Fremdheit bei Simmel

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Der Soziologe Simmel setzte sich mit Fremdheit auseinander. Simmel erfasst die soziologische Kategorie des Fremden mit der Gleichzeitigkeit von Nähe und Ferne. Aufgrund dieser Gleichzeitigkeit und als Produkt davon werden dem Fremden Eigenschaften wie Beweglichkeit, Objektivität und ein abstraktes Wesen zugeschrieben.

Simmel wurde vor allem durch die Völkerpsychologie von Moritz Lazarus und Heymann Steinthal, die Evolutionstheorie Herbert Spencers, den Neukantianismus und  den Positivismus Wilhelm Diltheys geprägt.

Simmel erfasst die soziologische Kategorie des Fremden mit der Gleichzeitigkeit von Nähe und Ferne. Aufgrund dieser Gleichzeitigkeit und als Produkt davon werden dem Fremden Eigenschaften wie Beweglichkeit, Objektivität und ein abstraktes Wesen zugeschrieben.

Simmel wurde vor allem durch die Völkerpsychologie von Moritz Lazarus und Heymann Steinthal, die Evolutionstheorie Herbert Spencers, den Neukantianismus und  den Positivismus Wilhelm Diltheys geprägt.

1876 nimmt Georg Simmel das Studium der Geschichte, Völkerpsychologie, Philosophie und Kunstgeschichte an der Königlichen Friedrich-Wilhelms-Universität in Berlin auf, das er 1881 mit einer Promotion abschließt. 1885 habilitiert er sich und beginnt kurz darauf mit seiner Lehrtätigkeit zunächst als Privatdozent später als außerordentlicher Professor. An der Universität Straßburg lehrt er von 1914 bis 1918 am Lehrstuhl für Philosophie. Das Leben in der Weltstadt Berlin hat ihn zeitlebens geprägt: „Das Milieu der Jahrhundertwende beeinflusst Simmels Denken, seinen Lebenstil und sein öffentliches Engagement maßgeblich. Nicht nur ist es die ‚Großstadt‘ einer seiner bevorzugten soziologischen Untersuchungsgegenstände, sondern Berlin wirkt auf ihn auch durch seine bildungsbürgerlichen Kreise, politischer Gruppen und Zeitgeistströmungen.“[1] Zusammen mit Max Weber, Werner Sombart und Ferdinand Tönnies forcierte Simmel die Soziologie als eigenständige empirische Wissenschaft und die Institutionalisierung der Soziologie in der Gesellschaft.

Simmels Bestimmung der Kultur der Moderne ist ein wichtiger Punkt in seiner Philosophie gewesen. In seinen Schriften zur Kulturphilosophie und in seinen zahlreichen ästhetischen Einzelanalysen entwickelt Simmel ein pluralistisches Kulturmodell, dem zufolge die empirisch vorfindliche Kultur als Pluriversum in sich geschlossener Kulturwelten verstanden wird. Er wendet sich damit gegen ein monistisch verstandenes Kultursystem und vertritt eine interkulturelle Weltsicht: „Damit wird der idealistischen Vorstellung von einem integralen Kultursystem ebenso eine Absage erteilt wie aktuellen Vorstellungen von einer alles einenden übergeordneten oder vorgeblich leitenden Kulturidee, trete sie nun in philosophisch verbrämter oder politisch instrumentalisierter Form auf. (…) Das Moment der Fremdheit ist damit kein Phänomen, das lediglich zwischen den Vertretern verschiedener Länder ( so genannter Kulturkreise) aufträte, vielmehr bringt gerade der Stil des modernen Lebens und die damit einhergehende Auflösung bestehender sozialer und kultureller Bindungen eine Situation mit sich, in der sich das Individuum zunehmend als Schnittpunkt mehrerer Kulturen erlebt.“[2] Simmel vertritt die These, dass Interkulturalität innerhalb unserer gewohnten Lebenswelt immer schon die Grunderfahrung moderner Gesellschaftsformen darstellte.

Bei Simmel ist das Verhältnis von Leben und Kultur respektive Selbstbewusstsein als Verhältnis de Emergenz zu verstehen. Hierauf zielt insbesondere Simmels Begriffspaar „Mehr Leben“ und „Mehr als Leben“ ab: „Wie das Leben auf seiner physiologischen Stufe ein fortwährendes Erzeugen ist, so daß, mit komprimiertem Ausdruck, Leben immer Mehr-Leben ist -, so erzeugt es auf der Stufe des Geistes etwas, das Mehr-als-Leben ist: das Objektive, das Gebilde, das in sich Bedeutsame und Gültige.“[3] Die Grunddynamik von Kultur ist also im doppelten Sinne zu verstehen: Indem Leben immer schon, und zwar auf seiner physiologischen Stufe, Steigerung seiner selbst ist, „erzeugt es auf der Stufe der Kultur etwas, das über den Bereich des rein Vitalen qualitativ hinausgeht, auf diesen nicht reduzibel ist und auf dessen Basis nicht vorhergesagt werden kann.“[4]

Die Kritik der absoluten Kulturidee Herders und Hegels und die damit einher gehende Pluralisierung des zuvor universalen Kulturbegriffs ist für Simmel von zentraler Bedeutung. Kultur versteht er als ein Pluriversum in sich geschlossener Kultur-Welten (Kunst, Religion, Wissenschaft, Technik, Wirtschaft, Recht). Dieser Begriff der Welten bezeichnet erstens ein in sich einheitliches oder in sich geschlossenes Gebilde bezeichnet, das zweitens prinzipiell unabgeschlossen ist. Seine Kulturphilosophie muss deshalb von der Deskription und Analyse des kulturhistorisch Vorfindlichen ausgehen, wobei weder sind die Kulturwelten noch jede für sich aus einer zugrunde liegenden Kulturidee verständlich ist.[5]

Nun stellt sich Simmel dem Problem der notwendigen Unvollständigkeit der Kulturinhalte wie folgt: „Wenn wir von ,Welt‘ sprechen, so meinen wir einen Gesamtumfang, von dem uns nur ein verschwindender Teil seiner Inhalte zugänglich ist – was gar nicht anders zu erklären ist, als daß wir irgendwie in Besitz einer Formel sind, die auch das Nichtbekannte dem Bekannten hinzuzufügen gestattete, so daß es mit diesem eben zu der Einheit einer Welt zusammenginge. Welt im vollen Sinne ist also eine Summe von Inhalten, die vom Geiste aus dem isolierten Bestande jedes Stückes erlöst und in einen einheitlichen Zusammenhang gebracht ist, in eine Form, die Bekanntes und Unbekanntes zu umschließen imstande ist.“[6]

Er vertritt die These von der strukturellen Vergleichbarkeit aller menschlichen Weltaneignungen in interkultureller Perspektive. Kulturelle Bedeutungszuweisungen stellen demnach die Dimension der menschlichen Orientierung in der Welt dar. Mit der strukturellen Vergleichbarkeit auf der angesprochenen Ebene können starke Inkommensurabilitätsthesen, also Behauptungen über die prinzipielle Unvergleichbarkeit der Kulturen, entkräftet werden.

Zudem lässt sich mit der These von der grundlegenden Kulturalität auf eine faktisch immer schon vorliegende Multi- und Interkulturalität aller existiernden Kulturen hinweisen. Jede halbwegs entwickelte Kultur weist eine interne Differenzierung, zumindest eine Dimensionierung auf.

Es existiert keine Geschlossenheit der eigenen Kultur, weil Identität schon immer als individueller Rekombinationsprozess abläuft, der durchaus Brüche oder Umdeutungen auch der eigenen Lebensgeschichte beinhalten kann. Kulturen stellen keine homogenen Gebilde dar, sondern sind immer schon plural und durchaus teils widersprüchlich dimensioniert.

Der Mensch ist laut Simmel im Besitz impliziter prozeduraler Vorschriften, mit deren Hilfe sich bestimmen lässt, welche Inhalte in welcher Kulturwelt wie geformt zu haben sind. Die Summe dieser Vorschriften bezeichnet Simmel als Formung. Diese besteht zunächst in einer Vereinheitlichung, d.h. es wird eine Kontinuität zwischen den disparaten Inhalten einer jeden Welt gestiftet. Daraus erwächst „die Welt in der Form der Kunst, in der Form der Erkenntnis, in der Form der Religion.“[7] Jede dieser Welten sagt „den ganzen Weltstoff in ihrer besonderen Sache“ aus, jeder inhäriert ihre „innere sachliche Logik, die (…) den schöpferischen Geist an ihre objektive Gültigkeit bindet“. Jede Welt stellt einen „selbstgenügsamen, von innen her zusammengehaltenen Bestand“ her.[8]

Die Formung ist damit als zentrale Bedingung der Möglichkeit von Erkenntnis überhaupt. Simmel vertritt die Theorie der Parallelität der Kultur-Welten, d.h. in der Koordinierung der als eigenständiger und autonomer Bereich konstituierten Disziplinen: „Es handelt sich nur darum, daß diese Welten ideell bestehen, notwendig oder nicht, und daß sie, als Welten, der der Wirklichkeit koordiniert sind. (…) Jeder gegenständliche Bewußtseinsvorgang gehört seinem Inhalt nach in eine dieser Welten.“[9] Auf diesen Annahmen gründet sich das analogisierende Verfahren Simmels. Dies besagte, dass jede einzelne dieser Kultur-Welten bleibt als solche immer fragmentarisch bleibt. Der Sinn und die qualitative Eigenart jedes Kulturphänomens kann innerhalb jeder dieser Welten immer nur unvollständig geklärt werden und werden erst sichtbar, wenn es unter veränderter Perspektive als Gestaltung und Objekt einer anderen Kultur-Welt betrachtet wird.

Somit ist kultureller Austausch dann erfolgreich, wenn er soziale und alltagspraktische Probleme, die aus der Begegnung entstehen, aufzulösen hilft und im Idealfall zu einer Weiterentwicklung der symbolischen Möglichkeiten und des eigenen Handlungsspielraumes führt. Kulturkontakt und gelingende Aneignung bislang unbekannter Strukturen ermöglicht so die Entwicklung neuer Perspektiven und kann zur Ausweitung der medialen Möglichkeiten symbolischer Repräsentation führen. Das Gelingen und Misslingen des Kulturkontakts hängt davon ab, ob es den beteiligten Individuen gelungen ist, neue disparate Bestimmungsstücke in das eigene Selbst- und Weltverständnis zu integrieren und dann pragmatisch Kommunikation zu etablieren und Diversität zuzulassen.

Die Voraussetzung eines interkulturelles Denkens im Sinne einer offenen Kommunikation ist dann gegeben, wenn die Kommunizierenden den Schritt hin zum Bewusstsein der Kulturalität der eigenen Kultur getan haben und nicht auf ihren eigenen Absolutheitsanspruch beharren und bereit sind, Neues in sich aufzunehmen.  Bei der Bewertung der eigenen wie der anderen Kultur geht es nicht darum, die eigenen Maßstäbe auf fremde Konstellationen zu übertragen; für Simmel sind alle symbolischen gleichwertig. Die Grenze des Eigenen zu begreifen und für Neues empfänglich zu sein, wird dadurch erst möglich.

Fremdheit ist für Simmel nicht negativ besetzt im Sinne eines den Kulturprozess störenden Elementes. Fremdheit wird auf der Grundlage von Simmels Kulturtheorie in zweierlei Hinsicht als ein wesentliches und die Kultur konstituierendes Moment verstanden.

1) Kultur liegt dann vor, wenn eine subjektive Gestaltung in einen bereits bestehenden, objektiven Kulturkontext hineingestellt wird. Dabei findet eine Distanzierung des Verhältnisses des Produzenten zu seinem Produkt statt, ohne die Kultur nicht in einem positiven Sinne zu denken wäre. Bereits die Entfremdung zwischen Produzenten und Produkt stellt damit ein wesentliches Element des Kulturprozesses dar.

2) Dieser immer schon bestehende objektive Kulturkontext liegt nicht in der Form einer universalen Kultur vor, sondern auf die Weise entgegengesetzter, doch in sich kohärenter Kulturwelten, als kulturelles Pluriversum.

In seinem „Exkurs über den Fremden“ versucht Simmel, den Fremden über sein Handeln bezogen auf eine soziale Gruppe zu definieren. Der „Fremde“ ist dann jener, der „heute kommt und morgen bleibt.“[10] In seiner Soziologie des Raumes sind „Fremde“ diejenigen, „die heute kamen und morgen gingen“.[11] Mit seinem Begriff des Fremden ist sein Konzept sozialer Wechselwirkung eng verbunden. Simmel startet den Versuch, den Fremden in Relation zu sozialen Gruppen zu setzen. In der Soziologie des Raumes unterscheidet er soziale Gruppen und ihre Bewegung bzw. ihr Verharren im Raum und die Frage, ob die Gruppe als ganze wandert bzw. ob einzelne wandern, während die Gruppe ansässig ist, und wie sich die Relation zwischen beiden entwickelt.

Dabei interessiert Simmel nicht die Perspektive des Wanderns, sondern die Bedeutung des Wanderns und der Wandernden. Durch diese Vorgehensweise wird der Fremde nicht entsprechend bestimmter ihn vermeintlich innewohnenden Eigenschaften charakterisiert. Simmel legt stattdessen den Fokus auf die Tatsache, dass er in Relation zu einer sozialen Gruppe und ihrem Handeln bestimmt wird.

Der Fremde ist das in der Gesellschaft integrierte Prinzip des Anderen, durch den der Moment der Selbstreflexion der Kultur und eine Selbstdefinition der eigenen Gruppe überhaupt erst ermöglicht werden. Gerade aus dieser Position leite sich die durch Distanz ermöglichte Objektivität des Fremden ab. Objektivität bedeutet in diesem Zusammenhang nicht die Form der Nichtteilnahme, sondern im Gegenteil eine „positiv-besondere Art der Teilnahme“.[12] Voraussetzung für diese Form von Objektivität ist nicht nur die Distanz des Fremden zur Gruppe oder zum Staat, in der er lebt, sondern die Auflösung lebensweltlicher Referenzen überhaupt: „Der Fremde ist eben seiner Natur nach kein Bodenbesitzer, wobei Boden nicht nur in dem physischen Sinne verstanden wird, sondern auch in dem übertragenen einer Lebenssubstanz, die, wenn nicht an einer räumlichen, so an einer ideellen Stelle des gesellschaftlichen Umkreises fixiert ist.“[13]

Der Fremde wird nicht als Individuum, sondern als Typus erkannt und damit homogenisiert: „Der Fremde ist uns nah, insofern wir Gleichheiten nationaler oder sozialer, berufsmäßiger oder allgemein menschlicher Art zwischen ihm und uns fühlen; er ist uns fern, insofern diese Gleichheiten über ihn und uns hinausreichen und uns beide nur verbinden, weil sie überhaupt sehr Viele verbinden. In diesem Sinne kommt leicht auch in die engsten Verhältnisse ein Zug von Fremdheit.“[14]

Aus dieser reduzierten Wahrnehmung des Fremden leiten sich schließlich auch die Entstehung von Stereotypen und Vorurteilen ab. Der Fremde wird nicht als Individuum, sondern in homogenisierender Weise als Angehöriger bestimmter kultureller Kontexte, dem deviante unveränderliche Eigenschaften zugeschrieben werden. Dies bewirkt, dass „individuelle Gemeinsamkeiten zwar wahrgenommen, aber nicht als Privatbesitz gerade dieser zwei Individuen, sondern als potentielle Gemeinsamkeit einer prinzipiell unbeschränkten Anzahl von Individuen erlebt werden“.[15] Hierin besteht die prinzipielle Fremdheit des Fremden.

Simmels Ansatz vertritt nicht in erster Linie die Forderung nach einer Offenheit und Toleranz im interkulturellen Dialog, sondern die These, dass diese Offenheit immer schon ein unverzichtbares, impliziertes Merkmal des modernen Pluriversums darstellt hat, darstellt und darstellen wird.

Für Simmel lieferte die Geschichte der europäischen Juden das beste Beispiel für den Typus des Fremden, der nah und doch fern, dazu gehört und doch auch nicht dazugehört. Im 19. Jahrhundert wurde die jüdische Minderheit einem starken Assimilationsdruck durch die Mehrheitsgesellschaft ausgesetzt. Ein Identitätsangebot, zum Beispiel preußischer Staatsangehöriger und Jude sein zu können, gab es nicht. Im ländlichen Bereich gab es eine Form der Koexistenz, aber in den urbanen Lebensbereichen gab es nur die Alternative zwischen Assimilation und Abgrenzung für Bürger jüdischer Herkunft.

Daran schloss sich auch Zygmund Bauman in seiner Forschung über Fremdheit an. Besonders die Moderne produziert nach laut Zygmunt Bauman aufgrund seines Homogenisierungswillens das Fremde und verfügt auch nur über begrenzte Strategien des Umgangs damit: Ausschluss oder Assimilation. Denn das oder der Fremde als das Unbestimmbare, Unentscheidbare, sich der Einordnung Entziehende und zugleich im Gegensatz zu früheren Zeiten Allgegenwärtige, lässt sich nur, wenn man die Fremden nicht entfernen, separieren, isolieren oder negieren kann, mit Zwang oder verlockenden Versprechungen assimilieren. Die Moderne hat mit ihrem radikalen Willen zur Klassifikation und Ordnung, ihrer entsprechenden Suche nach Eindeutigkeit die Abwehr des Fremden als des schlechthin Uneindeutigen befördert und schließlich die Vernichtung des Fremden implizit beigetragen.

Bauman stützte sich besonders auf die Erfahrungen des Antisemitismus und des Holocausts. Er sieht die Fremdheit als Systemeffekt und abhängig von jeweiligen Ordnungskonzepten: „Alle Gesellschaften produzieren Fremde, doch jeder Gesellschaftstyp seine eigene Art und auf eigene unnachahmliche Weise.“[16] Am Ende des 20. Jahrhunderts entwickelte sich eine Situation, in der das Innen-Außen-Schema, mit der andere Lebensweisen abgewiesen werden konnten, nicht mehr funktionierte, so dass Fremdheit allgegenwärtig wurde. Der Fremde fügte sich laut Bauman nicht dem Innen-Außen-Schema, sondern galt als Inbegriff des Ambivalenten, des „Unendscheidbaren“.[17] Konnten früher Regierungen oder andere Institutionen Fremden ihren sozialen Ort zuweisen, so gelingt dies in der und der kosmopolitanischen Einwanderungsgesellschaft nicht mehr.

Ottfried Schäffter, Erziehungswissenschaftler an der Humboldt-Universität Berlin, betont, dass Fremdheit keine am anderen festzumachende Eigenschaft, sondern ein Beziehungsmodus ist, der abhängig ist vom eigenen „Ordnungskonzept“. Unter diesen Begriff fallen Persönlichkeitsstrukturen, individuelle Selbstbeschreibungen, gesellschaftliche Systeme wie auch Weltbilder. Er unterscheidet vier Typen des Fremderlebens: „´Fremdheit als Resonanzboden des Eigenen“, „Fremdheit als Gegenbild“, „Fremdheit als Ergänzung“ und „Fremdheit als Komplementarität“. Letzterer ermöglicht eine übergreifende Ordnungsstruktur, in dem sich das Eigene und das Fremde wechselseitig bestimmt und relativiert.[18]

Mit seinem posthum veröffentlichten Werk „Die Peripheren. Ein Kapitel Soziologie“, das 1939 in Amsterdam erschien, schloss Ernst Grünfeld konstruktiv an den „Exkurs über den Fremden“ von Georg Simmel an. Damit leistete er den ersten deutschsprachigen Beitrag zu Forschungen über den „marginal man“, die von Robert Ezra Park ausgegangen waren.[19] Grünfeld unterteilt die Peripheren in zwei Gruppen, die der Fremden und der (nichtfremden) Ausgesonderten. Ob Fremde oder Ausgesonderte als Randseiter oder Außenseiter zu beschreiben sind, sei eine „Frage der Distanz zum Gebilde, von dem oder zu dem eine neue Distanz gewonnen wurde.“[20] in seiner Untersuchung betonte er insbesondere die Erfahrung des Ausgesondertseins: „Wer solche Erlebnisse hinter sich hat, ist, wenn er nicht ganz stumpfsinnig ist, natürlich ein anderer Mensch geworden. Den einen erhebt so ein Erlebnis, den anderen drückt es nieder. Aber das Merkmal des aussondernden Erlebnisses wird sobald nicht aus der Seele des Peripheren getilgt werden können.“[21]

De Singly führt auf der Grundlage von Simmels Fremdheitsbild das Konstrukt der Identität ein. Um sich der eigenen Identität bewusst zu werden, erfordert es nach De Singly eines entgegengesetzten Anderen, das einem das eigene Ich vor Augen führt. Identität konstruiert sich demnach nicht nur durch Selbstbezug sondern baut sich auch auf der Konfrontation mit dem Andern auf. Kulturelle Identität entsteht also aus der diskursiven Konstruktion des „Eigenen“, die durch den Gegensatz zu einem wirklichen oder bloß vorgestellten „Anderen“ hervorgerufen wird. Dieser Vorgang ist stark von Gefühlen geprägt, wobei das Eigene ein Sicherheits-, Geborgenheits- und Heimatgefühl vermittelt. Gegenüber dem „Anderen“ oder dem „Fremden“, das oft erst im Prozess der Bildung von Identität als solches definiert wird („Othering“), Othering beschreibt den Prozess, sich selbst und sein soziales Image hervorzuheben, indem man Menschen mit anderen Merkmalen als andersartig, „fremd“ klassifiziert. Es findet also eine betonte Unterscheidung und Distanzierung von „den Anderen“ statt, sei es wegen des Geschlechts, der Religions­zugehörigkeit, der ethnischen Zugehörigkeit, der Nationalität, der sozialen Stellung innerhalb einer Gesellschaft, wie z. B. der Klassenzugehörigkeit, der Ideologie, der Spezies oder auch vermeintlicher biologischer Unterscheidungskriterien zwischen Menschen.

Durkheim beschreibt die Identität nicht ohne Grund als zweigeteilt: Als die eigene, persönliche Art und Weise: die Charakterzüge, Erbgut und persönliche Erfahrungen umfasst und das gesellschaftliche Sein, welches den Werten und Normen der Zugehörigkeitsgruppen entspricht. In der Regel besteht zwischen der individuellen und der kollektiven Identität eine Wechselwirkung, da die Zugehörigkeit zu einer Gruppe und deren Identitätsmerkmale auf das eigene Individuum zurückwirkt. Zugleich entwickelt sich aus den individuellen Identitäten die kollektive Identität. Um das Selbstwert-Gefühl zu steigern und Kognitive Dissonanz abzubauen, werden positive Eigenschaften der Eigengruppe überbetont, negative heruntergespielt. Die Zugehörigkeit zur Eigengruppe führt zu einem Wir-Gefühl, also Vertrautheit, Sympathie und Kooperationsbereitschaft der einzelnen Gruppenmitglieder. Kollektivbewusstsein ist ein soziologischer Begriff der Durkheim-Schule für die geistigen Eigenschaften und Werte einer Gesellschaft, die sich u. a. in Systemen wie Moral, Recht, Gewohnheiten, Sprache, Gewissen, Wissen äußern.

Mit der Feststellung von essentiellen Eigen- und Fremdmerkmalen geht teilweise auch die Zuordnung von eigenen und fremden Lebensräumen einher. Durch diese Vorstellung von wesenhaften eigenen und fremden Gruppen und ihren „Lebensräumen“ kann die Person verschiedenste gesellschaftliche Veränderung – wie z. B. Wanderungsbewegungen – in seiner Weltsicht unabhängig ihrer empirischen Messbarkeit in ein Szenarium der Bedrohung verwandeln und es als solches wahrnehmen. Hinzu kommt, dass eine Beschreibung des Anderen vom Diskurs des Selben aus immer auch einen Macht- und Ausschließungsmechanismus beinhaltet. war gibt es wie in jeder Gesellschaft so auch hier ordnende Prinzipien tradierter Art. Sie beziehen ihre Kraft aus Weltanschauungen, Ideologien oder Religionen, aus früher vereinbarten Übereinkünften, Gesetzen und Normen, die daraus resultieren, Werten, die ehemals galten und normative Kraft entfalteten und die bis heute eine latente, weil unbefragte Gültigkeit haben.

Irenäus Eibl-Eibesfeldt deutet die Abwehr des Fremden beziehungsweise als fremd Empfundenen sowie die sich historisch unterschiedlich darstellende Abgrenzung von Gruppen als anthropologisches Erfordernis zur Aufrechterhaltung einer stabilisierenden Gruppennorm. Irinäus Eibl-Eibesfeldt ist ein österreichischer Verhaltensforscher und ein Schüler von Konrad Lorenz. Er betrieb umfangreiche Forschungen zur Ethologie und Humantheologie, die er als selbständigen Forschungszweig begründete. Von 1951-1969 arbeitete er am Max-Planck-Institut für Verhaltensphysiologie, 1963 erfolgte seine Habilitation an der Universität München, wo er 1970 eine Professur für Zoologie antrat.

Er betrieb umfangreiche ethologische Forschungen in Afrika, Südamerika und Ostasien, wo er besonders „angeborene“ Verhaltensweisen untersuchte. Er leitete die Forschungsstelle für Humanethologie in Andechs bei München und gründete 1992 das Ludwig-Boltzmann-Institut für Stadtethologie in Wien, das er zusammen mit Karl Grammer leitet. Eibl-Eibesfeldt favorisiert einen „biologischen Reduktionismus“, indem er Erkenntnisse aus der Verhaltensforschung an Tieren eins zu eins auf den Menschen überträgt.[22] Eibl-Eibesfeldt betrieb eine „Universalien-Forschung“ des angeborenen als auch Teile des kulturellen Verhaltens des Menschen. Darunter verstand er das Bedürfnis nach kultureller Besonderheit, Identifikation und Abgrenzung, Mythenbildung, Indoktrinierbarkeit auf Gruppenwerte und Ausbildung von Sonderformen ebenso wie die elementaren Emotionen und Verhaltensweisen der Angst, Freude und Trauer, Liebe und Hass.“[23]

In methodischer Hinsicht übernimmt die Humanethologie Verfahrensweisen, aus Feldbeobachtungen statistisch auswertbare Datensätze zu erstellen (Dokumentation und Beschreibung), eine vergleichend morphologische Betrachtungsweise sowie experimentelle Ansätze. Drei Forschungsfelder sind dabei besonders hervorzuheben: die Erforschung von Menschen im frühen Kindesalter, von Kindern mit Erfahrungsdeprivation (Blinde, Taubblinde) sowie des menschlichen Sozialverhaltens im Kulturvergleich.

Während zahlreicher Forschungsaufenthalte in Afrika, Südamerika und Ostasien untersuchte er das allgemeine menschliche Verhalten und „angeborene“ Verhaltensweisen im Besonderen.

Immer wieder wird Eibl-Eibesfeldt vorgeworfen, rassistischen Thesen eine wissenschaftliche Unterstützung zu geben, um sie als glaubwürdig in der Mitte der Gesellschaft zu verankern. Eibl-Eibesfeldt geht davon aus, Erkenntnisse aus der Verhaltensforschung  an Tieren mitunter auf den Menschen zu übertragen, was als biologistischer Reduktionismus bezeichnet wurde. Seine These, dass eine dem Menschen angeborene „Fremdenfurcht“ existiere, sorgte für Empörung und Gegenreaktionen.

Eibl-Eibesfeldt leitet aus seinen Forschungen den Anspruch ab, biologisch fundierte ethische Normen zu propagieren und aus diesem Fundus politische Handlungsanweisungen zu schaffen. Laut Eibl-Eibesfeldt sind die Menschen mit „angeborenen verhaltenssteuernden Programmen“ ausgerüstet, die die Wahrnehmung, das Denken und Handeln entscheidend beeinflussen würden. Er spricht von einem „stammesgeschichtlichen Erbe“, das sich in den letzten zehntausend Jahren nicht verändert hätte: „Diese Programme entwickelten sich in jener langen Zeit, in der unsere Vorfahren auf altsteinzeitlicher Entwicklungsstufe als Jäger und Sammler in Kleinverbänden lebten.“[24]

Für Eibl-Eibesfeldt gehört auch das Machtstreben zum „stammesgeschichtlichen Erbe“ der Menschheit: „Eine solche Problemanlage, die leicht zum Stolperstrick wird, ist unser Streben nach Macht und Ansehen. Es ist wohl ein recht altes Erbe, denn die meisten in Gruppen lebenden Säugetiere bilden Rangordnungen. Das äußert sich bei niederen Säugern in der Ausbildung von Dominanzstrukturen. Ranghohe Tiere werden jene, die sich anderen gegenüber durch physische Kraft und Geschick gewaltsam durchsetzen können. Sie gewinnen Vortritt zu beschränkten Ressourcen. (…) Fremden gegenüber neigt der Mensch (…) dazu, die Ellenbogen zu gebrauchen und Dominanz auszuüben. Auch Politiker, die in einem demokratischen Verfahren in Führungspositionen gewählt wurden, fallen leicht den Verführungen der Macht anheim. (…) Das Machtstreben ist nun deshalb so problematisch, weil es sich dabei um einen Antrieb handelt, der keine abschaltende Situation kennt. Anders als bei Hunger, Durst oder Sex, die gegen Übertreibung durch Mechanismen der Sättigung abgesichert sind, gibt es beim Machtstreben keine Sättigung und keine abschaltende Endsituation. Im Gegenteil.“[25]

Auf der biologischen Ebene sei auch der Mensch in der heutigen Gesellschaft an ein Leben in territorialen Kleingruppen angepasst, die sich von anderen abgrenzen würden. Die Drei-Generationen-Familie bildet laut Eibl-Eibesfeldt den Kristallationskern solcher Gemeinschaften.

Eibl-Eibesfeldt bemerkte: „Zunächst einmal ist es wichtig, sich darüber klar zu werden, daß wir Menschen mit angeborenen verhaltenssteuernden Programmen ausgerüstet sind, die Wahrnehmen, Denken und Handeln in ganz entscheidender Weise mitbestimmen. Diese Programme entwickelten sich in jener langen Zeit, in der unsere Vorfahren auf altsteinzeitlicher Entwicklungsstufe als Jäger und Sammler in Kleinverbänden lebten. In den letzten zehntausend Jahren haben wir uns biologisch nicht geändert=stammesgeschichtliches Erbe. Ein Patriotismus in Form einer kritischen Liebe zum eigenen Volk kann sich durchaus mit Wertschätzung und freundlicher Anerkennung anderer verbinden. (….) Auch wir neigen dazu, uns in Gruppen zusammenzuschließen und von Fremden abzugrenzen. Wir reagieren auf Mitmenschen, die wir nicht kennen, deutlich andere als auf uns gut bekannte. Das ist bereits beim Säugling so, der im Alter von 6 bis 8 Monaten „Fremdenfurcht“ zeigt, auch wenn ihm nie Böses von Fremden widerfuhr. (…) Kinder aller daraufhin untersuchten Kulturen verhalten sich so, als wären Fremde potentiell gefährlich, eine Annahme, die sich offenbar in der Phylogenese bewährte. (…) Die Stärke der Fremdenscheu hängt ferner davon ab, wie ähnlich die fremde Person den eigenen Bezugspersonen ist. Nach Untersuchungen des Amerikaners Feinman fürchten sich Negerkinder mehr vor fremden Weißen als vor Fremden der eigenen Rasse. Ganz analog verhält es sich mit der Fremdenscheu weißer Kinder.[26]

Weiterhin heißt es bei ihm: „Bemerkenswert bleibt das Mißtrauen, das zunächst uneser Verhalten gegenüber Fremden kennzeichnet. Dieses Vorurteil schafft die Bereitschaft, vom Fremden vir allem das Negative wahrzunehmen, gewissermaßen als Bestätigung des Vorurteils. (…) Über Indoktrination kann die Fremdenscheu zum Fremdenhaß werden. (…) Jede Kultur pflegt und tradiert eigene Subsistenzstrategien, eigene Formen der Lebensführung, eigene Varianten der Kunst, und das stellt sowohl eine Bereicherung des Kulturbesitzes unserer Gattung dar als auch eine Absicherung für das Überleben durch Schöpfung von Vielfalt. Kultur wiedrholt hier auf anderer Ebene schöpferisch, was Natur auf der Ebene der Artenbildung schuf. Vielfalt dient der Absicherung. Eine Monozivilisation würde die Anpassungsbreite der Menschheit einschränken, ganz abgesehen von dem mit der Einschmelzung der Differenzierungen verbundenen Werteverlust. Das Leben drängt nach Differenzierung auf der biologischen wie auf der kulturellen Ebene. Menschen haben ein Bedürfnis, sich mit dem kulturellen Erbe der Gemeinschaft, in die sie hineingeboren werden, zu identifizieren, dieses Erbe weiterzugeben und zu erhalten. Fühlt sich eine Ethnie von einer anderen bedrängt, dann neigt sie dazu, in Kontrastbetonung ihre Eigenart hervorzuheben und sich notfalls sogar aggressiv abzugrenzen. (…) Auch innerhalb eines Staates können verschiedene Völker, die lang eingesessen und damit territorial verwurzelt sind, in Freundschaft neben- und miteinander leben, vorausgesetzt, daß sie ihre territoriale Integrität und Selbstverwaltung garantiert sind und auch von Mehrheiten in der Gesamtregierung nicht gefährdet werden. (…) Ein Zusammenleben verschiedener Ethnien in einem Staat funktioniert nur, wenn die Minoritäten territorial verankert sind und sich selbst verwalten bzw. ihre Geschicke lenken können. (…) Kommt nämlich der Aufbau von Minoritäten durch Immigration in einem bereits von einer Ethnie (Nation) bewohnten Land zustande, dann liegt eine völlig andere Situation vor. Die Einwanderer werden dann als Landabnehmer wahrgenommen. Sie nehmen mit ihrer Niederlassung auf Dauer die kostbarste Ressource, die einem Volk zur Verfügung steht, in Anspruch, nämlich das Land. Sie werden daher als Eindringlinge erlebt, und das löst geradezu automatisch territoriale Abwehrreaktionen aus, und zwar dann, wenn keine Assimilation stattfindet und die Gruppen sich voneinander abgrenzen, was Nichtverwandte sehr unterschiedlichen kulturellen Hintergrundes ja auch zu tun pflegen. (…) Gestattet ein Volk anderen freie Immigration und den Aufbau von Minoritäten, dann tritt es Land ab und lädt sich zwischenethnische Konkurrenz im eigenen Lande auf. Das kann bei unterschiedlichen Reproduktionsraten im Laufe einiger Generationen sogar zu einer Majorisierung der ortsansässigen Ethnie und im Gefolge zu Konflikten führen.“[27]

Auch auf der heutigen Stufe staatlich organisierter Gemeinschaften werde das „familiare Wir-Gruppen-Gefühl“ auf eine größere Gemeinschaft, der ethnisch fundierten Nation, übertragen: „Man spricht von den anderen Angehörigen der Nation als seinen Brüdern und Schwestern und betont die Ähnlichkeit, die ja Ausdruck einer Verwandtschaft ist, in Kleidung, Brauchtum, Sprache und durch Berufung auf die gemeinsame Geschichte und Abstammung.“[28] Für Eibl-Eibesfeldt bedeutet ein so verstandenes Nationalbewusstsein eine „lebensstützende Identifikationsmöglichkeit“, die dazu führe, dass ihre Mitglieder bevorzugt untereinander heiraten würden.[29] Die Mitglieder der Nation hätten das Bedürfnis, das „kulturelle Erbe der Gemeinschaft, in die sie hereingeboren werden, (…) weiterzugeben und zu erhalten“.[30]

Eibl-Eibesfeldt übersieht bei dieser Darstellung, dass der Begriff „Nation“ in der wissenschaftlichen Forschung schon längst als Konstrukt gesehen wird. Ernest Gellner kam zu dem Schluss: „Nationalismus ist keineswegs das Erwachen von Nationen zu Selbstbewußtsein: man erfindet Nationen, wo es sie vorher nicht gab.“[31] Balibar und Wallerstein diagnostizierten: „Sicher ist indessen, dass es uns beiden gleichermaßen wichtig erscheint, die Nation und das Volk als historische Konstruktionen zu denken, dank derer die heutigen Institutionen und Antagonismen in die Vergangenheit projiziert werden können, um den ‚Gemeinschaften‘ eine relative Stabilität zu verleihen, von denen das Gefühl der individuellen ‚Identität‘ abhängt.“[32] Benedict Anderson definiert „Nation“ als „eine vorgestellte politische Gemeinschaft – vorgestellt als begrenzt und souverän. Vorgestellt ist die deswegen, weil ihre Mitglieder selbst der kleinsten Nation die meisten anderen niemals kennen, ihnen begegnen oder auch nur von ihnen hören werden, aber im Kopf eines jeden die Vorstellung ihrer Gemeinschaft existiert.“[33]

Das friedliche Zusammenleben sei laut Eibl-Eibesfeldt nur dann gewährleistet, wenn jede Nation sich in einem Gebiet kulturell frei entfalten kann und eine Selbstverwaltung vorhanden sei. Auch innerhalb eines Staates könnten verschiedene Völker, die „lang eingesessen und damit territorial verwurzelt sind“, neben- und miteinander leben. Wenn dagegen durch Immigration neue Minoritäten entstehen, würden die Einwanderer stets als Bedrohung wahrgenommen werden: „Die Einwanderer werden dann als Landabnehmer wahrgenommen. Sie nehmen mit ihrer Niederlassung auf Dauer die kostbarste Ressource, die einem Volk zur Verfügung steht, in Anspruch, nämlich das Land. Sie werden daher als Eindringlinge erlebt, und das löst geradezu automatisch territoriale Abwehrreaktionen aus (…). Gestattet ein Volk anderen freie Immigration und den Aufbau von Minoritäten, dann tritt es Land ab und lädt sich zwischenethnische Konkurrenz im eigenen Lande auf.“[34]

Jede Immigration sei von „einer sozialen Desintegration und damit einer Störung des sozialen Friedens“ begleitet, was sich unter anderem auch in einer erhöhten Kriminalitätsrate bemerkbar mache. Die „kulturelle Distanz“ macht er für die angeblich höhere Kriminalitätsrate unter Zuwanderern verantwortlich: „(…) Menschen, die sich nicht nahestehen, dazu neigen, einander auszunutzen. (…) In einer Gemeinschaft, in der jeder jeden kennt, benehmen wir uns meistens recht anständig. (…) Nun stehen Immigranten den Bewohnern des Landes ihrer Wahl noch fremder gegenüber als diese einander als Mitglieder der anonymen Gemeinschaft einer Nation. Die Hemmschwelle gegenüber den ihnen fremden (…) Bewohnern des Gastlandes ist daher geringer als gegenüber den Mitgliedern der jeweils eigenen Solidargemeinschaft.“[35]

Das gesamte soziale Handeln scheint kulturell überformt, d.h. kollektive Abwehrmechanismen, Feindseligkeit bis zu gewaltsamen Eruptionen sind erworbene Grundkonstanten und Mentalitäten in einer nationalen Gemeinschaft. Für Eibl-Eibesfeldt gehört die „Neigung zum Ethnozentrismus“ zu den „allgemeinmenschlichen Eigenschaften“. Nationen würden immer als Solidargemeinschaften auftreten, die zunächst einmal eigene Interessen vertreten würden, das zugleich ihr „Überlebensinteresse“ sei. In sozialdarwinistischer Manier sieht Eibl-Eibesfeldt einen Kampf der Völker und Nationen um „begrenzte Lebensgrundlagen“ vor allem auf ökonomischer Ebene: „Völker und Nationen konkurrieren um begrenzte Lebensgrundlagen, heute vor allem wirtschaftlich, und sie sind gerüstet und durchaus auch bereit, zu den Waffen zu greifen, wenn vitale Interessen gefährdet scheinen.“[36]

Die Journalistin Marielouse Jannsen-Jurreit stellt in diesem Zusammenhang zu Recht fest: „Anders als etwa sein Lehrer Konrad Lorenz schreibt Eibl-Eibesfeldt platteste Leitartikel-Prosa. An erkenntnistheoretischer Brillanz (…) ist ihm auch nicht gelegen. Dazu ist er zu sehr selbstzufriedener Inhaber eines behaglich-konservativen Weltbilds, das er in zahlreichen Publikationen ausgiebig pflegt. Problemlos wie keinem anderen gelingt es ihm, das problematische Erbe des deutschen Sozialdarwinismus in die Lehre von angeborenen Verhaltensweisen zu übernehmen. Ob es sich um Themen wie Krieg und Frieden, um die sexuelle Doppelmoral, um Homosexualität, Kapitalismus oder moderne Kunst handelt, immer fühlt sich Eibl-Eibesfeldt als Humanethologe zuständig, glaubt sich zwanghaft berufen, in paternalistischer Manier seiner Leserschaft erzieherisch die Hand auf die Schulter zu legen.(…) Dem Verhaltensforscher Eibl-Eibesfeldt schwebt eine Welt vor, in der nach der für ihn akzeptablen Lösung der südafrikanischen Homelands Kulturen und Rassen abgegrenzt nebeneinander koexistieren unter Wahrung ihrer eigenen Identität.“[37]

Sozialpsychologisch betrachtet schafft Eibl-Eibesfeldt mit der Feindseligkeit gegenüber „Fremden“ ein negativ konnotiertes Fremdbild, um ein überlegenes Selbstbild der eigenen Gesellschaft und den dazugehörigen Normen und Werten zu erzeugen. Diese Prozesse der Konstruktion von Bildern über vermeintlich „Fremde“ oder „Andere“ mitsamt quasi kausale naturgegebene Erklärung für Gewalt und Ausgrenzung  sind nichts anderes als vereinfachende biologistische Stigmatisierungs- und Diskriminierungsmuster unter Heranziehung einer Dichotomie von „Inländern“ und „Ausländern“, die auch von den extremen Rechten und Anhängern des völkischen Nationalismus vertreten werden.

Der sich auf allen Ebenen durchsetzende Globalisierungsprozess bringt eine größere Heterogenität und Fragmentierung von Weltbildern mit sich und schließt Individuen oder Gruppen unterschiedlicher kultureller Herkunft zu einer Menschheit zusammen. Im Zeitalter der Globalisierung bilden nicht mehr die Nationalstaaten, sondern die kosmopolitische Weltgesellschaft den Referenzrahmen des alltäglichen Denken und Handelns. Dieser nicht mehr umkehrbare Prozess wird sich vermutlich in der nahen Zukunft noch verstärken.Kulturen werden dabei als heterogene, dynamische Entitäten betrachtet, was auch für die in ihnen vertretenen Religionen und Philosophien gilt. Sie können widersprüchlich, innerlich differenziert und umkämpft sein und somit Revisionen und Transformationen durchmachen. Ein einheitlicher und statischer Kulturbegriff sowie die Konservierung des jeweiligen gegenwärtigen kulturellen Zustandes werden dagegen abgelehnt.

Das von Samuel Pufendorf und Johann Gottfried Herder vertretene Konzept der Volkskulturen, wonach Kulturen als in sich abgeschlossene Gebilde verstanden werden, wird als obsolet zurückgewiesen. Dies gilt auch für jedwede Spielart eines ethischen Relativismus, der die Ausbildung kulturübergreifender Werte negiert. Ram Adhar Mall spricht von der „Fiktion einer totalen Reinheit einer Kultur“ und führt aus: „So wenig es eine reine d.h. homogene eigene Kultur gibt, so wenig gibt es auch eine reine fremde Kultur. Analoges gilt für die Philosophie. Die Vernetzungen der Kulturen sind vielschichtig und lassen sich fast endlos in die Vergangenheit zurückverfolgen.“[38]

 




[1]Nedelmann, B.: Georg Simmel 2000, S. 127

[2]Solies, D.: Kultur als Pluriversum. Zur Bestimmung der Fremdheit bei Georg Simmel, S. 80

[3]Simmel, G.: Lebensanschauung, S. 295

[4] Solies, S. 83

[5] Ebd., S. 84

[6] Simmel, Lebensanschauung, a.a.O., S. 236

[7] Ebd., S. 288

[8] Ebd., S. 238

[9] Ebd., S. 243

[10]Simmel 1992b, S. 764

[11]Simmel 1992a, S. 754f

[12] Simmel, Soziologie, S. 767

[13]a.a.O., S. 766

[14]a.a.O., S. 769

[15] Gottovik, S. 89

[16] Bauman, Z.: Unbehagen in der Postmoderne, Hamburg 1999, S. 35

[17] Bauman, Z.: Moderne und Ambivalenz. Das Ende der Eindeutigkeit, Frankfurt/Main 1996, S. 76

[18] Vgl. dazu Schäffter, O.: Modi des Fremderlebens. Deutungsmuster im Umgang mit Fremdheit, in: Ders. (Hrsg.): Der Fremde. Erfahrungsmöglichkeiten zwischen Faszination und Bedrohung, Opladen 1991, S. 11-42

[19] Klemens Wittebur: Die Deutsche Soziologie im Exil. 1933–1945. Münster/Hamburg 1991, S. 59 f.

[20]Ernst Grünfeld: Die Peripheren. Ein Kapitel Soziologie. N.V. Noord-Hollandsche Uitgevers Mij., Amsterdam 1939, S. 3.

[21]Ernst Grünfeld: a.a.O., S. 79

[22] Wilhelmi, C.: Anthropologische Konstanten?, Heidelberg 1998, S. 35

[23] Drähner, U.: Die Neue Rechte in der Bundesrepublik Deutschland, Marburg 1996, S. 85 Vgl. dazu auch Eibl-Eibesfeldt, I.: Menschenforschung auf neuen Wegen, 2. Auflage, München 1984 sowie Eibl-Eibesfeldt, I.: Liebe und Haß. Zur Naturgeschichte elementarer Verhaltensweisen, München 1984

[24] Eibl-Eibesfeldt, I.: Zukunft multikulturelle Gesellschaft?, in: Eder, R./Mölzer, A.: Einwanderungsland Europa?, Graz 1993, S. 129-142, hier S. 130

[25] www.estelmann.com/private/eibl1.htm

[26]Eder, R./Mölzer, A.: Einwanderungsland Europa?, Graz 1993: Eibl-Eibesfeldt, I.: Zukunft multikulturelle Gesellschaft?, S. 129-142, hier S. 130f

[27] Ebd, S. 135ff

[28] Ebd., S. 107

[29] Ebd., S. 39

[30] Eibl-Eibesfeldt, Zukunft multikulturelle Gesellschaft?, in: Eder/Mölzer, Einwanderungsland Europa?, a.a.O., S. 136

[31] Gellner, E.: Thought and Change, London 1964, S. 13

[32] Balibar, E./Wallerstein, I.: Rasse Klasse Nation. Ambivalente Identitäten, Hamburg/Berlin 1990, S. 15

[33] Anderson, B.: Die Erfindung der Nation. Zur Karriere eines folgenreichen Konzepts, 2. Auflage, Frankfurt/Main 2006, S. 15

[34] Ebd., S. 136

[35] Ebd., S. 150

[36] Eibl-Eibesfeldt, Wider die Misstrauensgesellschaft, a.a.O., S. 126

[37] www.spiegel.de/spiegel/print/d-13493351.html

[38] Mall, R. A.: Philosophie und Philosophen interkulturell gelesen, in: in: Gerlach, H.-M./Hütig, A./Immel, O.(Hrsg.): Symbol, Existenz, Lebenswelt. Kulturphilosophische Zugänge zur Interkulturalität, Frankfurt/Main 2004, S. 29-48

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