsache, dass sich ausgerechnet Arbeiter gegen das sozialistische System der DDR wandten, manifestierte eine große Kluft der ideologischen Konzeption und der Realität. Die Unvereinbarkeit der Erhebung mit der Konzeption beeinflusste zu Beginn eine zögerliche Haltung beim Eingreifen vieler Volkspolizisten und des sowjetischen Militärs. Der Ausnahmezustand wurde erst sehr spät verhängt, seine Durchsetzung zunächst mehr durch militärische Demonstration (Auffahren von Panzern) und durch Warnschüsse, und erst, als dies ohne große Wirkung blieb, mit Waffengewalt erzwungen. Als Jugendliche die rote Fahne vom Brandenburger Tor herunterholten, waren drei sowjetische Kompanien dort stationiert. Die Zurückhaltung der sowjetischen Truppen erklärte sich sicher oft daraus, dass sie selbst in vielen Fällen nicht die Angegriffenen waren, sondern in erster Linie Organe der SED-Regimes oder Volkspolizisten selbst.

Nach dem 17. Juni zogen SED und Regierung freilich scharfe Konsequenzen, um die Situation in den Griff zu bekommen und neuen Protest zu verhindern. Es entwickelte sich eine interne Diskussion um die Parteilinie, der einige Funktionäre und Bürgermeister von ihren Ämtern enthob.

Laut der offiziellen Sprachregelung der DDR war für die Erhebung eine „westliche Provokation und Agitation“ verantwortlich.[25] Jedoch gestanden manche einflussreiche SED-Funktionäre den Arbeitern das Streikrecht zu, kritisierten Fehler der Regierung und verlangten eine Umgruppierung und eine Neuorientierung der Partei. Ob dies sogar mit dem Versuch der Absetzung Ulbrichts verbunden war, lässt sich nicht mit Sicherheit sagen. Eine Reihe von Mitgliedern des Politbüros und des Zentralkomitees der SED, unter anderen Rudolf Herrnstadt, Anton Ackermann, Hans Jendretzsky, Wilhelm Zaisser, Max Fechner, Elli Schmidt, traten nach den Ereignissen des 17. Juni nicht mehr in der Öffentlichkeit auf und wurden schließlich ihrer Positionen erhoben.

Die Haltung des Westens war während der entscheidenden Vorgänge in Ostberlin und der übrigen DDR durch Passivität und vorsichtige Zurückhaltung gekennzeichnet.[26] Dies hatte verschiedene Gründe und ist unterschiedlich bewertet worden. Zunächst war die Überraschung über die unvermutete Erhebung so groß, dass man den Meldungen keinen Glauben schenken wollte (die ersten Berichte des Senders RIAS wurden von den Nachrichtenbüros nicht übernommen). Als schließlich kein Zweifel mehr bestehen konnte, dass es zu Auseinandersetzungen zwischen den demonstrierenden Arbeitern und der DDR-Staatsmacht bzw. sowjetischen Soldaten gab, forderte die Bundesregierung die Bevölkerung der DDR zur Besonnenheit auf. Am Tag der Erhebung sperrten Westberliner Polizei und alliierte Militärpolizei die Zufahrtswege zur Sektorengrenze ab, um ein mögliches Eingreifen innerhalb der Westberliner Bevölkerung zu verhindern.

In der Bundesrepublik wurden die Ereignisse als Abwehrkampf gegen den Kommunismus und für eine Wiederherstellung der nationalen Einheit verstanden. Der höchst umstrittene Historiker Gerhard Ritter [27], der in der Fischer-Kontroverse [28] die Verantwortung Deutschlands für den 1. Weltkrieg vehement abstritt, umriss die historische Bedeutung des 17. Juni 1953 folgendermaßen:[29]„Zuerst und vor allem, sie hat die Nebel einer dicht gesponnenen Propaganda zerrissen, die über den sowjetisch besetzten Teilen Deutschlands lagerten, und die politische Wirklichkeit ans helle Licht gebracht. Sie war eine Erhebung desselben Arbeiterstandes, dessen politische, soziale und wirtschaftliche Interessen die Pankower Regierung besser als jede andere zu vertreten behauptet. Sie hat die ganze Welt und nicht zuletzt die deutschen Machthaber, dadurch überrascht, daß sie so rasch aus einem Aufbäumen gegen überharten Arbeitsdruck und Arbeitszwang zu einer Proklamierung politischer Freiheitsforderungen führte. Sie hat aber eben damit auch gezeigt, was vorher niemand gewusst, ja auch nur für möglich gehalten hätte: daß selbst unter der Zwangsherrschaft eines totalitären Staatswesens spontane Volkserhebungen mindestens zeitweise möglich sind: nämlich dann, wenn diese Zwangsherrschaft irgendwelche innere Unsicherheit merken läßt. Wichtiger noch: sie hat bewiesen, daß nicht nur materielle Wohlfahrtsinteressen (von denen die marxistische Doktrin fast ausschließlich redet) die Masse der Arbeiterschaft bewegen, sondern daß politische Freiheitsideale auch dort zu Hause und höchst lebendig sind.“

Der Literaturnobelpreisträger Günter Grass kritisierte in einem Interview, dass der Aufstand in der DDR in beiden deutschen Staaten historisch verfälscht worden sei:[30] „In der DDR nach üblichem Muster als versuchte Konterrevolution, und im Westen hat der damalige Bundeskanzler Konrad Adenauer von Anfang an den Arbeiteraufstand umgebogen zur Volkserhebung – das ist er aber nie gewesen.“ Weiterhin beanstandete Grass das zögerliche Verhalten der übrigen Alliierten. Beim Eingreifen der sowjetischen Panzer am 17. Juni „habe man gewiß sein können, dass von amerikanischer, britischer und französischer Seite nichts geschehen würde – wie 1956 beim Posener Aufstand in Polen und beim ungarischen Volksaufstand, 1961 beim Bau der Mauer und 1968 in der Tschechoslowakei. Jedes Mal hat der Westen den Status quo respektiert – nicht ist geschehen.“ [31]

Am 03.07.1953 erklärte der Bundestag den 17. Juni als „Tag der deutschen Einheit“ zum gesetzlichen Feiertag.

Nach den Ereignissen des 17.Juni ergab sich für den Partei- und Staatsapparat der DDR vordringlich die Notwendigkeit, seine Macht gegenüber der Bevölkerung wieder zu festigen. Dazu sollte einerseits die Verfolgung der Anführer der Erhebung, andererseits eine gemäßigtere Politik, die schon mit der Ausrufung des neuen Kurses am 11. Juni begonnen hatte, dienen. Auf diese Weise wurde versucht, den guten Willen der Regierung glaubwürdig zu machen. Mit Härte und Nachgiebigkeit zugleich sollte der innere Frieden wiederhergestellt werden, der für den weiteren Ausbau des Sozialismus zunächst Voraussetzung war.

Das Zentralkomitee der SED gab am 21.Juni eine Erklärung ab, in der es hieß:[32] „Wenn Massen von Arbeitern die Partei nicht verstehen, ist die Partei schuld, nicht der Arbeiter! Aus dieser grundlegenden Feststellung ergibt sich für alle Mitglieder und Funktionäre unserer Partei die Notwendigkeit, mit größter Sorgsamkeit zu unterscheiden zwischen den ehrlichen, um ihre Interessen besorgten Werktätigen, die zeitweise den Provokateuren Gehör schenkten – und den Provokateuren selber. Das Zentralkomitee (…) setzt den neuen Kurs planmäßig fort.“

Unter den Maßnahmen, die den neuen Kurs fortsetzen sollten, stand als erster Punkt: „Den Lohnberechtigten sind ab sofort diejenigen Arbeitsnormen zugrunde zu legen, die am 1.April 1953 Gültigkeit hatten.“ Damit war die ursprüngliche Forderung der Bauarbeiter auf der Stalinallee erfüllt. Weiterhin wurden Fahrpreisermäßigungen wiederhergestellt, Sozialrenten erhöht, kurz zuvor aufgegebene Versicherungsansprüche wieder in Kraft gesetzt, eine Beschleunigung des Wohnungsbaus angekündigt, Mittel für die Verbesserung der Arbeits- und Erholungsbedingungen bereitgestellt und schließlich die Stromversorgung der Bevölkerung durch Einschränkungen bei der Schwer- und Grundindustrie normalisiert.

Bald folgten weitere Maßnahmen zur Verbesserung des Lebensstandards und vieler Lebensbedingungen, die für Jahre des Übergangs gewisse Erleichterungen auf vielen Gebieten erbrachten. In der Wirtschaftspolitik fand die Lebensmittel- und Verbrauchsgütererzeugung wieder stärkere Förderung, während der Ausbau der Schwerindustrie mit weniger Nachdruck fortgesetzt wurde. 1954 beschloss die sowjetische Regierung, 1643 Menschen, die seit 1945 von sowjetischen Militärgerichten verurteilt worden waren, aus den Gefängnissen zu entlassen. Weitere 1200 von Sondergerichten der DDR zu Zuchthausstrafen verurteilte Häftlinge wurden amnestiert und freigelassen.

Diese Nachgiebigkeit war jedoch begleitet von einer intensiven Agitationstätigkeit der Funktionäre, die mit der Propagierung des neuen Kurses eine bessere Grundlage hatten als in den Jahren zuvor. In der Erklärung der SED vom 21.Juni 1953 waren auch Loyalitätskundgebungen der Betriebe gefordert worden:[33] „Der Prüfstein für den Erfolg unserer Aufklärungsarbeit werden die von den Belegschaften aus innerer Überzeugung aufgenommenen Beschlüsse der Unterstützung des neuen politischen Kurses von Partei und Regierung und ihre Einsicht in die Notwendigkeit zur aktiven Bekämpfung aller offenen und versteckten Provokateure sein.“

Was mit den Verordnungen nicht erreicht worden war, sollte nun durch die subtileren Mittel der Propagandatätigkeit herbeigeführt werden.

Konsequenzen aus den Ereignissen des 17. Juni gab es auch in der Justiz. Justizminister Max Fechner, der den Arbeitern das Streikrecht zugebilligt hatte, musste seinen Posten an Hilde Benjamin, der bisherigen Vizepräsidentin des Obersten Gerichtshofes, abgeben. Während einerseits viele politische Gefangenen entlassen wurden, kam es andererseits zu immer neuen Verhaftungen aus politischen Gründen.

Der neue Kurs in der DDR wurde durch Zugeständnisse der sowjetischen Besatzungsmacht unterstützt. Ab 01.01.1954 brauchten keine Reparationen mehr geliefert zu werden. Die nach dem 2.Weltkrieg als sowjetische Aktiengesellschaften übernommenen deutschen Betriebe wurden, soweit sie noch in sowjetischer Hand waren, an die DDR zurückgegeben. Weiterhin begrenzte die sowjetische Regierung die Höhe der Besatzungskosten auf fünf Prozent des Staatshaushaltes der DDR. Allerdings sicherte sich die Sowjetunion für ihre erheblichen Importe aus Deutschland Sonderpreise, die weit unter den Weltmarktpreisen lagen. Polen verzichtete ebenfalls auf Reparationen.

 

 

2 Prager Frühling

 

Erste Maßnahmen der Entstalinisierung leitete der sowjetische Innenminister Lawrenti Beria drei Wochen nach Stalins Tod ein. Er verbot Misshandlungen während der Untersuchungshaft, rehabilitierte die Kreml-Ärzte, die unmittelbar vor Stalins Tod einer politischen Verschwörung bezichtigt worden waren, stärkte die nationalen Kader in den Teilrepubliken und stellte die Arbeit des „Ausschusses für konterrevolutionäre Verbrechen“, eines der zentralen staatlichen Repressionsorgane, ein. Am bedeutendsten war jedoch wohl die Entlassung von etwa 1,2 Mio. Lagerinsassen aus den Straflagern. Allerdings galt diese Amnestie nur für Häftlinge, die eine Strafe von weniger als fünf Jahren verbüßten. Damit waren politisch Verfolgte von dieser Maßnahme ausgenommen. Im Zuge der Lockerung des Strafvollzugs kam es seit 1953 verstärkt zu Lageraufständen, die sich gegen die weiterhin schlechten Haftbedingungen richteten.

Die Jahre vom Tode Stalins bis zur Geheimrede Chruschtschows bezeichnet man auch als „stille Entstalinisierung“, da eine Abkehr von der bisherigen Politik zwar teilweise vollzogen, jedoch noch nicht offen proklamiert wurde.

In dieser Zeit war auch die Nachfolge Stalins nicht eindeutig geregelt. Zunächst trat eine kollektive Führung an die Spitze des Staates. Von dieser Führung wurde Beria am 26. Juni 1953 festgenommen (aus Furcht vor dem mächtigen Geheimdienstchef); im Dezember 1953 wurde er hingerichtet. In den folgenden Diadochenkämpfen setzte Chruschtschow sich schließlich – durch geschicktes Taktieren und mit Hilfe des von ihm weitgehend kontrollierten Parteiapparats – gegen seine Rivalen um die Macht durch. Zur politischen Legitimation seiner Herrschaft emanzipierte er sich gezielt von Stalin, obwohl er, wie die gesamte Führungsriege des Landes, zu Lebzeiten zu dessen engsten Vertrauten gezählt hatte und an den Verbrechen des Regimes beteiligt gewesen war. Malenkow – vor Stalins Tod der „zweite Mann“ im Staate – war noch bis zum 8. März 1955 Vorsitzender des Ministerrates.

Auf dem XX. Parteitag der KPdSU hielt Chruschtschow in einer geschlossenen Sitzung am 25. Februar 1956 eine Rede Über den Personenkult und seine Folgen, in der er den Personenkult um Stalin, dessen Machtmissbrauch und die staatlichen Repressionen gegen Parteifunktionäre kritisierte. Die Macht der Partei basiere nicht auf einer Person, so Chruschtschow, sondern auf dem „unverbrüchlichen Bund mit den Massen“. Außerdem forderte er eine Wiederbesinnung auf die Lehren Lenins und die damit verbundene Rückkehr zum Prinzip der kollektiven Führung: Kollektivität sei „das führende Prinzip der Leitung der Partei“. Keine Erwähnung in dieser Rede fanden hingegen der Terror gegen die breite Bevölkerung und die politischen „Säuberungen“ vor 1934.

Somit kritisierte Chruschtschow zwar Stalin persönlich, nicht jedoch grundlegende Strukturen des stalinistischen Systems. Trotz des Postulats der Geheimhaltung wurde die Rede an lokale Parteiinstanzen und kommunistische Parteien im Ostblock versandt. Durch Zufall gelangte sie über die israelische Botschaft in Warschau an den israelischen Geheimdienst, der sie an den CIA weiterleitete.

Das literarische Schaffen der sowjetischen Autoren während der Stalin-Ära war geprägt durch die totale Vereinnahmung der Literatur durch die Kommunistische Partei. Die Kunststilrichtung des Sozialistischen Realismus galt als Maßstab, an dem sich jeder Künstler messen lassen musste. 1954 erschien Ilja Ehrenburgs Roman „Tauwetter“. Anstatt wie bisher üblich ein durchweg positives Bild von der Sowjetunion zu zeichnen, erzählt Ehrenburg eine Geschichte über sowjetische Durchschnittsmenschen und nimmt gleichzeitig eine psychologische Analyse seiner Protagonisten vor. Damit wurde der Roman zu einem Symbol der neuen künstlerischen Möglichkeiten, und sein Titel etablierte sich auch außerhalb der Literatur als Epochenbegriff: „Tauwetter“ stand fortan metaphorisch für den Prozess eines langsamen Auftauens einer durch strenge Direktiven und staatlichen Terror erstarrten Gesellschaft.

Die „Tauwetter-Literatur“ kritisierte insbesondere die so genannte „Produktions- und Kolchosenliteratur“ mit ihren stereotypen Helden, den Handlungsklischees und der konfliktfreien Atmosphäre. Sie stellten darüber hinaus die moderne Fortschrittsgläubigkeit in der Sowjetunion sowie die Verhaltensmechanismen der KPdSU infrage und forderten Wahrhaftigkeit und Aufrichtigkeit in der Literatur. Allerdings gab es auch zur Zeit des „Tauwetters“ Grenzen, die von der Literatur nicht überschritten werden durften. So kam es weiterhin, wenn nun auch in eingeschränkter Form, zu Publikationsverboten und staatlichen Repressalien gegen Schriftsteller. Das berühmteste Beispiel hierfür bildet der Roman Doktor Schiwago von Boris Pasternak, der für dieses Werk 1958 den Nobelpreis für Literatur erhielt. Wegen der im Roman vorgetragenen Kritik am Marxismus-Leninismus und Bolschewismus, aber auch aufgrund der politischen Instrumentalisierung des Werks durch den Westen wurde der Druck des Romans in der Sowjetunion verboten und der Autor einer Hetzkampagne in der sowjetischen Presse ausgesetzt.

Die neuen Freiräume führten gleichzeitig zu einer kritischen Aufarbeitung des Stalinismus. So befürwortete Chruschtschow 1962 persönlich das Erscheinen von Alexander Issajewitsch Solschenizyns Erzählung „Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch“, in der Solschenizyn, selbst ehemaliger Häftling, die Grausamkeiten des sowjetischen Lagerlebens eindrucksvoll schilderte.

Für die Musik bedeutete die Entstalinisierung eine Lockerung der 1948 vom ZK der KPdSU geforderten Volksnähe der Kunst. Der unter Stalin einerseits für seinen Modernismus verfemte und andererseits aufgrund seiner internationalen Erfolge gefeierte Komponist Dmitrij Schostakowitsch erlebte eine Art inoffizielle Rehabilitierung und wurde 1957 zum Sekretär des Komponistenverbandes gewählt.

Mit dem Sturz Chruschtschows im Jahre 1964 endete auch die Politik der dosierten Freiräume für die Künstler der Sowjetunion und die „Tauwetterliteratur“ verschwand in der Breschnew-Ära.

Nach Stalins Tod stand insbesondere die Wirtschaft vor großen Herausforderungen, da jahrzehntelang einzig die Schwerindustrie zu Lasten von Landwirtschaft und Konsumgüterproduktion vorangetrieben worden war. Verzicht und Zurückhaltung waren der Bevölkerung immer weniger zu vermitteln, weshalb bereits 1952 die ersten Schritte zur Neuordnung der Prioritäten unternommen wurden. Da allerdings die Rüstungs- und Raumfahrtindustrie, die zeitweise bis zu 30 % der Staatsausgaben für sich beanspruchten, für das Kräftegleichgewicht mit den USA unverzichtbar waren, konnten die Investitionen nicht reduziert werden. Die Weiterentwicklung der Schwerindustrie blieb deshalb wesentlicher Bestandteil der sowjetischen Wirtschaftspolitik.

Bestrebungen zur Effizienzsteigerung, die zumindest das Budget zugunsten der anderen Wirtschaftszweige entlasten sollten – wie eine massive Dezentralisierung und Regionalisierung sowie der Abbau der bürokratischen Planungsapparate – scheiterten zu guter Letzt am allgemeinen Desinteresse, grundsätzliche planwirtschaftliche Defizite zu reformieren. Die Neuerungen wurden deshalb teilweise schon von Chruschtschow, endgültig aber nach dessen Sturz wieder revidiert.

Nur wenige Monate nach der „Geheimrede“ Chruschtschows auf dem XX. Parteitag wurde der GULag als Hauptverwaltung des stalinistischen Lagersystems aufgelöst und die verbleibenden Lager verschiedenen anderen Dienststellen unterstellt. Nach offiziellen sowjetischen Angaben erfolgte daneben bis Mai 1957 die Entlassung von 70 % der Lagerinsassen von 1953 aus der Haft.Die Zahl der Lager verringerte sich deutlich und auch die Haftbedingungen verbesserten sich. Dennoch blieb die Institution des Lagersystems als Strafvollzugssystem bis zum Ende der Sowjetunion bestehen.

Weiterhin verschwanden, wenngleich auch in deutlich geringerer Zahl als unter Stalin, potentielle und vermeintliche Gegner der Staatsmacht in den Lagern. Letztere dienten damit weiterhin, wenn auch in abgeschwächter Form, der Unterdrückung und Disziplinierung der Bevölkerung. Eine weitere grundlegende Funktion verlor das Lagersystem indes nahezu vollständig: Von 1929 bis 1953 sollte die Arbeitskraft der Häftlinge für die Staatswirtschaft gewinnbringend genutzt werden. Als Zwangsarbeiter wirkten die Häftlinge des GULag jahrzehntelang an der Industrialisierung der Sowjetunion mit. Nachdem diese ein gewisses Niveau erreicht hatte, zeigte sich in den 1950er Jahren immer mehr, dass die Sowjetunion nun nicht mehr die massive Arbeitskraft schlecht ausgebildeter und nach kurzer Zeit entkräfteter Zwangsarbeiter, sondern qualifizierte und motivierte Facharbeiter benötigte.

Auf Grund der offenkundig gewordenen ökonomischen Ineffektivität der Häftlingsarbeit im Rahmen der auf Dezentralisierung abzielenden neuen Wirtschaftspolitik unter Chruschtschow endete damit die unter Stalin aufgebaute Funktion des GULag als wichtiger Wirtschaftsfaktor in der Sowjetunion. Dies dürfte ein wesentlicher Grund für die Entlassung des Millionenheeres unfreier Lagerzwangsarbeiter nach 1953 gewesen sein.

Beim XXII. Parteitag der KPdSU im Oktober 1961 sollte die Verabschiedung des neuen Parteiprogramms im Mittelpunkt stehen. Gleichwohl setzte Chruschtschow (wohl zur Überraschung vieler Delegierter) die Entstalinisierung erneut auf die Tagesordnung; das Verhalten und die Machenschaften der „parteifeindlichen“ Gruppe um Wjatscheslaw Michailowitsch Molotow (die schon 1957 entmachtet worden war) wurde öffentlich angeprangert..

In zahlreichen Reden wurde die „parteifeindliche“ Gruppe der Beteiligung an den Verbrechen Stalins beschuldigt und deren Ausschluss aus der Partei sowie die Einleitung strafrechtlicher Verfolgungsmaßnahmen gefordert. Auf Beschluss des Parteitages wurde Stalins Name aus der sowjetischen Öffentlichkeit getilgt: zahlreiche nach ihm benannte Städte und Straßen wurden umbenannt; sein Leichnam wurde aus dem Lenin-Mausoleum entfernt

Durch den erneuten Rückgriff auf die Entstalinisierung versuchte Chruschtschow seine geschwächte Machtposition gegenüber seinen innerparteilichen Gegnern wieder zu festigen.

Kurz nach dem XXI. Parteitag wurden auch in Bulgarien, Ungarn, Rumänien und der DDR Tausende von Stalin-Straßen, -Plätzen und -Fabriken umbenannt, Stalin-Denkmäler demontiert, Stalin-Bilder übermalt und Stalins Werke aus den Bibliotheken entfernt. Das sowjetische Stalingrad (bis 1925 Zarizyn) wurde in Wolgograd umbenannt. Die „Schlacht von Stalingrad“ wurde in der Sowjetunion nun „Schlacht von Wolgograd“ genannt.

Zum Beispiel wurde in Ost-Berlin die Stalin-Statue demontiert; die Ostberliner Stalin-Allee wurde umbenannt (teils in Karl-Marx-Allee, teils in Frankfurter Allee). Aus der Betriebsbezeichnung „VEB Elektroapparatewerke J. W. Stalin“ wurde der Name Stalins gestrichen. Die Nachbarstädte Fürstenberg und Stalinstadt wurden zum Stadtkreis Eisenhüttenstadt vereinigt.

Chruschtschow wurde am 14. Oktober 1964 aufgrund des verlorenen Rückhalts innerhalb des Zentralkomitees abgesetzt. Enttäuschte Hoffnungen in der Wirtschaftspolitik, eine Konzentration der Macht in der Hand eines Einzelnen und eine Reihe strittiger außenpolitischer Entscheidungen begünstigten den Machtverlust. Als Nachfolger trat Leonid Breschnew die Position des Ersten Sekretärs des ZKs der KPdSU an.

hatten auch in der Tschechoslowakei zu einer Verurteilung des Personenkults geführt. Seit 1957 amtierte Partei- und Staatschef Antonín Novotny. 1957 übernahm er als Nachfolger von Antonín Zápotocký auch das Amt des Staatspräsidenten. Mit seinem Namen verbindet sich die harte Repressionspolitik der frühen 1950er Jahre, aber vor allem auch die Fortsetzung der stalinistischen Linie bis weit in die 1960er Jahre hinein

Die Ereignisse in Ungarn 1956 waren auch ein Vorläufer für den Prager Frühling. Der Ungarische Volksaufstand war  die bürgerlich-demokratische Revolution und den Freiheitskampf von 1956 in der Volksrepublik Ungarn, bei denen sich breite gesellschaftliche Kräfte gegen die Regierung der kommunistischen Partei und der sowjetischen Besatzungsmacht erhoben. Die Revolution begann am 23. Oktober 1956 mit einer friedlichen Großdemonstration der Studenten der Universitäten in Budapest, die demokratische Veränderungen forderte. Die Regierung ließ am Abend in die schnell wachsende Menge schießen, daraufhin brach der bewaffnete Kampf aus. Binnen weniger Tage wurde die Einparteidiktatur durch eine Regierung unter der Leitung von Imre Nagy abgelöst, in der auch die Bauernpartei und die Kleinlandwirtepartei Ministerien erhielten. Diese Regierung bildete sich innerhalb von acht Tagen noch zweimal um und beteiligte auch noch die sozialdemokratische Partei. Ungarn trat aus der Warschauer Vertragsorganisation aus, erklärte seine Neutralität und rief die Sowjetarmee zum Verlassen des Landes auf.

Der Freiheitskampf endete mit der Invasion der durch Einmarsch verstärkten übermächtigen Sowjetarmee, die am 4. November 1956 eine pro-sowjetische Regierung unter János Kádár installierte. Die Kämpfe gegen sie dauerten in Budapest eine Woche, an einzelnen Orten mehrere Wochen lang, im Gebirge sogar bis Anfang 1957. Der Westen unterstützte die Aufständischen verbal, die NATO hielt sich jedoch von einer militärischen Konfrontation mit dem Ostblock zurück. Nach der Niederschlagung des Freiheitskampfes wurden hunderte Aufständische – unter ihnen Imre Nagy und Pál Maléter – durch die kommunistischen Machthaber hingerichtet, zehntausende wurden eingekerkert oder interniert. Hunderttausende Ungarn flüchteten vor der Diktatur in den Westen. Der Aufstand wurde vom Kádár-Regime stets als „Konterrevolution“ bezeichnet, die öffentliche Nennung als Revolution wurde geahndet.

Ein frühes Anzeichen dieser Veränderungen war die „Rehabilitierung“ des lange verfemten Franz Kafka, dessen literarische Geltung auf einer internationalen Schriftstellertagung auf Schloss Liblice am 27. und 28. Mai 1963 zur Debatte gestellt wurde. Auf dieser als Kafka-Konferenz bekanntgewordenen Tagung handelte es sich um eine politische Diskussion auf dem Feld der Literaturwissenschaft, wobei Gegenstand der Debatte im Wesentlichen der zentrale marxistische Begriff der Entfremdung war. Gegen die Meinung vor allem der Teilnehmer aus der DDR, welche Kafka als Opfer eines Personenkults sahen und dafürhielten, dass es die von Karl Marx postulierte Entfremdung des Arbeiters von seiner Arbeit im Sozialismus nicht mehr geben könne, vertraten die tschechoslowakischen Delegierten mit dem Österreicher Ernst Fischer die Auffassung, dass dies sehr wohl der Fall sein könne und dass man die Dinge so sehen solle, wie sie lägen.

Die Diskussion der Kafka-Konferenz wurde von der Literaturzeitung Literární noviny aufgegriffen und weitergeführt. Diese Zeitschrift war in der Folgezeit ein Hauptschauplatz der Auseinandersetzung zwischen den Ideologen und den Idealisten. Die Zeitschrift erreichte eine für ein Land wie die Tschechoslowakei beachtliche Auflage von 140.000 Exemplaren. Sie hatte sich zunehmend mit Sanktionen des Zentralkomitee der KPČ zu befassen. Der Chefredakteur wurde ausgewechselt, doch sein Nachfolger konnte wenig ausrichten. Auf einem Kongress des Schriftstellerverbandes im Juni 1967 übten die von Literární noviny entsandten Delegierten (drei Redakteure der Zeitschrift Ivan Klíma, Antonín Jaroslav Liehm und Ludvík Vaculík  erstmals direkte Kritik an der Parteiführung.

Staats- und Parteichef Antonín Novotný reagierte mit einer öffentlichen Erklärung, wonach der Kongress Teil einer vom Ausland gesteuerten Kampagne gegen die anstehenden Feierlichkeiten zum 50. Jahrestag der Oktoberrevolution sei. Die KPČ befahl die Umbildung der Redaktion der Zeitschrift und verbot einer Anzahl der Kongressteilnehmer, darunter Pavel Kohout und Václav Havel, bei den Wahlen des Schriftstellerverbands zu kandidieren. Die oben genannten drei Redakteure wurden aus der Partei ausgeschlossen, andere Teilnehmer – wie etwa Kohout – erhielten Verwarnungen. Die Zeitschrift wurde dem Kulturminister Karel Hoffmann unterstellt und büßte augenblicklich ihre Funktion als Dissidentenorgan ein. Alles dies wurde jedoch als Anzeichen gesehen, dass Novotný Schwierigkeiten hatte, sich wie einst auf der Stelle durchzusetzen. So führten die Sanktionen stattdessen zu einem breiten Protest von Journalisten, Künstlern und Schriftstellern, und eine „gesetzlich ungeregelte, aber disziplinierte Presseanarchie“, die im März 1968 schließlich in der Abschaffung der Zensur gipfeln sollte, begann, sich zu entwickeln.

Es gab einen nicht öffentlichen Machtkampf zwischen Novotný (damals Erster Sekretär des Zentralkomitees der KSČ) und Rudolf Barák. Barák wurde im Februar 1962 verhaftet; er verlor alle seine Partei- und Regierungsposten und wurde aus der KSČ ausgeschlossen. Die KSC entschied, seinen Fall als kriminelle Tat darzustellen; Barák wurde aufgrund von konstruierten Beschuldigungen zu 15 Jahren Haft verurteilt. Er hatte nicht nur sein Land durch vorsichtige Wirtschaftsreformen in die "erste Liga" des COMECON gebracht, Anfang der 1960er Jahre die Stalinisten ausgeschaltet und einen Spalt der Liberalisierung und Meinungsfreiheit (etwa durch Live-Fernsehdiskussionen in Kooperation mit dem ORF) geöffnet, sondern auch 1964 als einziger Ostblockführer der Absetzung Chruschtschows durch Leonid Breschnew kritisch gegenübergestanden. Letzteres hatte ihm Breschnew übelgenommen. Als sich in der CSSR 1967 Unzufriedenheit und Unruhe breit machten, formuliert vor allem von Schriftstellern, Künstlern und Intellektuellen wie Václav Havel und Pavel Kohout, und sich Novotny gegen die Stationierung sowjetischer Raketenbasen stellte, ergriff Breschnew die Gelegenheit. Die Würfel für die Absetzung NovotnÝs fielen bereits Anfang Dezember 1967 während eines überraschenden "Urlaubsbesuches" des sowjetischen Parteichefs.

Am 5. Januar 1968 musste Novotny von seinem Posten als Erster Sekretär der KPC, der eigentlichen Machtposition, zurücktreten und für den slowakischen KP-Chef Alexander Dubcek Platz machen. NovotnÝ blieb Staatspräsident. Dennoch: Der Wechsel an der Parteispitze markierte den Beginn des "Prager Frühlings", einer zunächst von der Parteispitze verordneten Reform des sozialistischen Modells, die sehr bald von breiten Bevölkerungsschichten übernommen wurde und sich Ende Juni immer weiter verselbständigte, was den Druck auf die Reformer um Dubcek erhöhte. Der Idealist Dubcek, geschult in sowjetischen Partei- und Kaderschmieden, hatte sich weitgehend von der Doktrin gelöst und versucht, seine Vision eines "Sozialismus mit menschlichem Antlitz" zu verwirklichen. Der Sozialismus erschien ihm weiterhin als beste Gesellschaftsform, doch hatte er sich von den Vorgaben aus Moskau weit entfernt.

Dies bedeutete Druck von zwei Seiten: von den Hardlinern im Kreml und den KP-Chefs Walter Ulbricht und Wladyslaw Gomulka einerseits und von den restaurativen, orthodoxen Kräften in der Tschechoslowakei andererseits. Schon im März 1968, zwei Monate nach seiner Inthronisation, brüskierte Dubcek den Kreml, als er die Einladung einer Militärdelegation nach Moskau ablehnte. Die restaurativen Kräfte um NovotnÝ gaben sich freilich noch nicht geschlagen. Im März planten sie die Verhaftung der Reformer, General Vladmir Janko sollte mit seiner Panzerdivision vorgehen und nach einer Liste mit 1030 Namen Verhaftungen durchführen. Als die Liste öffentlich wurde, beging Janko Selbstmord, und NovotnÝ musste zurücktreten. Die Ernennung von General Ludvík Svoboda zum neuen Staatspräsidenten, der sofort über tausend politische Gefangene amnestierte, galt als Schritt zur Festigung der Position der Reformer. Heute wissen wir, dass sich Svoboda im August 1968, knapp fünf Monate später, gegen die Dubcek-Gruppe stellte und die Position des Kreml stärkte.

Am 5. April 1968 folgte das entscheidende Plenum der KPC mit einem "Aktionsprogramm", das binnen zwei Jahren von der Regierung umgesetzt werden sollte und das in den an Moskau orientierten europäischen KP-Zentralen die Alarmglocken schrillen ließ: Die KPC verzichtete weitgehend auf ihr Machtmonopol, ein Schritt, den erst wieder Michail Gorbatschow Ende der 1980er Jahre wagte, mit dem Ergebnis des Endes der KP-Herrschaft und der Sowjetunion. Im Einzelnen wurde beschlossen, eine teilweise Privatisierung der Wirtschaft (Klein- und Mittelbetriebe) zuzulassen, die Wirtschaft von politischen Direktiven frei zu halten und Betriebsräten Entscheidungskompetenzen zu geben. Die Anerkennung der bürgerlichen Grundfreiheiten wurde vollzogen, von der Rede-, Reise- und Versammlungsfreiheit, der Freiheit von Wissenschaft, Kunst, Kultur, Medien bis zur Gründung von Vereinigungen. Das Verhältnis zwischen Tschechen und Slowaken sollte auf föderativer Basis neu geregelt werden.

Aus dem KPC-Plenum ging eine neue Führung hervor, die 15 der 19 neuen Minister in die neue Regierung unter Oldrich Cerník entsandte. Innenminister Josef Pavel stimmte Neubesetzungen im Geheimdienst nicht mehr mit der Moskauer KGB-Zentrale ab, wie es bis dahin Usus gewesen war. Zudem rücken Frantisek Kriegel und Jozef SmrkovskÝ in die erste Reihe der Reformer auf. Bei einer hastig einberufenen ZK-Sitzung in Moskau zur Lage in der CSSR kamen die Sowjetführer am 10. April 1968 zu folgender Sprachregelung: "Wir werden die Tschechoslowakei nicht aufgeben!" Diese grundsätzliche Willensäußerung wurde auf politischer und militärischer Ebene umgesetzt. Schon nach wenigen Tagen begann der Oberbefehlshaber der Truppen des Warschauer Pakts, Marschall Iwan Jakubowski, in Polen und daraufhin auch in Berlin, Sofia und Budapest Konsultationen. Das Ziel waren gemeinsame Militärmanöver in der Tschechoslowakei. Die militärische Lösung des Problems sollte zur politischen Option werden. Die Prager Führung kam - in realistischer Einschätzung des Zwecks des Manövers - in die Zwickmühle: Bündnisverpflichtung oder Ablehnung. Schließlich stimmte sie den Manövern zu. Die ersten, beschickt von Panzertruppen Polens und der Sowjetunion, begannen schon im Mai in Südpolen. Ab 19. Juni begannen schließlich in der Tschechoslowakei große Manöver des Warschauer Paktes ("Sumava"), von denen einzelne Truppenverbände bis zur Invasion nicht mehr abzogen.

Die SED-Führung in Berlin, insbesondere die Staatssicherheit, begann mit der Anlage von Dossiers über die führenden Persönlichkeiten in Prag. Sie dienten nach der Invasion als Basis für Säuberungen im Kaderapparat der KPC. Ostdeutsche Behörden begannen Ende April, die deutschen Sendungen von Radio Prag zu stören.

In der CSSR hatten sich die Reformer mit dem "Aktionsprogramm" und der Regierungsbildung fürs Erste gegen die "Konservativen" durchgesetzt. Die Regierungserklärung vom 24. April 1968 machte dies - trotz der Treuegelöbnisse gegenüber Moskau und dem Warschauer Pakt - deutlich, als man die Aufhebung der Zensur, die Rehabilitierung von politischen Opfern, die Erweiterung von Reisemöglichkeiten und Wirtschaftsreformen versprach. Der Sozialismus wurde nicht zur Diskussion gestellt. Spätestens jetzt war für den Kreml ein weiteres, schwerwiegendes Problem in der kommunistischen Bewegung entstanden, weil die Funken der Ideen von Prag überzuspringen drohten. Die Unterstützung des Dubcek-Kurses war unüberhörbar: aus Belgrad und Bukarest, aus den Kommunistischen Parteien Italiens und Frankreichs, aus der Linken der deutschen und französischen "68er-Bewegung" und nicht zuletzt durch den Faktor China, der den Prager Reformern mehr Handlungsspielraum gab, weil die Moskauer Ideologen, wie sich Breschnew nach dem Einmarsch ausdrückte, "ein Maximum an Aufmerksamkeit auf die Entlarvung der Revision des Leninismus von Links, von Seiten der Gruppe Mao Tse Tungs, richten mussten", was naturgemäß Kräfte band.

In der CSSR hatte der politische Reformprozess zu einer starken Solidarisierung weiter Teile der Bevölkerung, besonders der Jugend und Intellektuellen, mit der KP-Führung geführt. Wesentlich trugen dazu die gewährten persönlichen Freiheiten bei, etwa die weitgehende Reisefreiheit, auch ins westliche Ausland und an die Adria. Zehntausende aus westlichen Staaten kamen im Gegenzug in das Land. Ein Spalt im "Eisernen Vorhang" hatte sich aufgetan. Dazu kamen die Aufhebung der Pressezensur ("Literani listy", die neue Zeitschrift des Schriftstellerverbandes unter Eduard Goldstücker, wurde zur publizistischen Plattform der Demokratisierung), Meinungsvielfalt und unzensierte Radio- und TV-Sendungen. Der tschechoslowakische Film (etwa von Milos Forman) setzte internationale Maßstäbe. Neue Vereine wie K231 (nach einem Strafgesetzartikel) und KAN (Klub engagierter Parteiloser) wurden zu Sammelbecken von Reformern außerhalb der Partei. Es kam zu Diskussionen über die Gründung einer Sozialdemokratischen Partei. Nach Jahren der Unterdrückung erlebte die katholische Kirche einen Aufbruch. Es gab berechtigte Hoffnungen der Slowaken auf mehr Mitsprache im Staat, auf Anerkennung ihrer nationalen Selbständigkeit im Rahmen einer Föderation und schließlich die Hoffnung vieler Tschechoslowaken, auf diesem Weg dem politischen, wirtschaftlichen und militärischen Block Moskaus entrinnen zu können.

Die Bewegung des "Prager Frühlings" kulminierte am 27. Juni 1968. An diesem Tag veröffentlichten der Schriftsteller Ludvík Vaculík und weitere 67 Intellektuelle, Schriftsteller und Künstler das so genannte "Manifest der 2000 Worte" (Dva tisíce slov), eine Abrechnung mit 20 Jahren der KP-Herrschaft. Die weitere Demokratisierung, so das Manifest, könne nur außerhalb der KPC gesichert werden. Damit stellte man den Sozialismus als Gesellschaftsform überhaupt in Frage. In Moskau brachte das Manifest das Fass zum Überlaufen. Noch in der Nacht darauf soll Breschnew von Dubcek einen "sofortigen Angriff der Volksmilizen gegen die konterrevolutionären Kräfte" gefordert haben. Für den Kreml war das Manifest ein Aufruf zur Konterrevolution in der Tschechoslowakei, obwohl sich die KPC vom Manifest distanziert hatte. Dubcek gehorchte dem KPdSU-Generalsekretär nicht, denn die Masse der Bevölkerung hatte das Manifest begeistert aufgenommen. Die Reformen in der Tschechoslowakei wurden insbesondere in Ost-Berlin mit Missfallen beobachtet. Es war die SED, welche die Reformen des "Prager Frühlings" zum ersten Mal als Konterrevolution bezeichnete. Unterstützung und Bekräftigung in ihrer Einschätzung fand sie vor allem durch die KP-Chefs Polens und Bulgariens, Gomulka und Todor Zivkov.

Aufgrund der Auswertung der neu geöffneten Moskauer Akten kann der Entscheidungsprozess im ZK der KPdSU von Januar bis zum Einmarsch im August 1968 in vier Phasen unterteilt werden:

1.      Die Phase der Wahrnehmung. Sie wurde am 23. März 1968 in Dresden abgeschlossen und gegenüber den Tschechen und Slowaken mit der Bekanntgabe der politischen Forderungen nach Restauration verbunden. Die folgenden Phasen wurden von der Suche nach einem Weg zur Durchsetzung der Dresdener Forderungen bestimmt.

2.      Die Phase des politischen und militärischen Drucks von Ende März bis Ende Juni 1968.

3.      Die Phase des Manifests der "2000 Worte", die Breschnew als "Emser Depesche" nutzte, um den Druck auf die Reformer zu erhöhen, von Ende Juni bis Mitte Juli 1968. Die Würfel zum Einmarsch fielen schließlich Mitte Juli in Warschau, als die "Warschauer Fünf" Dubcek ein Ultimatum setzten.

4.      Die letzte Phase ab dem 17. Juli, als das Politbüro grundsätzlich über die militärische Aktion und die politische Vorbereitung des bürokratischen Putsches in Prag entschied, über die Zwischenspiele in Cierná nad Tisou/Schwarzau a. d. Theiß und Bratislava/Pressburg, bis zur militärischen Intervention.

Nach der Wahl Dubceks beschränkte sich der Kreml darauf, die Lage in der CSSR als schwierig und widersprüchlich zu bezeichnen und "der tschechoslowakischen Führung soweit wie möglich zu helfen". Man sei, wie man der KPC-Führung immer wieder zu verstehen gab, mit den Beschlüssen des Januarplenums und dem eingeschlagenen Reformkurs einverstanden. Anders sahen dies dagegen vor allem die ostdeutschen, polnischen und bulgarischen Genossen. Nach der Lockerung der Zensur und den Absetzungen von KP-Funktionären begannen Teile der Moskauer Führung "besorgt" zu reagieren, vor allem nach einem Bericht von Außenminister Andrej Gromyko und von KGB-Chef Juri Andropow, den die beiden am 15. März 1968 dem Politbüro vorlegten. Das prognostizierte Horrorszenario: Ohne Gegenmaßnahmen drohe in der CSSR der Kapitalismus und damit die Spaltung des Warschauer Paktes.

Polens KP-Chef Gomulka traf sich - nach Absprache mit Moskau - als einer der ersten bereits Anfang Februar mit der Prager Parteispitze. Dubceks Bemühungen, die Lage in seinem Land in bestem Licht darzustellen, überzeugten Gomulka nicht. Anders Zivkov: Er blieb trotz der Demontage NovotnÝs, dem zweifellos die bulgarischen Sympathien zukamen, gelassen. Die SED-Führung, die ihr Bild aus den Informationen des DDR-Botschafters in Prag, Peter Florin, bezog, schlug indes Alarm: Die KPC-Führung sei gespalten und könne ihre Führungsaufgabe nicht mehr ausüben. Der Reformflügel agiere mit einem offenen und einem illegalen Zentrum, das auch Kontakte zu westlichen Geheimdiensten unterhalte. Das offene Zentrum bestand für ihn aus den Reformern Ota Sik, Eduard Goldstücker, Jirí Pelikán, dem Direktor des tschechoslowakischen Fernsehens, und dem Schriftsteller Pavel Kohout. Für die SED hing die weitere Entwicklung der KPC an Kaderfragen. Das Schlüsselwort "Demokratisierung" war für die SED das Synonym für einen konterrevolutionären Umschwung, den es im Interesse der DDR und des sozialistischen Lagers zu verhindern galt. Die Reformen mussten beendet werden, um das Machtmonopol der KPC zu restaurieren, denn in Prag war die Konterrevolution ausgebrochen.

Die erste Phase endete am 23. März in Dresden mit der ersten von mehreren Konferenzen der "Bruderparteien". Zivkov weilte in der Türkei, hatte aber zuvor Breschnew und Ministerpräsident Alexej Kossygin versichert, Bulgarien sei bereit, falls notwendig, seine Armee einzusetzen. Kaum ausgesprochen, tauchte am Vorabend von Dresden in der vorbereitenden Sitzung des Politbüros in Moskau bereits der Gedanke auf, man solle auch "auf der militärischen Linie nachdenken". Politbüro-Hardliner Kyrill Masurow sprach es offen an: "Wir haben uns auf die äußerste Maßnahme vorzubereiten." Die Führung der KPC fand sich in Dresden vor einem Tribunal wieder. Breschnew stellte gleich zu Konferenzbeginn klar, die Fragen seien viel zu ernst, um sie zu protokollieren. Dennoch ließ die SED sie aufzeichnen. Das Protokoll ist die einzige Primärquelle über das Treffen, bei dem die Konfrontation gegen den Kurs der Prager Reformer begann. Dubcek musste die Politik seiner Partei erläutern und sich dann von Breschnew nicht nur fragen lassen, was er unter "Liberalisierung der Gesellschaft" verstehe, sondern sich auch den Vorwurf anhören, dass in der CSSR die Gefahr einer Konterrevolution bestehe. Er forderte von Dubcek, das Machtmonopol der KPC wiederherzustellen: "Wir sind bereit, Ihnen moralische, politische und demokratische Hilfe zu geben." Drohend fügte er hinzu: "Wenn das aber nicht möglich ist oder wenn Sie das als falsch betrachten, dann können wir trotzdem gegenüber der Entwicklung in der Tschechoslowakei nicht teilnahmslos bleiben."

Das politische Ziel war formuliert: Die KPC sollte ihr Machtmonopol behaupten und die "Konterrevolution" aus eigener Kraft niederschlagen. Über das Dresdener Treffen wurde Stillschweigen vereinbart, an das sich vor allem Dubcek hielt; er ließ seine eigene Parteiführung im Unklaren über die sowjetischen Forderungen.

Die zweite Phase war bestimmt von der Suche nach einem Weg zur Durchsetzung der Dresdener Forderungen. Das "Aktionsprogramm" und die geänderte Zusammensetzung der Parteiführung zu Gunsten der Reformer war ein erster, wichtiger Schritt zum Übergang vom Sozialismus sowjetischen Typs zu einem demokratischen Sozialismus. Diese Konzeption war nur zu realisieren durch die Demokratisierung der KPC und eine Reaktivierung der legislativen und exekutiven Gewalten des Staates. Der Inhalt des "Aktionsprogramms" war dem Kreml seit Mitte März bekannt und von NovotnÝ nahe stehenden Kreisen dem KGB übermittelt worden. War es zunächst in Moskau nur intern diskutiert worden, so kritisierte es Breschnew im Plenum des ZK der KPdSU am 6. April erstmals deutlich als "revisionistisch". Dieses Signal verstanden einige "Bruderparteien" sofort, allen voran die SED.

In Moskau wurde das "Aktionsprogramm" zur wichtigsten Triebfeder, die den "Falken" wie dem Chefideologen Michail Suslow Auftrieb gab, zum Angriff überzugehen. Für Verteidigungsminister Marschall Andrej Gretschko war klar: "Wir sind jederzeit bereit, auf Beschluss der Partei gemeinsam mit den Armeen der Länder des Warschauer Paktes dem tschechoslowakischen Volk zu Hilfe zu kommen, sollten die Imperialisten und Konterrevolutionäre versuchen, die sozialistische Tschechoslowakei den sozialistischen Ländern zu entreißen." Die Tschechoslowakei war den Militärs wichtig: sicherheits- und rüstungspolitisch, was besonders der KGB unter dem Hardliner Juri Andropow so sah.

Zu den wichtigsten Triebkräften, das tschechoslowakische "Problem" gewaltsam zu "lösen", wurden Ulbricht und Gomulka; ihnen folgte Zivkov. Janos Kádár in Ungarn zögerte. Für Ulbricht ging es um den eigenen Machterhalt. Der polnische Parteichef Gomulka unterstützte die Idee einer "bewaffneten Intervention" und verlautbarte, dass er keinen anderen Ausweg sehe, "als die Truppen des Warschauer Paktes, auch die polnische Armee, auf das Gebiet der Tschechoslowakei einmarschieren zu lassen". Auch die bulgarischen Genossen äußerten sich unmittelbar nach Dresden "entschieden für die Ergreifung aller Maßnahmen, auch militärischer, wenn es notwendig ist". Zivkov erklärte: "Es agieren dort westliche Kontaktstellen. In der Tschechoslowakei wie auch in Polen spielt der Zionismus eine große Rolle (...). Es ist dies alles auch das Wirken der jugoslawischen Führung, die über Rumänien, Polen und die Tschechoslowakei versucht, in unsere Familie hineinzuwirken. Es ist nicht notwendig, stalinistische Methoden der Vergangenheit anzuwenden, doch müssen wir (...) Methoden wählen, mit denen wir in der Tschechoslowakei, in Rumänien und danach auch in Jugoslawien Ordnung schaffen können."

Ende April kam Zivkov zum Staatsbesuch nach Prag, wo er zum ersten Mal persönlich mit Dubcek zusammentraf. Als dieser seine Reformen verteidigte, war für Zivkov klar: Dubcek ist ein Revisionist, in der CSSR gibt es eine Konterrevolution und eine Restauration des Kapitalismus. Ebenso wie die SED hatten die Bulgaren an der Spitze der KPC zwei revisionistische Zentren ausgemacht und betont, der konterrevolutionäre Prozess in Prag gehe weiter. Ulbricht stimmte diesem Befund zu und forderte ein zweites Treffen. Zu diesem kam es am 8. Mai in Moskau, wenige Tage, nachdem die KPdSU bilateral mit der KPC verhandelt hatte. Bei den Moskauer Beratungen (ohne die KPC) gerieten die Sowjetführer in eine für sie wohl eigenartig prekäre Situation. Einerseits forderten die "Bruderparteien" äußerste Maßnahmen, andererseits war man sich im Kreml darüber im Klaren, dass solche nur den letzten Ausweg darstellen konnten. Daher sollte die KPC-Führung zunächst noch nicht im Gesamten attackiert werden, in der Hoffnung, die "gesunden Kräfte" würden an Einfluss gewinnen. Das wichtigste Ergebnis lag in der Zustimmung der Prager Führung zur Durchführung von Manövern der Truppen des Warschauer Paktes in der Tschechoslowakei, möglichst nahe der westdeutschen Grenze.

Von Mai an stand die "tschechoslowakische Frage" laufend auf der Tagesordnung der ZK-Gremien in Moskau. Dennoch war der Tonfall in den Besprechungen relativ moderat, weil man "Dubcek dazu bewegen (wollte), freiwillig im Land Ordnung zu schaffen". Parallelen zu Ungarn 1956 zog vor allem KGB-Chef Andropow, ehemals sowjetischer Botschafter in Budapest: "In Ungarn fing es auch so an." Zu den "Falken" im Politbüro und im ZK zählte neben Andropow, Masurow, Suslow und Gretschko auch der ukrainische KP-Chef Petro Selest, der ein Überschwappen des Reformprozesses auf die Ukraine und damit auf das Sowjetimperium befürchtete. Im Kreml wurden die freien Medien in der Tschechoslowakei im Mai und Juni 1968 zum größten Reizfaktor und waren mitentscheidend für den Entschluss zum militärischen Eingreifen. Das Manifest der "2000 Worte" brachte das Fass zum Überlaufen.

Es ist ein Zeugnis einer Emanzipation der Öffentlichkeit und wurde von Intellektuellen verschiedener Couleur unterzeichnet. Das Dokument entstand auf Anregung einiger Mitarbeiter der Tschechoslowakischen Akademie der Wissenschaften (u.a. Otto Wichterle, Jan Brod, Otakar Poupa und Miroslav Holub. Verfasst wurde es im Juni 1968 von dem bekannten Schriftsteller Ludvík Vaculík. Das Manifest erschien am 27. Juni 1968 in der kulturpolitischen Zeitschrift Literární listy und in den Tageszeitungen Lidové noviny, Práce, Mladá fronta und Zemědělské noviny.

Er beleuchtete nicht nur die Rolle der Kommunistischen Partei im Prozess des „Prager Frühlings“ sehr kritisch und forderte eine unbedingte Weiterführung der Reformpolitik, gegen die reaktionären Kräfte im In- und Ausland, sondern übte auch allgemein heftige Kritik an den „Irrtümern des Sozialismus“. Die Führung der Kommunistischen Partei lehnte das Dokument als eine Misstrauenserklärung gegenüber ihrer Politik ab. Die Bevölkerung, insbesondere auch die bis dahin eher passive Arbeiterschaft, begrüßte das Manifest hingegen Generell führten die „2000 Worte“ zu einer weiteren Radikalisierung sowohl der konservativen als auch der reformorientierten Kräfte, während die Regierung Dubček sich gezwungen sah, zwischen beiden Seiten zu lavieren.

Die konservativen Kräfte im Kreml gewannen aufgeschreckt durch das Manifest zusehends an Stärke. Unterstützt wurden sie von Hardlinern in einigen "Bruderparteien", etwa Ulbricht oder Gomulka. Für die SED waren die "2000 Worte" "ein Aufruf zur Konterrevolution."

Das Manifest löste im ZK der KPdSU eine breite Stimmung für eine militärische Lösung aus. Die politische Weichenstellung dafür erfolgte am 15. Juli 1968 beim Treffen der Fünf in Warschau. Die KPC hatte die Teilnahme, wohl wissend, was sie dort erwarten würde, verweigert. Die fünf Parteien sandten einen gemeinsamen Brief an die KPC, in dem sie ultimativ eine Kurskorrektur forderten ("Warschauer Brief"). Der Führung unter Dubcek trauten sie nicht mehr länger die dafür nötige Kraft zu.

Der bulgarische Parteichef Zivkov forderte als Voraussetzung für den Sieg über die "Konterrevolution" die Besetzung der CSSR durch Truppen des Warschauer Paktes. Dem widersprach in Warschau kein anderer Parteiführer. Im Gegenteil: Gomulka, Zivkov und Ulbricht forderten vehement eine militärische Intervention. Ulbricht griff in Warschau Kádár scharf an und erklärte: "Der nächste Schlag wird gegen euch, gegen die Ungarische Volksrepublik, geführt werden."

Breschnew, der nicht zuletzt aufgrund des Umstandes, dass Dubcek "sein Mann" in Prag war, für dessen Wahl er letztendlich auch eine gewisse persönliche Verantwortung spürte, war der einzige, der in Warschau noch eine gemäßigte Linie vertrat. Auf dem danach eilig einberufenen ZK-Plenum in Moskau spielte er nochmals auf Zeit und appellierte dafür, "gemeinsam mit den Bruderparteien alle politischen Mittel auszuschöpfen, um der KPC und dem tschechoslowakischen Volk zu helfen, die sozialistischen Errungenschaften zu bewahren und zu verteidigen", bevor die "äußersten Maßnahmen" getroffen würden.

Dennoch liefen parallel dazu die Vorbereitungen für den Einmarsch. Das Politbüro beauftragte offiziell am 22. Juli, wenige Tage nach dem Warschauer Treffen, Verteidigungsminister Gretschko damit, "Maßnahmen für die Zeit nach dem Einmarsch zu ergreifen". Noch einmal sollte mit Dubcek eine "politische Lösung" gesucht werden, und zwar auf Basis der Dresdener Forderungen. Ende Juli kam es zu bilateralen Verhandlungen im slowakischen Cierná nad Tisou (Schwarzau a. d. Theiß), die wider Erwarten aus Sicht des Kreml einigermaßen Erfolg versprechend endeten. Dubcek hatte eine letzte "Chance" erhalten, zumindest aber Zeit gewonnen. Doch am 3. August trafen in Bratislava die "Warschauer Fünf" mit der KPC zusammen und veröffentlichten eine gemeinsame Erklärung, die einer Legitimation des ins Auge gefassten "bürokratischen Putsches" gleichkam. Während des Treffens übergab Vasil Bilak der sowjetischen Delegation den "Einladungsbrief der gesunden Kräfte" der KPC, in dem um eine "kollektive Hilfsaktion" gebeten wurde. Die Übergabe des Briefes soll auf einer Toilette stattgefunden haben.

Der angebliche Bruch der Erklärung von Bratislava durch Dubcek wurde von den Sowjets dazu benutzt, um den Einmarsch zu rechtfertigen. Am 13. August ließ Breschnew Dubcek in einem sehr emotionalen Telefonat fallen. Er warf ihm den Bruch der Absprachen von Cierná und Bratislava vor: Reformer wie Pelikán, Radiochef Zdenek Hejzlar oder Geheimdienstchef Ivan Svitak seien nicht ausgetauscht worden; er habe die "Konterrevolution" im Land und in den Medien nicht in den Griff bekommen und die Tschechoslowakei nicht auf einen moskautreuen Kurs zurückgeführt. Dubcek reagierte fast apathisch, war gereizt und flüchtete sich in Ausreden.

Als Zeichen der Solidarität mit den Reformern stattete der jugoslawische Staatschef Tito vom 9. bis 11. August der CSSR einen Besuch ab. Er lobte den Reformkurs und wurde von der Bevölkerung begeistert empfangen. In der Presse gab es Gerüchte über eine engere Zusammenarbeit der Donaustaaten Tschechoslowakei, Jugoslawien und Rumänien. Am 16. August kam Rumäniens Staatschef Nicolae Ceaucescu nach Prag, um einen Freundschafts- und Bündnisvertrag abzuschließen. Ein Blitzbesuch von UNO-Generalsekretär U Thant zum bereits festgelegten Datum des Einmarsches wurde von den Sowjets in letzter Minute verhindert, dafür traf sich Dubcek auf sowjetischen Vorschlag noch am 17. August abends mit Kádár in Komárno.

Die Entscheidung zur Intervention fiel in Moskau. Das vollzählig versammelte Politbüro des ZK der KPdSU entschied am 17. August einstimmig, den Einmarsch "zum ehest möglichen Zeitpunkt" durchzuführen. Am folgenden Tag trafen Zivkov, Kádár, Ulbricht und Gomulka in Moskau ein und stimmten der Entscheidung zu. Gleichzeitig wurden die USA, die schon vorher beruhigende Signale nach Moskau gesandt hatten, darüber informiert, dass der laufende Truppenaufmarsch nicht gegen die NATO gerichtet sei. In der Nacht vom 20. auf den 21. August 1968 begann die "Operation Donau". Das um Mitternacht noch versammelte ZK der KPC, beschäftigt mit dem für September geplanten außerordentlichen Parteitag, verurteilte den Einmarsch, wies jedoch die Armee an, den Truppen der Sowjetunion, Bulgariens, Polens und Ungarns keinen Widerstand entgegenzusetzen. Die bereitstehenden beiden Divisionen der DDR-Volksarmee wurden im letzten Moment gestoppt: Man wollte jede Erinnerung an den Einmarsch der deutschen Wehrmacht 1938/39 vermeiden. Lediglich kleinere Trupps gelangten kurzfristig auf tschechoslowakisches Gebiet, teilweise um Transparente zu entfernen: "1938 Hitler - 1968 Ulbricht".

Die wichtigsten Einrichtungen, die strategischen Punkte des Landes und die Redaktionen wurden besetzt, Untergrundsender zum Schweigen gebracht. Die Führung um Dubcek wurde verhaftet und im Flugzeug nach Moskau gebracht. Dennoch misslang der bürokratische Putsch. Svoboda weigerte sich, eine neue Marionettenregierung einzusetzen, flog nach Moskau und wurde dort als Staatsgast empfangen. Hier sprach er sich für die Absetzung Dubceks aus, wusste zu diesem Zeitpunkt allerdings nicht, dass Breschnew bereits mit Dubcek gesprochen hatte und dem Kreml-Chef inzwischen klar geworden war, dass an Dubcek kein Weg vorbeiführe, wollte man in der Tschechoslowakei keinen Bürgerkrieg riskieren und aus dem Parteichef einen Märtyrer machen.

Der Blutzoll des Einmarsches und der Widerstandsaktionen der Bevölkerung wird mit bis zu 500 Opfern auf beiden Seiten angegeben. Die tatsächlichen Folgen von Prag 1968 waren viel langfristiger. Abgesehen von der bald so bezeichneten "Breschnew-Doktrin", die fortan die Souveränität jedes kommunistischen Staates beschnitt, erfasste eine Welle des Protestes die Tschechoslowakei, die freie Welt und zahlreiche kommunistische Parteien in Westeuropa; sie schwappte - trotz größter Vorsichtsmaßnahmen - auch auf die Ostblockstaaten, ja bis auf den Roten Platz in Moskau über. Prag 1968 bedeutete den Anfang vom Ende des Ostblocks.

Am 23. August, zwei Tage nach Beginn der Intervention, wurde Präsident Ludvík Svoboda offiziell zu Verhandlungen nach Moskau gerufen, an denen auf seine Forderung hin – zunächst nur inoffiziell – auch die in Haft gehaltenen Regierungsmitglieder um Dubček teilnahmen.

Das Moskauer Protokoll, welches drei Tage später verabschiedet wurde, enthielt eine Aufhebung fast aller Reformprojekte. Mit diesem Ergebnis einer faktischen Kapitulation im Gepäck kehrte Dubček, der vorerst noch in seinen Ämtern belassen wurde, nach Prag zurück, wo er zunächst noch einmal begeistert empfangen wurde. Nach wenigen Wochen konnte jedoch die Bevölkerung der ČSSR nicht mehr daran zweifeln, dass der „Prager Frühling“ mit dem 23. August sein Ende gefunden hatte.

Als Folge der Besetzung der Tschechoslowakei durch die Truppen des Warschauer Pakts verließen zehntausende Menschen, in erster Linie Facharbeiter und Intellektuelle, das Land. Allein nach Österreich flüchteten rund 96.000 Menschen, weitere 66.000 Urlauber kehrten nicht aus Österreich in die Tschechoslowakei zurück. Im Zuge der von Husák umgehend ins Werk gesetzten Säuberungen innerhalb der Kommunistischen Partei wurde knapp einer halben Million Parteimitgliedern das Parteibuch entzogen.

Aus Protest gegen die Niederschlagung des Prager Frühlings verbrannte der Student Jan Palach am 16. Januar 1969 sich selbst auf dem Wenzelsplatz in Prag. Er starb am 19. Januar an den Folgen seiner Verletzungen. Seine Tat wurde einen Monat später durch Jan Zajíc am selben Platz wiederholt.

Einige Monate zuvor hatte sich am 8. September 1968 der Pole Ryszard Siwiec während einer öffentlichen Veranstaltung im Warschauer Stadion Dziesięciolecia und in Anwesenheit von hunderttausend Menschen – ebenfalls aus Protest gegen die Niederschlagung des Prager Frühlings – selbst verbrannt. Vier Tage später erlag er im Krankenhaus seinen Verbrennungen. Es ist kaum zu belegen oder zu widerlegen, dass sich Jan Palach ihn zum Vorbild genommen hat, da die Behörden des kommunistischen Polen einen dichten Mantel des Schweigens über das Vorkommnis legten. Zum ersten Mal wurde die Tat Siwiec' zwei Monate nach Palachs Tod in Radio Free Europe öffentlich gemacht. Auch ein Zusammenhang mit dem Saigoner Mönch Thích Quảng Đức, der sich im Jahr 1963 aus Protest gegen den südvietnamesischen Präsidenten Ngô Đình Diệm selbst verbrannte, entzieht sich einem Nachweis.

Noch am Nachmittag des Todestages von Palach strömten rund 200.000 Menschen auf dem Wenzelsplatz zusammen, um an der Stelle, an der Palach zu Boden gefallen war, Kränze niederzulegen. Unter der Führung von Palachs Kommilitonen begab sich die Menge quer durch die Prager Altstadt zur Philosophischen Fakultät der Karls-Universität, wo sie den Platz vor dem Hauptgebäude der Fakultät – der den Namen „Platz der Roten Armee” trug – durch das Auswechseln der Schilder in „Jan-Palach-Platz” umbenannte. Diese Maßnahme wurde von der Staatsführung umgehend rückgängig gemacht, so dass eine offizielle Umbenennung erst nach der Samtenen Revolution von 1989 erfolgte.

Alexander Dubček erlitt auf die Nachricht von Palachs Tod einen Nervenzusammenbruch. Die Sowjetunion zog es vor, diesen Vorfall nicht zu kommentieren, wenngleich die TASS von einer „antisozialistischen Provokation” sprach. Allerdings bemühte sich das Zentralkomitee der KPČ wenig später, die Tat Palachs herunterzuspielen, indem es eine offizielle Erklärung herausgab; bereits zuvor war versucht worden, Palachs Tat als die Handlung eines psychisch Kranken oder eines nicht aus freien Stücken handelnden Menschen hinzustellen. In der offiziellen Erklärung wurde behauptet, Palach habe sich eigentlich mit einer – aus Westdeutschland bezogenen – Mixtur überschütten wollen, die auch von Feuerschluckern verwendet wird („Kalte Flamme“) und keine ernsthaften Verbrennungen anrichten hätte können. Jedoch hätten seine Kommilitonen ohne sein Wissen die Mixtur durch Benzin ersetzt.

Nach einer Schweigeminute im ganzen Land am 24. Januar und nach feierlicher Aufbahrung in der Karlsuniversität zu den Füßen einer Statue von Jan Hus wurde Palachs Begräbnis zu einer Massendemonstration, an der sich über 10.000 Menschen beteiligten.

Jan Palach wurde zu einem Märtyrer für eine freie Tschechoslowakei und zu einer starken Symbolfigur.

Im Jahre 1969 nahm Jan Zajic an dem studentischen Protesthungerstreik und an der Totenfeier für Jan Palach am Wenzelsstandbild in Prag teil. Am 25. Februar 1969, dem Jahrestag der kommunistischen Machtübernahme von 1948, reiste er gemeinsam mit drei seiner Kommilitonen nach Prag ab. Er hatte vor, die tschechoslowakische Gesellschaft aus einer Lethargie infolge der fortschreitenden politischen „Normalisierung“ zu wecken. Zajíc führte einige Briefe mit einem Aufruf an die tschechoslowakische Bevölkerung mit sich.

Um 13:30 Uhr betrat Zajíc den Flur des Hauses Wenzelsplatz 39. Anschließend zündete er sich an, fiel hin und war auf der Stelle tot. Da die Behörden es nicht genehmigten, ihn gemäß seinem Wunsch in Prag zu bestatten, wurde er am 2. März 1969 unter Beteiligung tausender Trauergäste in seinem Geburtsort Vítkov begraben.

Nach der Zerschlagung der Reformbewegung musste Dubček am 17. April 1969 als Parteichef der KPČ zurücktreten und übernahm bis September 1969 den Vorsitz in der Nationalversammlung, dem Parlament der ČSSR. Darauf war er für kurze Zeit Botschafter in der Türkei. Im Juni 1970 wurde er aus der Partei ausgeschlossen und musste fortan seinen Lebensunterhalt als Beschaffungsinspektor der Forstverwaltung von Bratislava verdienen.

Gustav Husak war Dubceks Nachfolger. Bis 1968 arbeitete er am Institut für Staat und Recht der Akademie der Wissenschaften, 1968 beteiligte er sich aktiv am Prager Frühling, wurde im April 1968 stellvertretender Regierungschef und Ende August 1968 Erster Sekretär des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei der Slowakei. Nach der Absetzung von Alexander Dubček wurde er auf Druck der Sowjetunion im April 1969 zum Ersten Sekretär des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei der Tschechoslowakei gewählt und beseitigte nach und nach die Reformergebnisse des Prager Frühlings.

1975 übernahm er von Ludvík Svoboda das Amt des Staatspräsidenten, als Generalsekretär der Kommunistischen Partei wurde er 1987 von Milouš Jakeš abgelöst.

1989 schloss  sich Dubcek der antikommunistischen Opposition an und wurde gemeinsam mit dem Tschechen Václav Havel eine der Hauptfiguren der Samtenen Revolution, in deren Folge Dubček zum Vorsitzenden des föderalen tschechoslowakischen Parlamentes (1989–1991) gewählt wurde. Im Jahr 1992 wurde er zum Vorsitzenden der Sozialdemokratischen Partei der Slowakei gewählt. Dubček starb am 7. November 1992 an den Folgen eines Autounfalls, zuvor wurde er als aussichtsreicher Kandidat für den Posten des künftigen slowakischen Staatspräsidenten gehandelt.

Am 13. November 1988 erhielt Dubček im Rahmen ihrer 900-Jahres-Feier die Ehrendoktorwürde für politische Wissenschaften der Universität Bologna. Sie wurde ihm verliehen, weil er sich über viele Jahre hinweg für die Menschenrechte in Ländern eingesetzt habe, in denen „schwere Verletzungen der demokratischen Prinzipien üblich“ seien. Die Ehrung erfolgte auch auf Drängen des Generalsekretärs der Kommunistischen Partei Italiens, Alessandro Natta. In seiner Dankesrede verzichtete Dubček auf scharfe Kritik an der Politik in der ČSSR; sein Redetext war jedoch bereits einen Tag zuvor von der Presse in voller Länge veröffentlicht worden. Nachdem Dubček von den Prager Behörden erst in letzter Minute die Ausreise nach Italien genehmigt worden war, fürchtete er, Schwierigkeiten bei seiner Rückkehr zu bekommen, wenn er sich im Westen zu offen zur politischen Situation in seiner Heimat äußere. In seiner Rede ging Dubček dann aber doch auf die Ereignisse von 1968 ein: Die Prager Reformbewegung wäre ohne das gewaltsame Eingreifen der Sowjetunion sicherlich erfolgreich gewesen, ihre Ziele ähnelten denen der Reformpolitik Michail Gorbatschows. Noch immer jedoch würden Menschen, die so dächten wie er, in der ČSSR verfolgt.

 

Der Prager Frühling wird in den Nachfolgestaaten der früheren Tschechoslowakei nicht gleichermaßen positiv gesehen wie im Westen. Vielfach sind Stimmen zu vernehmen, dass es sich lediglich um einen Konflikt zweier Flügel der Kommunistischen Partei – aber eben doch lediglich der einem Unrechtsstaat vorstehenden Kommunistischen Partei – gehandelt habe, was bis hin zu dem Ausspruch des Vorsitzenden des ersten frei gewählten Parlaments der ČSSR nach 1989 reicht, dass er sich Dubček auch als Aufseher in einem Straflager vorstellen könne – wenngleich auch eines menschlicheren.

Vielfach wird Dubček und seinen Mitstreitern auch vorgeworfen, durch ihre unvorsichtige Politik lediglich erreicht zu haben, dass die Uhren in der ČSSR zurückgestellt wurden und der Staat der Tschechen und Slowaken bis ins Jahr 1989 einer der repressivsten des damaligen Ostblocks blieb. Das Verdienst der Anführer des Prager Frühlings wird im Vergleich zur in anderen europäischen Staaten vorherrschenden Sichtweise oft lediglich darin gesehen, dass er die Unmöglichkeit eines Sozialismus mit menschlichem Antlitz vor aller Augen geführt habe.

Die Charta 77 bezeichnet sowohl eine im Januar 1977 veröffentlichte Petition gegen die Menschenrechtsverletzungen des kommunistischen Regimes in der Tschechoslowakei als auch die mit ihr verbundene Bürgerrechtsbewegung, die in den 1970er und 1980er Jahren zum Zentrum der Opposition wurde.

1976 schlossen sich Künstler und Intellektuelle, aber auch Arbeiter, Priester, Exkommunisten und ehemalige Mitarbeiter des Geheimdienstes – unter ihnen etwa der Dramatiker Václav Havel, Jiří Hájek und Jiří Dienstbier (Politiker des Prager Frühlings) – und andere, gewöhnliche Tschechoslowaken zusammen, um auf Menschenrechtsverletzungen aufmerksam zu machen, die im Widerspruch zu der vom tschechoslowakischen Außenminister unterschriebenen Schlussakte von Helsinki standen.

Unmittelbarer Auslöser waren die Repressionen des Regimes gegenüber der Band Plastic People of the Universe. Die direkt nach der Invasion des Warschauer Paktes gegründete Band hatte seit 1968 mehrere Festivals mit alternativer Musik veranstaltet. Die Gruppe war ein wichtiger Anziehungspunkt für eine staatsunabhängige Kulturszene und hatte insbesondere bei jüngeren Menschen Erfolg. Bei einem Konzert im Februar 1976 wurden die Mitglieder der Gruppe inhaftiert und viele der Konzertbesucher ausgiebig verhört. Die Aktion sorgte für nationale und internationale Proteste. Václav Havel selbst sah die Repressionen gegen die Plastic People als Angriff des totalitären Systems auf das Leben selbst, auf die menschliche Freiheit und Integrität. Für Havel galt es, einen Präzedenzfall zu verhindern.

Am 1. Januar 1977 wurde die Charta 77 mit 242 Unterschriften veröffentlicht und am 7. Januar 1977 in führenden europäischen Zeitungen wie The Times, Le Monde oder der Frankfurter Allgemeinen Zeitung abgedruckt. In den tschechoslowakischen Massenmedien wurde der Text nicht veröffentlicht. Im Januar und Februar 1977 setzte eine intensive staatliche Kampagne gegen die Charta ein; ihre Existenz war innerhalb weniger Tage im ganzen Land bekannt.

Am 1. Februar 1977 wurde ein Verzeichnis weiterer 208 Unterzeichner veröffentlicht. Bis zum Sommer 1977 erhöhte sich die Zahl der Unterschriften auf 600. Bis Ende 1977 hatte die Charta 800 Unterzeichner, bis 1985 etwa 1200 und bis 1989 schließlich 2000. Hauptsächliche Verfasser der Erklärung und erste Sprecher der Bewegung waren Václav Havel, der Philosoph Jan Patočka und der ehemalige Außenminister Jiří Hájek. Bereits im Januar 1977 gründete sich ein internationaler Ausschuss zur Unterstützung der Charta 77, dem unter anderem Heinrich Böll, Friedrich Dürrenmatt, Graham Greene und Arthur Miller angehörten.

Inhaltlich stellt die Charta die Rechte, die in der KSZE-Erklärung und teilweise auch in tschechoslowakischen Gesetzen gewährt wurden, der Realität gegenüber. Sie bezeichnet das Recht auf freie Meinungsäußerung als illusorisch, Hunderttausenden von Bürgern wird die „Freiheit von Furcht“ (Präambel des Ersten Paktes) verweigert“, das Recht auf Bildung wird verweigert, da hunderttausende von Jugendlichen wegen ihrer Ansichten oder der Ansichten ihrer Eltern nicht zum Studium zugelassen werden, die Bekenntnisfreiheit wird von „machthaberischer Willkür systematisch eingeschränkt“, insgesamt ist „das Instrument der Einschränkung und häufig auch der völligen Unterdrückung einer Reihe von bürgerlichen Rechten (…) ein System faktischer Unterordnung sämtlicher Institutionen und Organisationen im Staat unter die politischen Direktiven des Apparats der regierenden Partei und unter die Beschlüsse machthaberisch einflussreicher Einzelpersonen“. Soweit Forderungen erhoben werden, beziehen sich diese einzig darauf, dass die tschechoslowakische Regierung die von ihr unterzeichneten Verträge, insbesondere die Schlussakte von Helsinki, einhält.

Zu der recht heterogenen Gruppe gehörten Mitglieder der kommunistischen Partei ebenso wie ihr fernstehende Personen, Atheisten, Christen und Mitglieder anderer Glaubensgemeinschaften. Weitere bekannte Mitglieder waren der Soziologe Rudolf Battěk oder der Philosoph und Mathematiker Václav Benda.

Ziel der Bewegung, die von drei jährlich gewählten Sprechern nach außen repräsentiert wurde, war der Dialog mit Vertretern von Politik und Staat. Sie äußerte sich zu verschiedenen gesellschaftlichen Problemen (Diskriminierung im Beruf, Reisefreiheit, Umweltfragen, Rechte der Gläubigen etc.) und forderte mehrmals Amnestie für politische Gefangene. Sie machte auf Menschenrechtsverletzungen aufmerksam, dokumentierte sie und bot Lösungsvorschläge an. Eines der wichtigen Anliegen war ferner die Vervielfältigung verbotener Bücher oder Texte (Samisdat): z. B. Übersetzungen von Autoren wie Orwell, Koestler, Werke sämtlicher emigrierter oder totgeschwiegener tschechischer und slowakischer Schriftsteller und weiterer Personen.

Zu den weiteren Unterzeichnern gehörten unter anderem: Petr Pithart (Präsident des tschechischen Senats), Václav Malý (Weihbischof in Prag), die Soziologin Jiřina Šiklová und der Autor Josef Hiršal, Zdeněk Mlynář, Sekretär des ZK der KSČ von 1968, Ludvík Vaculík, Autor des Manifestes der 2000 Worte und der Philosoph Milan Machovec die eine wichtige Rolle beim Prager Frühling spielten.

Inhaltlich wollten die Chartisten besonders auf individuelle Menschenrechtsverletzungen aufmerksam machen, generelle Mechanismen anregen, um die Rechte von Individuen dauerhaft zu schützen und als Vermittler in konkreten Konflikten auftreten. Später übernahm diese Aufgabe das 1988 gegründete Tschechoslowakische Helsinki-Komitee.

Die Charta stieß sowohl auf eine positive Resonanz in Westeuropa (wo viele ihrer Dokumente veröffentlicht wurden) als auch bei Dissidenten in Polen, Ungarn und der DDR.

1978 begann eine unabhängige Gruppe von Unterzeichnern mit der Herausgabe der Zeitschrift Informationen über die Charta 77. Bis 1989 veröffentlichte die Charta 77 insgesamt 572 Dokumente über Menschenrechtsverstöße, über die Situation der Kirchen in der ČSSR, über Themen wie Frieden, Umweltschutz, Philosophie und Geschichtsschreibung. Auch zum in der Tschechoslowakei oftmals komplizierten Verhältnis zu Deutschland gab die Charta Erklärungen ab.

Ab Mitte der 1980er Jahre brechen vor allem Jüngere Aktivisten mit den bis dahin verfolgten Mitteln der unpolitischen Politik und dem von Comenius übernommenen Leitsatz „Omnia sponte fluant, absit violentia rebus (Alles fließe von selbst, die Gewalt sei den Dingen ferne)“. Sie suchen, unter anderem ermutigt durch Glasnost und Perestroika, auch die physische Konfrontation mit dem tschechoslowakischen Staat.

Die Charta leistete bis 1989 eine überragende Rolle darin, den Westen, aber auch die Tschechoslowaken selbst über die tatsächlichen Situation im Land zu informieren und einen Raum für freie Diskussionen zu schaffen. Ihrem Einsatz und ihrer Reputation ist es auch zu verdanken, dass die Samtene Revolution 1989 friedlich verlief, viele ihrer Protagonisten erreichten danach hohe politische Ebenen im Staat.

Obwohl die Charta sich selbst nicht als Opposition definierte und zum Dialog aufforderte, reagierte der Tschechoslowakische Staat mit Härte und Repression. Die erste Reaktion des Staates erfolgte am 12. Januar 1977 in der Zeitung Rudé právo. Unter der Überschrift Schiffbrüchige und Selbsterwählte wurden die Unterzeichner als „verkrachte Existenzen der tschechoslowakischen reaktionären Bourgeoisie sowie aus denen der Organisatoren der Konterrevolution von 1968 bezeichnet, die auf Bestellung antikommunistischer und zionistischer Zentralen gewissen westlichen Agenturen handelten. Das Dokument selbst sei eine antistaatliche, antisozialistische, gegen das Volk gerichtete, demagogische Hetzschrift, die in grober und verlogener Weise die Tschechoslowakische sozialistische Republik und die revolutionären Errungenschaften des Volkes verleumdet.“ Im Januar und Februar folgte eine intensive Kampagne in sämtlichen Medien, in denen sich zahlreiche regime-konforme Künstler und Intellektuelle vehement von der Charta distanzierten.

Unterzeichner wurden wiederholt verhaftet, verhört, offensichtlich observiert, bekamen Berufsverbot oder wurden von der Gesellschaft isoliert. Václav Havel verbrachte einige Monate in Untersuchungshaft. Einer der drei ersten Sprecher, Jan Patočka, brach am 13. März 1977 nach stundenlangen Verhören der Polizei zusammen und verstarb. Auf seiner Beerdigung wurde jeder Trauergast fotografiert und gefilmt, während permanent ein Hubschrauber über dem Friedhof kreiste. Im Oktober 1977 schließlich kam es zum ersten offiziellen Prozess. Den Angeklagten wurde vorgeworfen, in der Tschechoslowakei verbotene Schriften ins Ausland geschmuggelt zu haben. Die höchste Strafe betrug 3 1/2 Jahre Haft.

Einige Hundert der Unterzeichner der Charta wurden ausgebürgert. Dem Schriftsteller Pavel Kohout wurde 1979 nach einer Reise die Wiedereinreise in die Tschechoslowakei verweigert und die Staatsbürgerschaft aberkannt. Andere haben aus Angst vor Repression ihre Heimat verlassen. Insgesamt sind etwa 300 Unterzeichner ausgewandert, vor allem nach Österreich, wo ihnen damals umstandslos politisches Asyl gewährt wurde. Von dort sind die meisten von ihnen weiter in die USA, nach Kanada und Australien emigriert.

1977 initiierte die Kommunistische Partei eine Gegenaktion, die so genannte Anticharta, der sich schnell etwas mehr als 2000 Künstler, v. a. Schauspieler usw. anschlossen. Am 28. Januar 1977 wurde die erstmalige Unterzeichnung der Anticharta durch viele prominente Künstler live im Fernsehen übertragen. Es gibt heute nahezu keinen tschechischen Schauspieler aus dieser Zeit, der nicht dort unterschrieben hat. Schauspieler hingegen, die die Charta nicht unterschrieben, waren jahrelang mit Berufsverbot belegt.

Der Prager Frühling war der Vorlauf für die Samtene Revolution 1989. In Prag waren im Oktober 1989 bis zu 3500 DDR-Bürger auf das Gelände der deutschen Botschaft gelangt; insgesamt 17.000 Menschen durften nach Verhandlungen in den Westen ausreisen. Am 9. November 1989 konnten Tschechen und Slowaken den Fall der Berliner Mauer mitverfolgen. In Polen amtierte damals schon eine Regierung mit dem Nichtkommunisten Tadeusz Mazowiecki an der Spitze, nachdem am 4. Juni 1989 die erste halbwegs freie Parlamentswahl im Ostblock stattgefunden hatte. Am 12. November 1989 wurde in Bulgarien der seit 1954 amtierende KP-Chef Todor Schiwkow gestürzt.

In den Jahren 1988 und 1989 fanden die ersten antikommunistische Demonstration in der Tschechoslowakei statt. Dazu zählen die Kerzendemonstration in Bratislava am 25. März 1988 und eine Serie von Demonstrationen von 15. bis 20. Januar zum 20. Todestag Jan Palachs. Diese friedlichen Kundgebungen wurden von der Polizei brutal niedergeschlagen und führende Oppositionelle, darunter Václav Havel, inhaftiert. Vom 10. bis zum 14. November 1989 fanden Demonstrationen in Teplice statt. Am 12. November, wenige Tage vor Ausbruch der Revolution, wurde Agnes von Böhmen von Papst Johannes Paul II. heiliggesprochen. Dieses Ereignis wurde vom Tschechoslowakischen Fernsehen übertragen.

Am 16. November 1989 fand in Bratislava eine Studentendemonstration statt. Die Polizei griff hier nicht ein und die Demonstranten konnten ungehindert durch die Stadt ziehen. Am Tag darauf, den 17. November fand in Prag anlässlich des 50. Jahrestags der Schließung tschechischer Hochschulen 1939 und des Internationalen Tag der Studenten eine genehmigte Studentendemonstration statt, an der laut Staatssicherheit 15.000 Menschen teilnahmen. Im Unterschied zu Bratislava begann die Polizei im Verlauf des Abends die Kundgebungen zu zerschlagen und etwa 600 Personen wurden von den Sicherheitskräften verletzt. Am nächsten Tag riefen die Prager Studenten zu einem zeitlich unbegrenzten Studentenstreik auf; die Schauspieler der Prager Bühnen schlossen sich an. Diese Aktionen werden allgemein als Anfang der Revolution gesehen.

Am 18. November verbreiteten sich die Nachrichten vom brutalen Vorgehen der Sicherheitskräfte gegen die Studenten, was weite Teile der Bevölkerung mobilisierte, an den Gegendemonstrationen teilzunehmen. Sie forderten eine Untersuchung der Vorgänge und die Bestrafung der Verantwortlichen. Am 19. November 1989 wurde als Sprachrohr der Streikenden in Tschechien das Bürgerforum (OF) und in der Slowakei die Öffentlichkeit gegen Gewalt gegründet, um den Dialog mit den kommunistischen Machthabern zu suchen.

Ab 20. November griffen die Demonstrationen sukzessive auf das ganze Land über. Jeden Tag wurden nun in zahlreichen Städten Demonstrationen abgehalten. Der Großteil der Prager Hochschulen streikte. Das Bürgerforum traf sich zu Verhandlungen mit der Regierung. Am 21. November verkündete Generalsekretär Miloš Jakeš im Fernsehen dass die Regierung an ihrer kompromisslosen sozialistischen Linie festhalten werde. Einheiten der Volksmiliz wurden nach Prag gezogen. Der Prager Erzbischof Kardinal František Tomášek rief zur Unterstützung der Revolution auf. Am 22. November traten zwei Symbolfiguren des Prager Frühlings, Alexander Dubček und Marta Kubišová nach 20 Jahren wieder an die Öffentlichkeit. In Prag, Bratislava und Brünn waren täglich tausende Menschen auf der Straße.

Am 24. November sprachen Václav Havel und Alexander Dubček am Wenzelsplatz zu den Demonstranten und forderten den Rücktritt des Politbüros der Kommunistischen Partei der Tschechoslowakei. Miloš Jakeš. Generalsekretär Jakeš verkündete am gleichen Tag seinen Rücktritt und den Rücktritt des Politbüros. Am 25. November versuchte Staatpräsident Gustáv Husák die Lage zu beruhigen indem er politischen Häftlingen Amnestie erteilte. Die Zahl der Demonstranten wird in Prag auf 800.000 und in Bratislava auf 100.000 geschätzt. Zum Symbol des sanften Widerstands wurde der Schlüsselbund. Die Menschen wollten mit ihren über den Köpfen klingelnden Schlüsseln die Wende einläuten.

Am 27. November fand der angekündigte, landesweite zweistündige Generalstreik statt.

Am 28. November begannen Verhandlungen zwischen dem Bürgerforum und der Regierung. Die Bestimmung über die führende Rolle der Kommunistischen Partei in der Verfassung wurde am 29. November aufgehoben. Am 1. Dezember fand in Bratislava eine von Zehntausenden besuchte Feier anlässlich der Veränderungen statt. Ab 5. Dezember wurde der Stacheldraht an der Grenze zu Österreich entfernt, ab 11. Dezember wurden die Grenzbefestigungen zur Bundesrepublik Deutschland abgetragen.

Am 10. Dezember ernannte Präsident Husák die zum ersten Mal seit 1948 mehrheitlich nichtkommunistische Regierung des nationalen Einverständnisses unter Marián Čalfa, nachdem zwei Anfang Dezember von ihm bestellte Regierungen auf Widerstand der Bevölkerung gestoßen waren. Außenminister der neuen Regierung wurde der Bürgerrechtler Jiří Dienstbier, Finanzminister Václav Klaus. Nach Bestellung dieser Regierung reichte Husák am gleichen Tag seinen Rücktritt ein.

Am 28. Dezember wurde Alexander Dubček zum Parlamentsvorsitzenden gewählt, am 29. Dezember 1989 folgte die Wahl Václav Havels zum Staatspräsidenten durch die kommunistischen Abgeordneten. Im Januar 1990 traten zahlreiche kommunistische Abgeordnete zurück, zu deren Nachfolgern meist frühere Oppositionelle gewählt wurden, so dass die Kommunisten auch im Parlament keine Mehrheit mehr hatten. Am 29. März wurde die demokratische Tschechoslowakische Föderative Republik ausgerufen.

Die Wahl von Havel zum Staatspräsidenten hatte eine hohe Symbolkraft, denn er stand mit seiner politischen Laufbahn für die Fortsetzung der Ideen des Prager Frühlings.

Seit seinem 20. Lebensjahr schrieb Havel Artikel für Literatur- und Theaterzeitschriften. Seine in der Tradition des absurden Theaters stehenden Stücke und seine Artikel prägten und zeigen die Atmosphäre, die 1968 zum Prager Frühling führte.

Berühmte Theaterstücke Havels aus dieser Zeit sind Das Memorandum (1965) und die Erschwerte Möglichkeit der Konzentration (1968), 1967 auf dem IV. Schriftstellerkongress in Prag erregt Havel erstmals politisch Aufsehen, als er die Zensur und die Absurdität des Machtapparates der kommunistischen Partei öffentlich kritisierte.

Während des Prager Frühlings 1968 war er Vorsitzender des „Klubs unabhängiger Schriftsteller“ und entwickelte sich zum prominentesten und konsequentesten Wortführer der nichtkommunistischen Intellektuellen, die den von Alexander Dubček eingeleiteten Reformprozess unterstützten.

Während der sogenannten „Normalisierung“ nach der Niederschlagung des Prager Frühlings durch Truppen des Warschauer Pakts trat Havel immer wieder öffentlich gegen das Regime unter Präsident Gustáv Husák auf und war 1977 einer der drei Hauptinitiatoren der Charta 77, einer Bürgerrechtsbewegung, die Ende der 1970er und in den 1980er Jahren zum Zentrum der Opposition wurde.

In dieser Zeit wurde Havel dreimal verhaftet und verbrachte insgesamt etwa fünf Jahre im Gefängnis. Literarisches Zeugnis dieser Zeit sind die Briefe an Olga, seiner Frau Olga, geborene Šplíchalová, die er 1956 kennengelernt und 1964 geheiratet hatte und die bis zu ihrem Tod im Jahre 1996 seine Lebensgefährtin war. Havels Gefängnisstrafen wurden erst 1983 nach internationalen Protesten ausgesetzt, als Havel erkrankte und daraufhin in ein öffentliches Krankenhaus entlassen wurde.

Nach der Okkupation durch die Truppen des Warschauer Pakts im August 1968 widersetzte sich Havel der kommunistischen Gleichschaltung und erhielt in der Tschechoslowakei Aufführungs- und Publikationsverbot. Seine Werke wurden in dieser Zeit aber fast vollständig im Rowohlt-Verlag in Deutschland publiziert. Am 16. Januar 1989, dem 20. Jahrestag der Selbstverbrennung von Jan Palach am Wenzelsplatz in Prag wollte Havel an einer Gedenkveranstaltung teilnehmen, wurde verhaftet und am 21. Februar wegen „Rowdytums“ als Wiederholungstäter zu neun Monaten verschärfter Haft verurteilt. Als er dann den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels in Frankfurt am Main entgegennehmen wollte, durfte er nicht ausreisen. Der Schauspieler Maximilian Schell verlas seine vorbereitete Rede.

Havel war eine der tragenden Persönlichkeiten in der zunächst von Studenten und Künstlern getragenen Samtenen Revolution in der Tschechoslowakei. Vorher hatte er in den 1980er Jahren, als das politische Klima etwas liberaler wurde, die Petition „Einige Sätze“ (Několik vět) mitinitiiert. Nun wurde er zum führenden Vertreter des während der Revolution (am 19. November 1989) gegründeten Bürgerforums Občanské fórum (OF). Der Umbruch in der politischen Situation in der Tschechoslowakei war praktisch besiegelt, als Havel als Kandidat des Bürgerforums am 29. Dezember 1989 von den – bis dahin kommunistischen – Vertretern der Föderalversammlung zum Regierungspräsidenten gewählt wurde. In dieser Funktion führte er das Land am 5. Juli 1990 zu freien Wahlen. Das neue Parlament bestätigte ihn als Präsident.

Während seiner Amtsperiode als Staatsoberhaupt der Tschechischen und Slowakischen Föderativen Republik - so der neue Name des Staates - vermehrten sich jedoch Auseinandersetzungen und Kontroversen zwischen den Tschechen und den Slowaken. Havels Versuche, die Föderation zu erhalten, waren erfolglos.

Bei den nächsten Präsidentenwahlen am 3. Juli 1992 bekam Havel von den Abgeordneten keine ausreichende Stimmenzahl und trat zurück, obwohl er nach damaliger Verfassung das Regierungsamt noch drei Monate nach dem Ende seiner Amtszeit hätte ausüben können. Der Grund für die Abstimmungsniederlage war vor allem, dass er sich für eine Beibehaltung eines gemeinsamen Staates der Tschechen und Slowaken ausgesprochen hatte und nationale Sonderbestrebungen verurteilte. Bei der Abstimmung fehlten ihm daher Stimmen der slowakischen Abgeordneten.

Nach der friedlichen Trennung von Tschechien und der Slowakei zum 1. Januar 1993 wurde Havel am 26. Januar 1993 mit großer Mehrheit zum Präsidenten der Tschechischen Republik gewählt. Am 20. Januar 1998 wurde er in seinem Amt bestätigt; seine zweite Amtszeit endete am 2. Februar 2003. Laut Verfassung konnte er nicht nochmals für das höchste Amt im Staat kandidieren.

Václav Havel war ein überzeugter Europäer, der auf die europäische Integration setzte. Der im Dezember 2002 abgehaltene EU-Gipfel von Kopenhagen legte als Havels Verdienst den Grundstein zur Eingliederung Tschechiens in die Europäische Union.

Havel verstarb im Alter von 75 Jahren am 18. Dezember 2011 auf seinem Landsitz im nordböhmischen Ort Hrádeček bei Trutnov im Riesengebirge an den Folgen einer Atemwegserkrankung. Er wurde mit einem Staatsakt geehrt und die Urne mit seiner Asche in Prag auf dem Friedhof in Vinohrady beigesetzt.

Bestimmendes Grundthema in Havels dramatischem wie essayistischem Werk - als Ursache der Absurdität - war die Entfremdung des heutigen Menschen von der von ihm genannten Lebenswelt, einer Idealvorstellung der Menschen auf Erden. Diese werde dadurch hervorgerufen, dass in der aufgeklärten Fortschritts-Gesellschaft die Wissenschaft die Position der obersten Instanz, die zuvor dem unbekannten Höheren (Gott oder ähnlichen) vorbehalten war, eingenommen hat. Diese Entfremdung sah Havel als Ursache der Probleme der heutigen Menschheit mit der Umweltzerstörung, die durch eine von der Wissenschaft ermöglichte Technisierung der Ökonomie hervorgerufen wurde; aber auch in den ehemaligen Diktaturen des Kommunismus und deren Vorstellung einer wissenschaftlich zu organisierenden, gleichberechtigten Lebenserwerbs-Gesellschaft (wissenschaftlicher Sozialismus), eine Extremform der Entfremdung. Davon zeugt nach Meinung von Havel eine auf Lügen aufgebaute Gesellschaft, in denen Worte ihren Sinn verlieren, so etwa das im Ostblock inflationär gebrauchte Wort Frieden, das in diesem Regierungssystem eigentlich nur die Bewahrung des Status quo und somit die Aufrechterhaltung der Macht des Bündnisses bedeutete. In seinen Theaterstücken zeigte Havel die Absurdität dieser Situation. In seinen Essays ist durchgängig das Thema der Entfremdung in der von der Wissenschaft beherrschten Welt erkennbar. Beeinflusst wurde Havel in dieser Vorstellung dem eigenen Bekunden nach von dem tschechischen Philosophen Václav Bělohradský.

Havels literarisches und dramatisches Werk sowie sein lebenslanges Streben nach der Erhaltung der Menschenrechte wurde mit einer Reihe von literarischen Auszeichnungen, internationalen Preisen und Ehrendoktortiteln gewürdigt.

Am 15. Oktober 1989 erhielt Havel in Abwesenheit den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. Eine Teilnahme an der Feierstunde in der Frankfurter Paulskirche war für ihn nicht möglich, da ihm die Ausreise verwehrt wurde. Stattdessen bat er seinen Freund Maximilian Schell, die von ihm verfasste Rede vorzutragen.

1990 erhielt er den Preis Das politische Buch von der Friedrich-Ebert-Stiftung. Ebenfalls 1990 wurde Havel in der Schweiz mit dem Gottlieb-Duttweiler-Preis für seine politische Arbeit gewürdigt, die Laudatio von Friedrich Dürrenmatt kurz vor dessen Tod bewegte die Schweiz nachhaltig. Die UNESCO verlieh ihm 1990 den Simón-Bolívar-Preis. Im Jahr 1991 wurde Havel mit dem internationalen Karlspreis zu Aachen „in Würdigung seines Einsatzes für den Geist der Freiheit und die Verwirklichung des Friedens in seinem Land und in ganz Europa“ geehrt.1993 verlieh ihm die Theodor-Heuss-Stiftung den Theodor-Heuss-Preis in Anerkennung seines demokratischen Engagements und seiner Zivilcourage. 1998 erhielt Havel den Westfälischen Friedenspreis. 2000 wurde Havel mit dem französischen Prix mondial Cino Del Duca geehrt.

Er wurde 2002 für sein literarisches Lebenswerk mit dem Hans-Sahl-Preis ausgezeichnet und im gleichen Jahr zum Ehrenmitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung gewählt. 2003 bekam Havel den Hanno R. Ellenbogen Citizenship Award in Prag, das Großkreuz mit Halskette des tschechischen Ordens des Weißen Löwen den Deutschen Nationalpreis der Deutschen Nationalstiftung und den Gandhi-Friedenspreis der indischen Regierung. 2004 wurde Havel mit der höchsten zivilen Auszeichnung der USA, der Freiheitsmedaille(The Presidential Medal of Freedom), und dem Light of Truth Award ausgezeichnet. 2005 erhielt er das Österreichische Ehrenzeichen für Wissenschaft und Kunst, 2006 den Brückenpreis der Stadt Regensburg und 2008 aufgrund seiner Verdienste um die deutsche Einheit den Point Alpha Preis.

2009 erhielt Havel den Internationalen Demokratiepreis der Stadt Bonn, den Quadriga-Preis, sowie die Goldene Henne, die erneut seine Verdienste um die deutsche Einheit würdigte. 2010 wurde er mit dem Prager Franz-Kafka-Literaturpreis, 2011 mit einem St. Georgs-Orden ausgezeichnet.

 




[1] von Siegler, Archiv der Gegenwart, 1950, a.a.O., S. 2504

[2] Ebd., 1952, S. 3560

[3] Ebd., S. 3571

[4] Neues Deutschland vom 12.02.1950

[5] Balfour, R.: German Unification, Princeton 1996, S. 45

[6] Hohlfeld, Dokumente der deutschen Politik und Geschichte, a.a.O., S. 487ff

[7] Ebd., S.494f

[8] Pötzsch, Deutsche Geschichte von 1945 bis zur Gegenwart, a.a.O., S. 110ff

[9] Fricke, K.W.: Der Arbeiteraufstand – Vorgeschichte, Verlauf, Folgen, in: Spittmann, I./Fricke, K.W. (Hrsg.): 17. Juni 1953. Arbeiteraufstand in der DDR, 2. Auflage, Köln 1988, S. 5-23, hier 7ff

[10] von Siegler, Archiv der Gegenwart, a.a.O., S. 4035

[11] Fricke, Der Arbeiteraufstand – Vorgeschichte, Verlauf, Folgen, in: Spittmann/Fricke, 17. Juni 1953, a.a.O., S. 10ff

[12] Köhler, T.: Unser die Straße – Unser der Sieg. Die Stalinallee, Berlin 1993, S. 34

[13] Fricke, Der Arbeiteraufstand – Vorgeschichte, Verlauf, Folgen, in: Spittmann/Fricke, 17. Juni 1953, a.a.O., S, 15

[14] Ebd., S. 12f

[15] Ebd., S. 14

[16] Ebd., S. 15

[17] Zitiert aus Ebd., S. 20

[18] Ewers, K./Quest, T.: Die Kämpfe der Arbeiterschaft in den volkseigenen Betrieben während und nach dem 17. Juni, in: Spittmann/Fricke, 17. Juni 1953, a.a.O., S. 23-55, hier S. 33ff

[19] Ebd., S. 37f

[20] Ebd., S. 38

[21] Ebd., S. 39

[22] Ebd., S. 53

[23] Ebd., S. 56

[24] Eschenhagen/Judt, Chronik Deutschland 1949-2009, a.a.O., S. 57

[25] Fricke, Der Arbeiteraufstand – Vorgeschichte, Verlauf, Folgen, in: Spittmann/Fricke, 17. Juni 1953, a.a.O., S.19ff

[26] Pötzsch, Deutsche Geschichte von 1945 bis zur Gegenwart, a.a.O., S. 113

[27] Zur Kritik an Gerhard Ritters politischen Schriften siehe Cornelißen, C.: Gerhard Ritter. Geschichtswissenschaft und Politik im 20. Jahrhundert, Düsseldorf 2001 oder Ebbinghaus, J.: Philosophie der Freiheit, Bonn 1988, S. 11ff

[28] Schöllgen, G.: „Fischer-Kontroverse“ und Kontinuitätsproblem. Deutsche Kriegsziele im Zeitalter der Weltkriege, in: Hillgruber, S./Dülffer, J. (Hrsg.): Ploetz: Geschichte der Weltkriege. Mächte, Ereignisse, Entwicklungen 1900-1945, Freiburg/Würzburg 1981, S. 163-177, hier S. 169

[29] Ansprache vom 17.06.1955 im Bundestag, Das Parlament, Ausgabe vom 22.06.1955, S. 10

[30] Der Spiegel vom 16.06.2003

[31] Ebd.

[32] Neues Deutschland vom 23.06.1953

[33] Ebd.

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