Bildung im zaristischen Russland

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Im Jahre 186r erschien die erste staatliche „Ordnung für die Elementarvolksschulen“ (Zemstvo-Schulen), ohne dass dabei schon der Grundsatz der allgemeinen Schulpflicht verkündet wurde. Bis dahin war das im Jahre 1801 unter Zar Alexander I. gegründete Ministerium für Volksbildung zwar formal für die Elementarbildung zuständig, aber in Wirklichkeit erstreckte sich seine Verantwortung lediglich auf das mittlere Schulwesen und die Universitäten. Das schwach entwickelte dörfliche Schulwesen in Gestalt der kirchlichen Pfarrschulen erhielt nun durch die Zemstvo-Schulen einen Konkurrenten, die in den Augen der Orthodoxie die Gefahr eines laizistischen Geistes darstellte. Seit dem Jahre 1884 wurden daher die kirchlichen Elementarschulen stark subventioniert und ausgebaut. Es gab auch mehrmalige Versuche, die gesamte Elementarschulbildung der obersten Kirchenbehörde zu unterstellen. Dies scheiterte einmal an den unzulänglichen finanziellen Möglichkeiten für einen Unterhalt der Schulen, zum anderen an dem Widerstand der liberalen Öffentlichkeit, die für eine weltliche Verwaltung aller Schulen eintrat. Nach der Revolution von 1905 einen starken Aufschwung, da 1908 den Zemstva zusammen mit den städtischen Selbstverwaltungsorganen die praktische Durchführung der Pläne für einen allgemeinen obligatorischen Schulbesuch übertragen wurde.

Die Entwicklungen im zaristischen Russland

 

Wandlung zur industrialisierten Gesellschaft

 

Die in Russland mit Beginn der kommunistischen Herrschaft in Angriff genommene Aufgabe einer pädagogischen Umgestaltung der Gesellschaft kann als ein wesentliches Element der inneren Entwicklung der Sowjetunion seit 1917 angesehen werden. Sowjetische Politiker haben stets die fundamentale Rolle der Erziehung und Volksbildung in den Plänen für die wirtschaftliche Entwicklung des Landes und den Aufbau einer kommunistischen Gesellschaftsordnung betont. Der Zusammenhang zwischen der staatlichen Bildungspolitik, den revolutionären gesellschaftlichen Zielvorstellungen und der wirtschaftlichen Modernisierung des Landes wurde erkannt. Russland wandelte sich langsam vom überwiegend agrarischen zum industrialisierten Land, was das Hauptkennzeichen der russischen Geschichte im 19. Jahrhundert darstellt. Wenn man sich mit der Bildungspolitik in der Sowjetunion beschäftigt, muss man sich als erstes der Frage nach den Ausgangsbedingungen zuwenden, die von der Kommunistischen Partei zum Zeitpunkt der Oktoberrevolution in Russland vorgefunden wurden. Marxismus und russisches Erbe müssen gleichermaßen berücksichtigt werden, wenn man zu einem richtigen Verständnis der Geschichte des sowjetischen Bildungswesens und der Erziehung gelangen will. Diesen Gesichtspunkt haben schon im Jahre 1930 die sowjetischen Historiker Sergius Hessen und Nikolaus Hans betont. Sie stellten fest, dass man die Revolution der Schule in der Sowjetunion in der Perspektive der nationalen russischen Geschichte betrachten müsse. Anderseits versuchten sie auch die jeweiligen Wandlungen der kommunistischen Bildungspolitik im Zusammenhang mit dem Schicksal des Marxismus in der Sowjetunion überhaupt zu deuten.[1]

Bei der Beurteilung des Standes der Volksbildung, den die neuen Machthaber im Jahre 1917 vorfanden, gehen die Meinungen auseinander. Während die amtlichen sowjetischen Darstellungen meistens ein rückständiges Bild der vorrevolutionären Zeit entwarfen, um so die eigenen Leistungen herauszuheben, haben umgekehrt ihre politischen Gegner und die vor der Revolution in der Volksbildungsarbeit aktiven Personen auf die bereits gelegten Fundamente hingewiesen, auf denen das sowjetische System aufbauen konnte. Die sozialgeschichtliche Forschung sowohl von marxistischer als auch bürgerlicher Seite hat bei allen Unterschieden übereinstimmend nachgewiesen, dass seit den neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts der Modernisierungsprozess des zaristischen Russlands in ökonomischer Hinsicht Fahrt aufnahm, was man an den industriellen Produktionsziffern und am Ausbau des Eisenbahnnetzes festmachen konnte. In der Sozialstruktur war der Wandel langsamer und ungleichmäßiger, aber alles in allem eine bürgerliche Gesellschaft nach dem Muster westeuropäischer Staaten erfolgte. Im Gegensatz dazu behinderte die politische Verfassung des Reiches mit ihren reaktionären Formen der zaristischen Autokratie und des polizeilich-bürgerlichen Regimes den sozio-ökonomischen Modernisierungsprozess.

 

 

 

Zaristische Schulpolitik und gesellschaftliche Bildungsinitiativen

 

Diese Widersprüchlichkeit zwischen den objektiven Erfordernissen einer Entwicklungs- und Modernisierungspolitik und den konservativen politischen Strukturen fand auch in der Bildungspolitik ihren Ausdruck. In der Regierungszeit der letzten beiden Zaren Alexander III. (1881-1894) und Nikolaus II. (1894-1917), wo 12 verschiedene Minister für Volksbildung amtierten, kamen die Initiativen für eine Verbesserung des Bildungswesens überwiegend aus dem nichtstaatlichen Bereich. Die Behörden versuchten jeder Neuerung entgegenzuwirken und ultrakonservative Kreise am Zarenhof und in der orthodoxen Kirche sahen in einer Ausbreitung von Wissen in der russischen Gesellschaft sogar eine Gefahr für die Monarchie. Eine grundlegende Tatsache der vorrevolutionären russischen Bildungsgeschichte ist somit der Dualismus von staatlicher Schulpolitik und freier gesellschaftlicher Bildungstätigkeit. Dieser Zustand war im Wesentlichen das Ergebnis der innenpolitischen Reformen unter Alexander II. in den 1860er Jahren. Im Jahre 1864 wurden im europäischen Teil Russlands landwirtschaftliche Selbstverwaltungsorgane geschaffen, die weitreichende Aufgaben und Rechte in der lokalen Schulpolitik erhielten. Diese Reform fiel mit der klassischen Periode der russischen Pädagogik als volksbildnerischer und wissenschaftlicher Bewegung zusammen. In der Geschichte des russischen pädagogischen Denkens haben dabei K.D. Usinskij (1824-1870), der „Vater der russischen Volksschule“ und der christlich-anarchistische Schriftsteller L. N. Tolstoj (1828-1910) die bedeutendsten Wirkungen hinterlassen.

 

Eigenes Kapitel Tolstoj

 

Im Jahre 186r erschien die erste staatliche „Ordnung für die Elementarvolksschulen“ (Zemstvo-Schulen), ohne dass dabei schon der Grundsatz der allgemeinen Schulpflicht verkündet wurde. Bis dahin war das im Jahre 1801 unter Zar Alexander I. gegründete Ministerium für Volksbildung zwar formal für die Elementarbildung zuständig, aber in Wirklichkeit erstreckte sich seine Verantwortung lediglich auf das mittlere Schulwesen und die Universitäten. Das schwach entwickelte dörfliche Schulwesen in Gestalt der kirchlichen Pfarrschulen erhielt nun durch die Zemstvo-Schulen einen Konkurrenten, die in den Augen der Orthodoxie die Gefahr eines laizistischen Geistes darstellte. Seit dem Jahre 1884 wurden daher die kirchlichen Elementarschulen stark subventioniert und ausgebaut. Es gab auch mehrmalige Versuche, die gesamte Elementarschulbildung der obersten Kirchenbehörde zu unterstellen. Dies scheiterte einmal an den unzulänglichen finanziellen Möglichkeiten für einen Unterhalt der Schulen, zum anderen an dem Widerstand der liberalen Öffentlichkeit, die für eine weltliche Verwaltung aller Schulen eintrat. Nach der Revolution von 1905 einen starken Aufschwung, da 1908 den Zemstva zusammen mit den städtischen Selbstverwaltungsorganen die praktische Durchführung der Pläne für einen allgemeinen obligatorischen Schulbesuch übertragen wurde.

Einerseits waren Zemstvo-Angestellte (Lehrer, Landärzte, Agronomen) Träger vieler Initiativen und Bestrebungen zur Hebung der Bildung der einfachen Bevölkerungsschichten, die für die vorrevolutionäre Zeit charakteristisch war. Seit der Bewegung der Narodniki in den 1870er Jahren hatten vor allem gebildete junge Frauen, denen ein Universitätsstudium verwehrt blieb, verschiedene sozialpädagogische und bildungspolitische Tätigkeiten entfaltet, die ausschließlich auf privater Basis beruhten und nur selten in Verbindung mit aktiver revolutionärer Betätigung standen. Die Anfänge der Kindergärten und die verschiedenen Formen der Erwachsenenbildung (Sonntags- und Abendschulen, Bibliotheken und Lesestuben, Literaturverlage usw.) verdankten ihre Entstehung und Verbreitung in erster Linie dem Engagement der gebildeten Mittelschicht, die sich für die Wissenssteigerung und damit auch der Demokratisierung der Bevölkerung verdient gemacht haben. Da sich der Staat auf diesem Gebiet nahezu aller eigenen Initiativen enthielt, konnte trotz Überwachungen und bürokratischer Eingriffe eine fruchtbare Tätigkeit ausgeübt werden. Nicht zufällig fanden gerade unter den hier tätigen Personen seit der Jahrhundertwende die modernen pädagogischen Ideen starke Verbreitung, so dass die Wurzeln der frühsowjetischen Reformpädagogik zu einem großen Teil in diesem Bereich der außerschulischen Bildung und Erziehung zu suchen sind.

Die Revolution von 1905 (noch näher schildern) brachte auch für den Bildungsbereich wesentliche Veränderungen mit sich. Einerseits fand eine konservative Wende statt, die sich in der Rücknahme der Abschaffung der Schüleruniformen für Gymnasiasten, die Abschaffung gewählter Elternausschüsse oder Aufhebung der Zulassung von Studentenvereinigungen widerspiegelte. Andererseits bewirkte der revolutionäre Umschwung eine rege Organisationstätigkeit sowohl unter russischen Lehrern und Wissenschaftlern als auch in der pädagogisch interessierten Öffentlichkeit. Schon im Frühjahr 1905 wurde der Allrussische Lehrerverband gegründet, dem vor allem Volksschullehrer und führende Köpfe der demokratischen Volksbildungsbewegung wie V. P. Vachterov (1853-1924) und N. V. Tschechov (1865-1947) angehörten. Eine weitere Neugründung war der Allrussische Verband der Mittelschullehrer an Gymnasien und Realschulen, es folgten weitere Organisationen auf gesamtstaatlicher oder lokaler Ebene mit gewerkschaftlichen und pädagogisch-fachlichen Zielsetzungen. Eine dieser Zusammenschlüsse die „Liga für Bildung“ entfachte eine Kampagne für ein Gesetz der Schulpflicht, das in die Beratungen der Duma einfloss.

Die aus der Revolution von 1905 hervorgegangenen Lehrerverbände mit reformerischer Zielsetzung mussten zwar seit Beginn der Restauration im Jahre 1907 in vielen Fällen ihre Tätigkeit einstellen, aber als sich in den Jahren vor dem Ausbruch des 1. Weltkrieges wiederum die Möglichkeit für ein öffentliches Auftreten bot, kamen die progressiven Pädagogen auf den wichtigsten Bildungskongressen (Allgemeiner Zemstso-Kongress über Volksbildung im August 1911, 1. Allrussischer Kongress über Familienerziehung in den Winterferien 1912/1913, 1. Allrussischer Kongress für Volksbildung in den Winterferien 1913/1914) wieder zu Wort. Die wichtigsten Forderungen der reformorientierten Pädagogen lauteten:

 

1.     Verwirklichung der allgemeinen Schulpflicht unter Verantwortung der lokalen Selbstverwaltung,

2.     Lehr- und Lernmittelfreiheit,

3.     Weltlichkeit der Schule,

4.     Unterricht für Kinder nichtrussischer Nationalitäten in deren Muttersprache,

5.     freier Übergang von der Grundschule zur anschließenden Mittelschule.

 

Ein Kennzeichen für den inneren Zusammenhang der schulpolitisch-volksbildnerischen Bewegung mit den reformpädagogischen Bestrebungen aus dem wissenschaftlichen Bereich lag darin, dass in dem Jahrzehnt zwischen 1906 und 1916 fünf Allrussische Kongresse für pädagogische Psychologie und experimentelle Pädagogik stattfanden, die für die Entwicklung der Psychologie und Pädagogik über das Revolutionsjahr 1917 hinaus grundlegende Bedeutung besaßen. Die pädagogische Publizistik vor der Oktoberrevolution zeigte ebenfalls eine große reformerische Bereitschaft. Der „Erziehungsbote“, „Freie Erziehung“ und „Die russische Schule“ spiegelten die Vielfalt des freien Bildungsgeschehens im Gegensatz zu der stagnierenden Bildungspolitik der zaristischen Regierung wider.

 

 

 

Das Bildungswesen vor der Oktoberrevolution

 

Sowohl in finanzieller wie organisatorischer Hinsicht bildete die Einführung der allgemeinen Schulpflicht, die zugleich die wichtigste Voraussetzung für die allmähliche Beseitigung des hohen Anteils der Analphabeten in der russischen Bevölkerung darstellte, das Hauptproblem. Die Duma beauftragte im Jahre 190 die lokalen Selbstverwaltungskörperschaften in Stadt und Land damit, Schulbaupläne für den Ausbau der Elementarschulen bis zur vollen Erfassung aller Kinder im Grundschulalter vorzulegen, aufgrund derer staatliche Zuschüsse bewilligt wurden. Die Planung und der Ausbau der Grundschulen schritten bis zum Jahre 1916 voran, so dass mit der tatsächlichen Einführung der allgemeinen Schulpflicht für alle Kinder vom achten Lebensjahr an im Unfang von mindestens vier Jahren in ganz Russland im Jahre 1925 rechnete. Im Jahre 1915 erfasste das Grundschulnetz rund 51% aller Kinder von 8-11 Jahren. Die Zahl der Grundschulen war seit 1911 von 100.295 mit 6.180.510 Schülern auf 123.745 mit 7.788.552 Schülern um rund ein Viertel gestiegen. Allerdings war der Beschulungsgrad sehr ungleichmäßig verteilt; die Dorfbewohner waren gegenüber den größeren Städten ebenso benachteiligt wie die Mädchen auf dem Lande gegenüber den Jungen und die östlichen Reichsteile gegenüber dem europäischen Teil Russlands.

Die Volkszählung von 1897 mit einem Anteil von 78,9% Analphabeten an der Gesamtbevölkerung des Reiches oder 73% bei Ausschluss der noch nicht schulpflichtigen Kinder unter 9 Jahren dokumentierte den Rückstand Russlands in der elementaren Volksbildung gegenüber West- und Mitteleuropa sowie den USA eindeutig. In den zwei Jahrzehnten bis zur Revolution von 1917 hatte sich der Anteil der lese- und schreibkundigen Personen über 9 Jahre auf rund 38-39% erhöht. Das Analphabetentum von rund 60% der Bevölkerung und der fehlende Schulunterricht für nahezu die Hälfte der Kinder bildeten eine schwere Hypothek, die alle bildungspolitischen Maßnahmen der Sowjetregierung in den ersten beiden Jahrzehnten überschattete.

Da das russische Bildungssystem des Staates von oben nach unten im Sinne der absolutistischen Ideologie konzipiert war, wiesen die mittleren und höheren Lehranstalten einen quantitativ und qualitativ besseren Stand auf als die Volksschulen. Unter dem Begriff der „mittleren Bildung“ und der „Mittelschule“ fielen im Zarenreich um 1900 die klassischen Gymnasien für Jungen (achtjährig), die siebenjährigen Gymnasien und die Progymnasien für Mädchen, die siebenjährigen Realschulen und die Handelsschulen (sieben- oder achtjährig), in denen ebenfalls die allgemein bildenden Inhalte überwogen. Die Kadettenanstalten, die Diözesanschulen für Mädchen und die „Institute für adelige Fräulein“ konnte man als Relikte der ständischen Herkunft im mittleren Schulwesen ansehen. Die staatliche Schulpolitik im 19. Jahrhundert hatte mehrfach versucht, die verschiedenen Schultypen auf bestimmte Stände zu begrenzen, aber der Demokratisierungsprozess ließ sich nicht aufhalten. Die entstehende bürgerliche Gesellschaft in Russland schuf sich ihre eigene bürgerliche Schule, die keine geburtsständischen Privilegien mehr kannte und jedem das formale Recht auf freien Zutritt zu den höheren Bildungsstufen gewährte.

Während noch im Jahre 1894 unter den 54.590 Schülern der Knabengymnasien 56,4% dem Adel und der höheren Beamtenschaft, 33,5% den „städtischen Ständen“, 6,7% der Bauernschaft und 3,4% der Geistlichkeit entstammten, hatte sich das Bild im Jahre 1914 (152.110 Schüler) folgendermaßen verändert: 32,3% Adel und Beamten, 45,6% Angehörige städtischer Stände (darunter 26,9% Arbeiter und Handwerker), 22% Bauern und 5,6% Geistlichkeit. In den Realschulen stellten 1914 von den 80.800 Schülern die Bauernkinder mit 32,1% zusammen mit den städtischen Handwerkern und Arbeitern mit 29,6% sogar die Mehrheit der Schüler; ähnliches galt für die Mädchenanstalten. Das mittlere Schulwesen in Russland vor der Revolution 1917 kann daher nur bedingt als klassengebunden bezeichnet werden, auch wenn die sozialistischen Kritiker mit Recht auf die materiellen Ungleichheiten, die die Chancen für Kinder aus ärmeren Familien beeinträchtigten, hinwiesen.

Die Krisenerscheinungen des mittleren Schulwesens, insbesondere der Gymnasien, lagen auf einem anderen Gebiet: in dem Dualismus von klassischer und realistischer Bildung, der zwischen 1900 und 1904 zu verschiedenen Reformprojekten Anlass gab, und in der allgemein als pädagogisch rückständig empfundenen Erziehungs- und Unterrichtspraxis. Die Entfremdung von der Familie, bürokratischer Charakter, trockener Formalismus, Überbürdung der Schüler durch bloßes Auswendiglernen und fehlende Berücksichtigung der kindlichen Eigenarten waren regelmäßig erhobene Vorwürfe. Die Schüler der oberen Gymnasialklassen sympathisierten meistens mit den oppositionellen Strömungen und nahmen weiterhin an revolutionären Geheimzirkeln zusammen mit Studenten teil.

Für die russischen Universitäten und Hochschulen waren die letzten Jahre der zaristischen Herrschaft eine Periode permanenter politischer Unruhen bei einem gleichzeitigen Hochstand wissenschaftlicher Leistungen auf vielen Gebieten und einem starken Zuwachs der Studentenzahlen. Zwischen den Jahren 1900 und 1914 erhöhte sich die Zahl der Studenten an den neun Universitäten des Reiches von 16.357 auf 55.695, wobei allein an der Moskauer Universität im Jahre 1914 9.892 Studenten eingeschrieben waren. Auch die Zahl der Fachhochschulen, die ausschließlich Männern vorbehalten waren, und die der Höheren Frauenkurse, die den Universitäten kaum nachstanden, erlebte einen beträchtlichen Aufschwung. Insgesamt wurden im Studienjahr 1912/1913 an den genannten Hochschulen und Kursen 66.981 Personen unterrichtet. In der sozialen Zusammensetzung der Studenten hatte sich ebenfalls ein Wandel zugunsten der mittleren und unteren Sozialschichten vollzogen. An den Universitäten gehörten 1914 zwar noch 36,1% dem Adel und Beamtentum an, aber es folgten mit 24,3% Handwerker und Arbeiter; 14,8% gehörten dem städtischen Bürgertum, 14,5% der Bauernschaft und 10,3% der Geistlichkeit an. An den Technischen Hochschulen und den Höheren Frauenkursen war die Zusammensetzung noch stärker demokratisiert.

Alle russischen Universitäten und die meisten anderen Hochschulen waren Staatsanstalten; im 19. Jahrhundert waren preußisch-deutsche und französische Einflüsse für ihre innere Organisation maßgebend gewesen. Bis zur Oktoberrevolution von 1917 handelte es sich um einen wechselhaften Kampf um ihre Autonomie, d.h. die rechtlich gesicherte Selbstverwaltung, nach dem Vorbild der deutschen Universitäten. Die Autonomie wurde vom Staat – je nach den allgemeinen politischen Entwicklungen – abwechselnd teilweise geändert und dann wieder zurückgenommen. Die Hoffnungen aus dem Revolutionsjahr 1905 erfüllten sich nicht; im Jahre 1911 kam es zu Massenrelegierungen von Studenten sowie Entlassungen und Rücktritten von Professoren. Diese Krisensymptome zeigten die große Entfremdung zwischen den überwiegend demokratisch gesinnten Professoren, den zum Sozialismus neigenden Studenten und der konservativ-bürokratischen Staatsgewalt.

Gegenüber dem allgemein bildenden mittleren Schulwesen und den Universitäten und Hochschulen befand sich die „beruflich-technische Bildung“ in einem erheblichen Rückstand, gemessen an den wirtschaftlichen Bedürfnissen der kapitalistischen Industrialisierung, vor allem seit den 1890er Jahren. Dabei machte sich das niedrige allgemeine Schulniveau der arbeitenden Bevölkerung ebenso hemmend bemerkbar wie die noch ungenügende Zahl von Berufs- und Fachschulen. So hieß es in einer Resolution: „Das Analphabetentum der Arbeiter stellt das Haupthindernis für die Verbreitung technischer Kenntnisse im Volke dar und ist zugleich die wichtigste Ursache für die Unproduktivität der Arbeit.

Es wurden drei Berufsschultypen festgelegt: mittlere technische Lehranstalten zur Ausbildung von Technikern, niedere technische Schulen für künftige Werkmeister und handwerkliche Gewerbeschulen für Facharbeiter. In der Folgezeit entstanden verschiedene neue Typen, die von den jeweiligen Ressorts ins Leben gerufen wurden, so dass hier eine große Zersplitterung herrschte. Insgesamt ergab eine Zählung aus dem Jahre 1910 3.036 mittlere und niedere Berufsschulen aller Art mit 213.860 Schülern, wovon fast neun Zehntel zur zweiten Kategorie gehörten. Dabei handelte es sich um Vollzeitschulen, d.h. der Typ der in Deutschland um die Jahrhundertwende entstehenden Berufsschule als einer berufsbegleitenden Teilzeitschule blieb in Russland unbekannt. Die meisten der in die Industriebetriebe eintretenden jüngeren und älteren Arbeitskräfte wurden unmittelbar am Ort nur kurz angelernt; eine planmäßige betriebliche Lehrlingsausbildung gab es lediglich in einigen Staatsbetrieben.

 

 

 

Die Reformpläne am Vorabend der Revolution von 1917

 

Die Stagnation der von der zaristischen Regierung betriebenen Schul- und Hochschulpolitik und die im Gegensatz dazu äußerst produktive Selbsthilfe der Gesellschaft blieb ein Kennzeichen der russischen inneren Entwicklung bis zum Zusammenbruch der Monarchie. Lediglich in der knapp zweijährigen Tätigkeit des vorletzten Ministers für Volksbildung, P. N. Ignat’ev, der im Januar 1915 in sein Amt berufen wurde, schien sich eine Überwindung dieser Kluft und ein entschiedener Kurs auf eine umfassende Modernisierung und Reform des russischen Bildungswesens anzubahnen.

Ignat’ev, der sich von den zeitgenössischen westlichen pädagogischen Reformideen, so z.B. von den Gedanken des amerikanischen Philosophen und Pädagogen John Dewey, anregen ließ, plante die Errichtung eines einheitlichen Schulsystems, das an die Stelle des bisherigen Nebeneinanders von Volksschule und Mittelschule treten sollte. Es war kein radikaler Bruch mit den bestehenden Schulverhältnissen vorgesehen, aber eine entschiedene Orientierung auf neue pädagogische, ökonomische und gesellschaftliche Bedürfnisse. So schlug die von Ignat’ev berufene Reformkommission für das mittlere Schulwesen anstelle der bisherigen Typen des Gymnasiums und der Realschule eine in drei Zweige gegliederte vierjährige II. Stufe vor, die auf einem gemeinsamen dreijährigen Unterbau beruhte. Dieser wiederum sollte im Lehrplan mit den entsprechenden Klassen der höheren Grundschule identisch sein, so dass ein Übergang auch erst zu diesem Zeitpunkt möglich war. Die vierjährige gemeinsame Grundschule für alle Kinder im Unterschied zu den bisherigen gesonderten Vorklassen der Gymnasien und Realschulen sollte die Einheit des Schulsystems unterstreichen. Wenn man die gleichzeitige Erweiterung der Rechte für die Lehrerkonferenz und die Elternausschüsse hinzunimmt, wird deutlich, dass es Ignat’ev auf eine strukturelle und pädagogische Erneuerung ankam, die den Grundsätzen einer bürgerlichen Verfassung im Staate von den Schulen vorarbeiten sollte.

Die gleichzeitigen Pläne für eine Reform und einen umfassenden Ausbau des Berufs- und Fachschulwesens, die ein im Jahre 1916 gebildeter „Rat für Angelegenheiten der Berufsbildung in Russland“ vorbereiten sollte, dienten dem ökonomischen Programm der Erschließung Russlands, das Ignat’ev folgendermaßen formulierte: „Die Wohlfahrt Russlands und seine ganze Zukunft hängen von der Hebung der Produktivkräfte des Landes ab. Ein schneller und kräftiger Aufschwung ist ohne die breite Entwicklung der Berufsausbildung undenkbar. Eine vernünftige und ausgedehnte Nutzung der gewaltigen natürlichen Reichtümer unseres Vaterlandes verlangt tausende technisch gebildeter Menschen.“

Lenins Programm der umfassenden Elektrifizierung des Landes wie die in dem späteren Hauptkomitee für beruflich-technische Bildung entwickelten Grundsätze waren in ihrem praktischen Teil eine direkte Weiterführung der vorrevolutionären Pläne. Ignat’ev selbst scheiterte jedoch damit am Widerstand konservativer Kreise am Zarenhof.

Der nach dem Sturz des aus der Februarrevolution 1917 hervorgegangenen Provisorischen Regierung, die seit dem Mai eine bürgerlich-sozialistische Koalition darstellte, fehlte es umgekehrt nicht an politischen Zielvorstellungen und weitreichenden Reformideen, wohl aber in dem krisengeplagten Land infolge des 1. Weltkrieges mit seinen wachsenden inneren Spannungen an der realen Macht und den faktischen Möglichkeiten. Obwohl die bolschewistische Oktoberrevolution bald über die Dekrete und Pläne der Provisorischen Regierung zur Neugestaltung des Schul- und Hochschulwesens hinweg geschritten ist, verdienen diese Beachtung, da sie die Brücke zwischen dem alten Regime und der Sowjetmacht darstellen und auf diese Weise die trotz aller Umbrüche nicht verloren gegangene Kontinuität in den zentralen bildungspolitischen Aufgaben und praktischen Reformen dokumentieren.

Schon in den ersten Wochen nach dem Februarumsturz formierte sich die Lehrerschaft in verschiedenen lokalen und regionalen gewerkschaftlich-politischen Zusammenhängen, die in der Neugründung des Allrussischen Lehrerverbandes im April 1917 gipfelten. Die Initiatoren der Lehrerbewegung standen überwiegend im sozialistischen Lager, wobei die parteipolitischen Grenzen eher fließend waren und die Bolschewiki noch kaum Anhänger besaßen. Die auf den verschiedenen Lehrerkongressen erhobenen Forderungen waren das Resultat der geistigen Vorarbeit seit dem Jahre 1905, auf den Bildungskongressen vor 1914 und in den Spalten der pädagogischen Zeitschriften. Eine an das Ministerium gerichtete Resolution des Moskauer Lehrerkongresses Anfang April 1917 stellte die Grundsätze der Freiheit, Demokratisierung und Dezentralisierung an die Spitze der allgemeinen Reformforderungen. Im Einzelnen hieß das vor allem: „Selbstverwaltung und Selbstbestimmung der Schulen aller Nationalitäten auf allen Stufen unter breiter Einführung des Wahlprinzips; Beseitigung der Beschränkungen und Privilegien im Bildungswesen, die auf dem Geschlecht, der Nationalität, der Konfession und dem Stand beruhen; Unterricht in der Muttersprache; Einheit und Aufeinanderfolge aller Schultypen; allgemeine Grundschulpflicht; Unentgeltlichkeit der Bildung auf allen Stufen und Gewährleistung eines tatsächlichen Zugangs zu den Bildungseinrichtungen für alle; Freiheit der Privatinitiative im Bereich der Volksbildung; breite Entfaltung der Vorschulerziehung und der außerschulischen Bildung“.

Diese prinzipiellen Forderungen wurden vom Volksbildungsminister, dem ehemaligen Rektor der Moskauer Universität A. A. Manuilov, anerkannt. Allerdings war man in den zentralen Behörden gezwungen, vor allem die immer schwieriger werdenden äußeren Verhältnisse zu meistern, so dass lediglich ein Teil der Reformpunkte bis zum Herbst 1917 auch in administrative Verordnungen umgesetzt worden ist. Dazu gehörten unter anderem die Übertragung der lokalen Schulaufsicht auf die neuen demokratischen Verwaltungsorgane, die Übernahme der kirchlichen Grundschulen durch die staatliche Verwaltung, was allerdings auf den Widerspruch der orthodoxen Kirche stieß, das Recht auf Befreiung vom Religionsunterricht, die Aufhebung der Diskriminierung jüdischer Kinder bei der Zulassung zum Mittelschulbesuch und zum Studium, verschiedene Schritte zur Vereinheitlichung des mittleren Schulwesens sowie die Förderung von Koedukationsschulen. Auch die neue russische Rechtschreibung, die allerdings sehr umstritten war, wurde in den Schulen eingeführt. Für die russischen Hochschulen war die Gewährung der Universitätsautonomie am wichtigsten, die einen zentralen studentischen Ausschuss als Interessenvertretung der Studenten einschloss.

Die genannten Reformschritte wiesen in eine Richtung, die eine umfassende Neugestaltung des russischen Bildungswesens zum Ziel hatten. Die entscheidende Rolle sollte dabei dem Staatskomitee für Volksbildung zufallen. In den verschiedenen Kommissionen besaßen die wichtigsten Männer der Volksbildungsbewegung seit 1900 den entscheidenden Einfluss.

Aus den über 40 Einzelentwürfen, die bis zum Oktober 1917 erarbeitet wurden, sind zwei Dokumente besonders entscheidend: die „22 Leitsätze für die Ausarbeitung der Reform der Volksbildung“ sowie die „Provisorische Ordnung für die allgemeinbildende öffentliche Einheitsschule“. Das erste Dokument sollte das Verhältnis von Staat und Bildungswesen, das zweite die inneren Verhältnisse der Schule regeln. In beiden wurden die schon oben genannten Prinzipien eines demokratischen Bildungssystems und der pädagogischen Reformbewegungen im Einzelnen entwickelt, vor allem die Übertragung der Schulangelegenheiten auf die lokale Selbstverwaltung als Reaktion auf den bürokratischen Zentralismus der Zarenzeit, die Schaffung kollegialer Gremien in der Schule selbst und in der Schulverwaltung, die starke Heranziehung gesellschaftlicher Kräfte, die Einführung eines dreistufigen Einheitsschulsystems sowie zahlreiche weitere Schritte zur Modernisierung des Unterrichts.

Die Reformentwürfe des Staatskomitees für Volksbildung bildeten den konsequenten Abschluss der vorevolutionären demokratischen Reformbestrebungen der fortschrittlichen russischen Intellektuellenbewegung. Die mit der Oktoberrevolution begonnene radikale Umgestaltung im kommunistischen Sinne hat bestimmte Motive aufgegriffen und fortgeführt, andere dagegen nicht beachtet oder unterdrückt.

 

 

 

Die Zeit nach der Oktoberrevolution

Die bildungspolitischen Ziele der Bolschewisten

 

Als die Bolschewiki im Oktober 1917 an die Macht kam, verfügte sie in grobem Maße auch über ein pädagogisches und bildungspolitisches Programm, das auf den theoretischen Grundlagen des Marxismus beruhte und einige Zielvorstellungen mit der demokratischen Volksbildungsbewegung sowie anderer sozialistischer Parteien teilte. Konkrete Pläne und Reformentwürfe besaßen die Bolschewiki um diese Zeit jedoch noch nicht. Im Laufe des Jahres 1918 gesellten sich zu den wenigen Bolschewiki, die zuerst in Petrograd, dann in Moskau das ehemalige zaristische Ministerium für Volksbildung in den Generalstab der pädagogischen Revolution verwandelten, entschiedene Schulreformer wie P.P. Blonskij (1884-1941), S.T. Sackij (1878-1934) und V.N. Sulgin (1894-1965). Später kamen noch die beiden führenden pädagogischen Wissenschaftler der 1920er Jahre, A.P. Pinkevic (1883-1939) und M.M. Pistrak (1888-1940) hinzu.

Die pädagogischen Wortführer der Schulrevolution bezogen ihre Ideen vornehmlich aus drei Richtungen: aus der von Tolstoj beeinflussten radikalen pädagogischen Bewegung der freien Erziehung, aus der westeuropäischen und nordamerikanischen Reformpädagogik, für die John Dewey (näher darauf eingehen) repräsentative Geltung in Russland gewann, sowie aus der Theorie von Karl Marx. Während die allgemeinen gesellschaftlichen und politischen Ziele des Marxismus, in der von Lenin geschaffenen Form, den prinzipiellen und programmatischen Rahmen abgaben, innerhalb dessen sich die kommunistische Bildungspolitik abspielte, flossen in ihre Realisierung während der ersten Periode in starkem Maße auch nichtmarxistische Gedanken ein.

Diese Vorstellungen waren vor allem für die innere Revolutionierung von Schule und Erziehung bestimmend und kamen in den entsprechenden Dekreten, Programmen und Lehrplänen seit 1918 zum Ausdruck. Bevor der Autor sich dieser Seite der pädagogischen Neuorientierung zuwendet, müssen jedoch die umgreifenden sozialpolitischen Zielsetzungen des bolschewistischen Programms zur Umgestaltung des russischen Bildungswesens dargelegt werden. Sie beruhen vor allem auf den von Lenin entwickelten Vorstellungen von einer „sozialistischen Kulturrevolution“ und von den Aufgaben die dabei der Diktatur des Proletariats zufielen. Lenin hat dem Ausdruck „Kulturrevolution“ erst gegen Ende seines Lebens geprägt, als sich mit Beginn der Neuen Ökonomischen Politik die Erkenntnis Bahn gebrochen hatte, dass Russland ein langwieriger sozialer, ökonomischer und kultureller Transformationsprozess bevorstand. Lenin schrieb Anfang 1923: „Unsere Gegner hielten uns oft entgegen, es sei ein sinnloses Beginnen von uns, in einem Lande mit mangelnder Kultur den Sozialismus anpflanzen zu wollen. Ihr Irrtum entstand aber daraus, daß wir nicht von dem Ende angefangen haben, an dem es nach der Theorie hätte geschehen sollen, und daß bei uns die politische und soziale Umwälzung jener kulturellen Umwälzung jener Kulturrevolution vorausgegangen ist, der wir jetzt dennoch gegenüberstehen.“

Lenin kehrte den Zusammenhang um: der Aufbau der geplanten sozialistischen Gesellschaftsordnung musste alles das nachholen, was der Kapitalismus im Westen geleistet, in Russland aber versäumt hatte: „Wenn zur Schaffung des Sozialismus ein bestimmtes Kulturniveau notwendig ist (obwohl niemand sagen kann, wie dieses bestimmte ‚Kulturniveau’ aussieht, denn es ist in jedem westeuropäischen Staat anders), warum sollten wir also nicht damit anfangen, auf revolutionärem Weg dieses bestimmte Niveau zu erringen, und erst dann, auf der Grundlage der Arbeiter- und Bauernmacht und der Sowjetordnung, vorwärts schreiten und die anderen Völker einholen.“

Schon lange vor 1917 hatte Lenin die bei der Verwandlung Russlands in einen Industriestaat auftretenden Hemmnisse mit dem niedrigen Bildungsniveau der Bevölkerung in Zusammenhang gebracht und betont, dass der „Faktor Kultur“ für den wirtschaftlichen Aufstieg von entscheidender Bedeutung sei. Kurz nach der Oktoberrevolution nannte er als die beiden wichtigsten Voraussetzungen für die Entwicklung einer sozialistischen Wirtschaft in Russland „erstens die Hebung des Bildungs- und Kulturniveaus der Masse der Bevölkerung und zweitens die Hebung der Disziplin der Werktätigen, ihres Vermögens zu arbeiten, der Geschicklichkeit, der Intensität der Arbeit und ihre bessere Organisation.“

Lenin war sich aber dessen bewusst, auf welche großen Schwierigkeiten diese „Kulturrevolution“ stoßen musste, bei der „Umerziehung der Massen, bei der Organisations- und Schulungsarbeit, bei der Vermittlung von Wissen, beim Kampf gegen das uns zugefallene Erbe an Unwissenheit und Unkultur, Rohheit und Verwilderung.“

Im Unterschied zu den technikfeindlichen und zivilisationskritischen Kulturkonzeption Tolstojs, die noch im 20. Jahrhundert in der russischen Intelligenz lebendig war, erkannte Lenin den von Blonskij im Jahre 1919 niedergeschriebenen Satz an, dass die „technisch vollkommene Gesellschaft“ gleichbedeutend sei mit der „sozial vollkommenen Gesellschaft“ und dass „die Kultur der Zukunft eine industriell-kollektivistische Kultur“ sei. Die Verbindung von Technik und Sozialismus stellte Lenins Vermächtnis an Russland dar. Die Elektrifizierung  der Industrie und der Anstieg der Kultur bildeten den Kern des „zweiten Parteiprogramms“, wie Lenin den Ende 1920 verabschiedeten Plan zur Elektrifizierung Russlands nannte. Bei der „Kulturrevolution“ in Russland handelte es sich also um ein Nachholen der europäischen und amerikanischen Entwicklung. Lenins Konzeption der „sozialistischen Kulturevolution“ unterstrich die rational-planerischen Aufgaben der neuen revolutionären Staatsmacht ebenso wie den instrumentellen Charakter der elementaren Massenbildung. „Kulturrevolution“ bedeutete in diesem Verständnis nicht die Schaffung einer neuen „proletarischen Kultur“, sondern den Erwerb wissenschaftlicher, technischer und organisatorischer Mittel zur Überwindung der sozioökonomischen Rückständigkeit des Landes und seiner Bevölkerung.

Aus der pragmatischen Einstellung Lenins und seinem Bewusstsein von der historischen Kontinuität ergab sich auch seine ablehnende Haltung gegenüber den Bestrebungen einer genuinen „proletarischen Kulturrevolution“, die fast alle Bereiche des kulturellen Lebens in den ersten Jahren der bolschewistischen Revolution durchdrangen. Die Bewegung des „Proletkul’t“ fand in der Literatur und in den bildenden Künsten den stärksten Ausdruck. Der „Proletkul’t“ sollte als autonome, von der Partei unabhängige Organisation die „proletarische Klassenkultur“ allein mit den Kräften des Proletariats unter ausdrücklichem Verzicht auf die Mitwirkung der Bauern und der bürgerlichen Intelligenz. Die kommunistische Partei war in diesem Konzept lediglich für die politische Revolution, die Gewerkschaften für die soziale Revolution zuständig. Lenin sah im proletarischen Radikalismus der Bewegung die Gefahr, dass dadurch die Bauern und die bürgerliche Intelligenz, deren Zustimmung für die Überlebensfähigkeit des Sowjetsystems entscheidend war, in eine scharfe Opposition zur Diktatur des Proletariats gebracht und damit der hegemoniale Bestand der kommunistischen Partei und auch seine eigene Position gefährdet wurde. Die Reglementierung des „Proletkul’t“ hatte in erster Linie politische Gründe, richtete sich aber gegen den dortigen Einfluss des Futurismus. Die Futuristen sahen in der Revolution vor allem die Befreiung der Künste aus verknöcherten Traditionen. Der Volkskommissar für das Bildungswesen, Lunacarskij, förderte zunächst die Futuristen und wies ihnen einflussreiche Posten auf dem Gebiet der Literatur-, Kunst- und Theaterpolitik zu. Aber es traten bald Differenzen auf. Der von den Futuristen propagierte totale Bruch mit der Kunst der zaristischen Vergangenheit widersprach der vor allem von Lenin vertretenen Ansicht, dass der Aufbau einer neuen Kultur nur mit Unterstützung der bürgerlichen Intelligenz und ihres Fachwissens eine gute Überlebenschance hätte. Bald darauf wurde deren Zeitung „Kunst der Kommune“ von der Regierung eingestellt. Der Einfluss der Futuristen auf die Literatur- und Bildungspolitik der Sowjetunion war damit gebrochen, obwohl sie sich bemühten, ihre Vorstellungen von einer revolutionären Kunst weiter zu verbreiten.

Der Geist der Absage an die Vorstellungen von einer besonderen proletarischen Kultur fand auch Eingang in die Thesen des ZK der „Gesamtrussischen Gewerkschaft der Kunstschaffenden“. Neben der Notwendigkeit einer Nutzung für die politische Agitation und der als Voraussetzung dazu erforderlichen „kommunistischen Propaganda unter den Dienern der Kunst selbst“ wurde darin hervorgehoben, dass „ die neue proletarische und sozialistische Kunst nur auf dem Fundament aller Errungenschaften der vergangenen errichtet werden kann“. Der „Proletkul’t“ entwickelte sich zu einer Massenorganisation, die mit der kommunistischen Partei zahlenmäßig konkurrieren konnte. Im Jahre 1920 gab es ca. 400.000 Sympathisanten und 80.000 aktive Mitglieder, die über 20 literarische und kulturpolitische Zeitschriften herausgaben.

Erkenntnistheoretisch nahm die Bewegung eine radikale Variante der Standpunkt-Theorie ein.[2] Die Standpunkt-Theorie geht von einer Abhängigkeit der Erkenntnisgewinnung innerhalb gesellschaftlicher Herrschaftsverhältnisse aus. Es geben bessere und schlechtere Standpunkte, von denen aus die Welt betrachtet und interpretiert werden könne. Die standpunkttheoretischen Konzepte setzen bei Hegels Herr und Knecht-Kapitel in der „Phänomenologie des Geistes“ aus dem Jahre 1802 an.[3] Karl Marx hat Hegels Philosophie auf den Produktionsprozess im Kapitalismus bezogen, in der sich Kapitalisten und Proletarier in einer organisierten gesellschaftlichen Beziehung als Klassen gegenüberstehen. Aus der Sicht des Proletariers ist der Ablauf des Produktionsprozesses prinzipiell verfügbar, da seine Anstrengung die Beziehung zwischen Selbst und Gegenstand erst hervorbringe. Vom Standpunkt der herrschenden Klassen hingegen seien die tatsächlichen Praktiken nicht sichtbar. Aus dem Standpunkt des Proletariers resultiert sein Klassenbewusstsein und der damit verbundene Klassenkampf, wenn es von der Klasse an sich zur Klasse für sich werde.[4]

Ab August 1919 betrieb Lenin aktiv die Unterordnung des Proletkul’t unter das Volkskommissariat für das Bildungswesen. Die erstrebte Unterordnung wurde schließlich im Oktober 1920 vollzogen und im Dezember 1920 durch einen ZK-Beschluss bestätigt. Lenin hatte eine völlige Unterordnung des Proletkul’t angestrebt, aber letztlich wurde ihm doch Autonomie in seiner künstlerischen Arbeit (Musik, Theater, Literatur, bildende Kunst) eingeräumt, wogegen ihm eigenständige politische und wissenschaftspolitische Arbeit verboten wurde.

Die Unterordnung des „Proletkul’t“ unter die Regierung leitete seinen Verfall ein. Seine bisherigen Wortführer, A. Bogdanov und V. Poljanskij, wurden ausgeschaltet; viele Zeitschriften wie „Proletarische Kultur“ und „Zukunft“ wurden im Jahre 1921 eingestellt.

Die Bewegung des „Proletkul’t“ beeinflusste auch einige pädagogische Konzeptionen. Der Geist der spontanen und kollektiven Experimentierlust war in den Projekten für Schulkommunen oder Kinderhäuser ebenso lebendig wie in den radikalen Ideen von der „Vernichtung der alten Schule“ und dem „Absterben der Schule“ überhaupt. Im Augenblick der bolschewistischen Machtübernahme waren die Unterschiede noch überdeckt; der erste amtliche Aufruf des neuen Volkskommissars Lunacarskij erhielt folgende Aussagen: „Die werktätigen Volksmassen, die Arbeiter, Bauern und Soldaten lechzen nach Unterricht im Lesen und Schreiben und nach allem Wissen. Sie lechzen aber auch nach Bildung. Diese kann ihnen weder der Staat noch die Intelligenz noch irgendwelche Macht außerhalb ihrer selbst geben. Schule, Buch, Theater, Museum usw. können hier nur Hilfsmittel sein. Die Volksmassen werden selbst ihre Kultur bewußt oder unbewusst ausarbeiten. (…) Der städtische Arbeiter und der auf dem Lande Arbeitende werden sich, jeder auf seine Art, ihre lichte, von dem Klassenbewusstsein des Arbeiters durchdrungene Weltanschauung schaffen. Es gibt keine erhabenere und schönere Erscheinung als die, deren Zeugen und Beteiligte die nächste Generation sein werden: das Aufbauen des eigenen, gemeinsamen, reichen und freien Seelenlebens durch schaffende, werktätige Kollektive. (…) Überall in Russland, besonders unter den städtischen Arbeitern, aber auch unter den Bauern, erhob sich eine mächtige Welle der Kultur- und Bildungsbewegung, vermehren sich zahllos die Arbeiter- und Soldatenorganisationen dieser Art; ihnen entgegenzukommen, sie auf jede Weise zu stützen, den Weg vor ihnen freizumachen, ist die erste Aufgabe der revolutionären Volksregierung auf dem Gebiete der Volksbildung.“

Auf der 1. gesamtrussischen Konferenz der „Proletkul’t“ - Organisationen  wurden die drei wichtigsten Prinzipien herausgestellt:

 

1.     die kulturell aufklärende Bewegung des Proletariats sollte einen selbständigen Platz neben seiner politischen und ökonomischen Bewegung einnehmen;

2.     ihre Aufgabe bestand in der Ausarbeitung einer proletarischen Kultur, die mit der klassenlosen Gesellschaft zu einer allgemein-menschlichen wurde;

3.     der Aufbau dieser neuen Kultur basierte auf der gesellschaftlichen Arbeit und der menschlichen Zusammenarbeit.

 

Die Sozialisierung von Bildung und Wissenschaft war das Ziel, d.h jedem einzelnen Menschen sollten die Kulturgüter und wissenschaftliche Erkenntnisse zugänglich gemacht werden: „Der Arbeiterklasse steht bevor, nicht nur das wissenschaftliche Erbe der bürgerlichen Welt zu übernehmen und umzuwandeln. Ihre historische Aufgabe, ihr soziales Ideal erfordert, daß sie im Keime der Wissenschaft etwas ganz Neues schafft. (…) Die Verwirklichung des Sozialismus bedeutet eine Organisationsarbeit von einer Weite und Tiefe, zu der noch keine Gesellschaftsklasse in der Geschichte der Menschheit berufen war. (…) Eine Wissenschaft, die vom Standpunkt der Arbeiterklasse betrieben wird, ist die gesammelte Arbeitserfahrung der Menschheit, ein Mittel der Organisation der Arbeit, ein Mittel der Organisierung des sozialen Kampfes und Aufbaues – eine Macht nicht der Person, sondern der Gesamtheit“

Eine sozialistische Gesellschaftsordnung war nicht in erster Linie durch die Übernahme technischer Errungenschaften und der bloßen Aneignung notwendiger Arbeitsfertigkeiten aufzubauen, sondern durch die Selbstorganisation des Proletariats auf dem Wege über ihre kollektiven Erfahrungen im sozialen Leben, d.h. im Produktions- und Lernprozess.

Im Unterschied dazu räumte Lenin der Bildungsarbeit unter der Bevölkerung im Sinne der Aufklärung eindeutig den Vorrang vor der Schaffung neuer proletarischer Kulturprinzipien ein. Deshalb nahm er auch zum „bürgerlichen Kulturerbe“ der Vergangenheit eine andere Stellung ein, als es die vom „Proletkul’t“ beeinflussten Strömungen in Fragen der Pädagogik und Bildung taten. Lenin schrieb: „Der Marxismus hat seine weltgeschichtliche Bedeutung als Ideologie des revolutionären Proletariats dadurch erlangt, daß er die wertvollsten Errungenschaften des bürgerlichen Zeitalters keineswegs ablehnte, sondern sich umgekehrt alles, was in der mehr als zweitausendjährigen Entwicklung des menschlichen Denkens und der menschlichen Kultur wertvoll war, aneignete und es verarbeitete.“

In seiner Rede auf dem III. Kongress des Kommunistischen Jugendverbandes erklärte Lenin im Oktober 1920: „Wir können den Kommunismus nur aus jener Summe von Wissen, Organisationen und Institutionen aufbauen, mit jenen Vorräten an menschlichen Kräften und Mitteln, die uns die alte Gesellschaft hinterlassen hat. (…) Kommunist kann man nur werden, wenn man sein Gedächtnis mit der Kenntnis aller jener Schätze bereichert, die die Menschheit erarbeitet hat.“ Weiterhin nahm er auch „das Gute, das an der alten Schule war“, gegen die radikalen Reformer in Schutz. Dieses „Gute“ bestand für ihn ebenso in der systematischen Aneignung von Kenntnissen und in der wissenschaftlichen Methode des Unterrichts wie in der Überlieferung eines bestimmten Umfangs an gesichertem Wissens. Eine moderne Bildung war für Lenin diejenige, die sich dem industriell-kollektivistischen Ideal einordnen ließ, in unmittelbarer praktischer Beziehung zum wirtschaftlichen Aufbau des kommunistischen Russlands stand sowie die heranwachsende Generation zu einem revolutionären Bewusstsein erzog.

Für die weitere Entwicklung der Sowjetunion war die ideologische Konzeption Lenins von Wissenschaft und Wissenschaftspolitik. In seinen Schriften findet sich keine zusammenhängende, systematisch entwickelte Theorie der Wissenschaft, doch lassen sich aus seinen verstreut geäußerten Ansichten bestimmte Grundzüge herleiten. Lenin ging formal und inhaltlich vom Standpunkt des Klassenkampfes aus an die Auffassung von Wissenschaft heran. Grundlegend erschien hier der am Marxismus gewonnene materialistische Wissenschaftsbegriff, den Lenin bereits im Jahre 1908 scharf gegen die bürgerliche Auffassung abgrenzte: „Von der bürgerlichen Wissenschaft und Philosophie, die von staatlich ausgehaltenen Professoren in staatserhaltenem Geist gelehrt werden, um die heranwachsende Jugend der besitzenden Klassen zu verdummen und die auf den äußeren und inneren Feind zu ‚dressieren’, braucht man erst gar nicht zu reden. Diese Wissenschaft will vom Marxismus nichts wissen. (…) Das Wachstum des Marxismus, die Verbreitung und das Erstarken seiner Ideen in der Arbeiterklasse führen unausbleiblich zu immer häufigerer Wiederkehr und zur Verschärfung solcher bürgerlicher Ausfälle gegen den Marxismus, der aber aus jeder ‚Vernichtung’ durch die offizielle Wissenschaft immer stärker, gestählter und lebenskräftiger hervorgeht.“

Lenin verstand also Wissenschaft nicht nur, im Sinne des Marxismus, an die Arbeiterklasse gebunden, sondern musste auch in ihrem Dienst stehen und zu ihrem Nutzen angewendet werden. Das bedeutete eine Aktivierung wissenschaftlicher Forschung ganz allgemein, aber auch, dass durch diese Funktion jeglicher wissenschaftlicher Tätigkeit eine bestimmte Richtung gegeben wurde, die mit Herrschaft und Gesellschaft in Zusammenhang stand: hier lagen die Anfänge der wissenschaftspolitischen Konzeption. Kurz nach der Oktoberrevolution hat Lenin diese Auffassung formuliert: „Früher war das ganze menschliche Denken, der menschliche Genius nur darauf gerichtet, den einen alle Güter der Technik und Kultur zu geben und dem anderen das Notwendigste vorzuenthalten – Bildung und Entwicklung. Jetzt dagegen werden alle Wunder der Technik, alle Errungenschaften der Kultur zum Gemeingut des Volkes, und von jetzt an wird das menschliche Denken, der menschliche Genius niemals mehr ein Mittel der Gewalt, ein Mittel der Ausbeutung sein.“

Aus dieser Äußerung geht hervor, dass für Lenin Wissenschaft niemals in der bloßen Theorie bestand, sondern immer auch zugleich in der praktischen Anwendung und Nutzung. Wissenschaft und Technik gehörten zusammen und ließen sich im Grunde nicht trennen: diese Konzeption sollte für die weitere Entwicklung der Wissenschaft und auch der Wissenschaftspolitik in der Sowjetunion zur Grundlage werden. In dem von ihm im April 1918 verfassten „Entwurf eines Planes wissenschaftlich-technischer Arbeiten“ fasste er seine Vorstellungen von der zukünftigen Aufgabe von Wissenschaft und Technik in der Sowjetunion zusammen, in dem er die „Ausarbeitung eines Planes für die Reorganisation der Industrie und den ökonomischen Aufstieg Russlands“ forderte, sich dabei auf die Akademie der Wissenschaften bezog und als wichtigste Aufgabe „eine rationelle Standortverteilung der Industrie in Russland“ nannte. Der abschließende Hinweis: „Besonders große Aufmerksamkeit für die Elektrifizierung der Industrie und des Verkehrswesens und für die Anwendung der Elektrizität in der Landwirtschaft“ leitete schon zu dem Plan zur Elektrifizierung Russlands über, der drei Jahre später endgültig Gestalt annahm.

Auf dem Gebiet der wissenschaftlichen Auslandskontakte hat sich vor allem die Akademie der Wissenschaften um einen Neubeginn bemüht. Hier lag der Schwerpunkt der angestrebten Beziehungen in Deutschland. Die Gelegenheit des 200. Gründungstages der Russischen Akademie der Wissenschaften im September 1925 wurde zu einer internationalen Feier genutzt. Es kamen 150 Wissenschaftler aus dem Ausland, darunter 30 Personen aus Deutschland. Vertreter der Preußischen Akademie der Wissenschaften war Max Planck, der im Jahre 1926 Ehrenmitglied der Akademie der Wissenschaften der UdSSR wurde. Die deutsche Teilnahme hat sich insbesondere durch die Aktivität des ehemaligen preußischen Kulturministers Friedrich Schmidt-Ott als bereichernd für die deutsch-sowjetische wissenschaftliche Zusammenarbeit ausgewirkt.

Einen großen Umfang nahmen wechselseitige Reisen zu Information und Forschung ein. Von deutscher Seite handelte es sich im Wesentlichen um Besuche von Wissenschaftlern, deren Forschung unmittelbar Russland oder die Sowjetunion betraf. Auf sowjetischer Seite lag der Schwerpunkt in den Naturwissenschaften und der Mathematik.

Eine Verbreiterung dieser Basis wurde am 08.03.1924 in Moskau durch die Gründung der sowjetisch-deutschen Gesellschaft „Kultur und Technik“ gelegt, zu deren Ehrenpräsident Albert Einstein, zu deren Vorsitzendem der stellvertretende Volkskommissar für auswärtige Angelegenheiten, B.S. Stomonjanov, berufen wurde. Der wichtigste Partner der sowjetischen Mitglieder war in Deutschland der Verein Deutscher Ingenieure (VDI) mit seinem Vorsitzenden Professor Matschoss, daneben der Deutsche Verband wissenschaftlich-technischer Gesellschaften. Um die sowjetischen Wissenschaftler über die Leistungen der ausländischen Wissenschaft zu informieren, gab die Gesellschaft einige russische Periodika mit russisch-deutschem Redaktionskollegium heraus. Die Gesellschaft „Kultur und Technik“ trug über ihre Verbindungen zu deutschen Wissenschaftlern und Technikern und ihren Organisationen vor allem zur Auswertung und Ausnutzung der deutschen Wissenschaft und Technik für den sozialistischen Aufbau bei. Das bedeutendste Ereignis dieser sowjetisch-deutschen wissenschaftlich-technischen Kooperation war eine „Woche der deutschen Technik“, die vom 7. bis 14.01.1929 von der Gesellschaft in Moskau durchgeführt wurde. Zur Intensivierung der Beziehungen wurde in Moskau mit dem Verband deutscher Ingenieure eine Vereinbarung geschlossen, die neben Publikations- und Dokumentationsaustausch der sowjetischen Seite folgende Möglichkeiten gab: „Organisation von Lektionszyklen deutscher Spezialisten in verschiedenen Industriezentren der Sowjetunion, Beschaffung von Ausbildungsmöglichkeiten für sowjetische Spezialisten in Deutschland, technische Konsultationen für die UdSSR.“

Es fanden zweimal monatlich „Tage der deutschen Technik“ statt, zu denen deutsche Wissenschaftler in die Sowjetunion reisten. Insgesamt wurden in den Jahren 1929 und 1930 57, im Jahr 1931 allein 55 Vorträge gehalten.

Zusammengefasst finden sich die allgemeinen bildungspolitischen Grundsätze der bolschewistischen Partei in dem Programm der RKP (B), das auf dem VIII. Parteikongress im März 1919 angenommen wurde und formell bis zur Neufassung des Parteiprogramms im Jahre 1961 galt. Die wichtigsten Forderungen lauteten:

 

1.     Allgemeine und polytechnische Bildung sowie Verbindung von Unterricht und Produktionsarbeit für alle Kinder und Jugendlichen bis zum 17. Lebensjahr;

2.     Schaffung eines breiten Netzes von Vorschuleinrichtungen zum Zwecke der Verbesserung der gesellschaftlichen Erziehung und der Emanzipation der Frau;

3.     Ausbau der beruflichen Ausbildung und Errichtung zahlreicher außerschulischer Bildungseinrichtungen für Erwachsene,

4.     Eröffnung eines breiten Zugangs zu den Hochschulen, besonders für die Arbeiter.

 

Die Schule und alle anderen Erziehungs- und Bildungseinrichtungen sollten „aus einem Werkzeug der Klassenherrschaft der Bourgeoisie in ein Werkzeug der vollständigen Aufhebung der Klasseneinteilung in der Gesellschaft, in ein Werkzeug der kommunistischen Umgestaltung der Gesellschaft“ verwandelt werden. Besonders die Bildungseinrichtungen erhielten eine zentrale gesellschaftspolitische Funktion zugewiesen: „In der Periode der Diktatur des Proletariats (…) muß die Schule nicht nur die Prinzipien des Kommunismus im allgemeinen, sondern auch den geistigen, organisatorischen und erzieherischen Einfluß des Proletariats auf die halbproletarischen und nichtproletarischen Schichten der werktätigen Masse verwirklichen, um eine Generation zu erziehen, die fähig ist, den Kommunismus endgültig zu errichten.“

Es galt die These, dass es „im Grunde keine Wissenschaft und keine technischen Fertigkeiten gibt, die nicht in Beziehung zur Idee des Kommunismus oder zum kommunistischen Aufbau stehen.“ Die marxistische Ideologie wurde deshalb als unentbehrliches Moment der Erziehung und Volksbildung bezeichnet.

In diesem geistigen und politischen Führungsanspruch der kommunistischen Partei gegenüber Schule, Erziehung, Wissenschaft und Volksbildung liegt eine der wichtigsten Konstanten der sowjetischen Bildungspolitik seit der Oktoberrevolution. Während sich die traditionelle Form der staatlichen Oberhoheit über das Bildungswesen in den letzten Jahrzehnten des Zarenreiches immer weiter auflockerte und der freien gesellschaftlichen Initiative zunehmend Raum gab, unterband der neue revolutionäre Etatismus bald alle unabhängigen Bildungsbestrebungen im Namen der universellen kommunistischen Ideologie.




[1] Hessen, S./Hans, N.: Fünfzehn Jahre Sowjetschulwesen, Langensalza 1933, S. V

[2] Vgl. dazu Bogdanov, A.: Die Wissenschaft und die Arbeiterklasse, Frankfurt/M. 1971

[3] Hegel, G.W.E.: Phänomenologie des Geistes, Frankfurt/M. 1986, S. 154

[4] List, E./Studer, H. (Hrsg.): Denkverhältnisse. Feminismus und Kritik, Frankfurt/M. 1989, S. 76ff

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