Die Pädagogik Sprangers

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Eduard Spranger gehört in den Kreis der großen humanistisch geprägten Gelehrten des 20. Jahrhunderts. Spranger wandte den von Dilthey aufgestellten Grundsatz des geisteswissenschaftlichen Verstehens auf die Bildungsgeschichte und die Psychologie an. Im Mittelpunkt der frühen bildungsgeschichtlichen Arbeiten stehen seine beiden Bücher über Humboldt, in denen er die Person Humboldts auf dem Hintergrund der Humanitätsidee und ihrer Wirkung auf das preußische Bildungswesen zeichnete. Zahlreiche Fragen widmete Spranger den Themen des Hochschulunterrichts, der Bildung-, und Schulpolitik, der Geschichte und Theorie der Bildungsideale sowie der allgemein bildenden Schule selbst. Er gehörte zu den Begründern der neuzeitlichen Wissenschaft von der Erziehung. Die Hinwendung zur deutschen Klassik verband Spranger mit einem historischen Interesse.[15] Zu einem großen Teil gehörte dieses Denken in die preußische Reformzeit. Es war eine Krisenzeit, nach der Niederlage Preußens durch Napoleon und daran anschließend der Geist der Erneuerung, eine Stimmung des Aufbruchs und der Reformen auf allen Gebieten des gesellschaftlichen Lebens. Spranger verglich gerne diese Epoche der deutschen Geschichte mit seiner Zeit, der Niederlage Deutschlands im 1. Weltkrieg und den Versuchen des Neuanfangs in einer Republik. Dabei vermisste er den Schwung, die Begeisterung und den Ideenreichtum, die er in der preußischen Reformzeit zu erkennen glaubte. Für Spranger lag in diesem schwungvollen geistigen Aufbruch zugleich eine Verbindung von Weimar und Berlin. Weimar stand als Repräsentant für die Humanitätsidee.

Eduard Spranger gehört in den Kreis der großen humanistisch geprägten Gelehrten des 20. Jahrhunderts. Spranger wandte den von Dilthey aufgestellten Grundsatz des geisteswissenschaftlichen Verstehens auf die Bildungsgeschichte und die Psychologie an. Im Mittelpunkt der frühen bildungsgeschichtlichen Arbeiten stehen seine beiden Bücher über Humboldt, in denen er die Person Humboldts auf dem Hintergrund der Humanitätsidee und ihrer Wirkung auf das preußische Bildungswesen zeichnete. Zahlreiche Fragen widmete Spranger den Themen des Hochschulunterrichts, der Bildung-, und Schulpolitik, der Geschichte und Theorie der Bildungsideale sowie der allgemein bildenden Schule selbst. Er gehörte zu den Begründern der neuzeitlichen Wissenschaft von der Erziehung.

Bei dieser Ausführung möchte ich mich auf die Abhandlung Sprangers „Grundlegende Bildung, Berufsbildung, Allgemeinbildung“ beziehen. Die Abhandlung verfolgt zwei Ziele: Einmal nahm er eine Beschreibung des Phänomens Bildung vor und nahm Abschied von dem Versuch, sie durch eine Definition zu fassen, sondern er verfuhr psychologisch und orientierte sich an dem wirklichen Gang, auf dem menschlicher Geist sich bildet. Er formuliert nicht, was Bildung ist und an welchen Zielen sie sich orientieren soll, sondern er legt dar, wie sie entsteht und sich entwickelt.[1]

Zum Zweiten gab er der Berufsbildung so einen zentralen Wert, dass er das aus der Geschichte überlieferte Verhältnis von Allgemeinbildung und Berufsbildung umkehren und der Berufsbildung dabei den größten Anteil an einer wirklichen Allgemeinbildung zuschreiben konnte: Der Weg zur Allgemeinbildung, soll sie mehr sein als „aufgepfopfte Kultur“ führt nur über den Beruf, „aus dem Kern der Berufsbildung wächst der Mantel der Allgemeinbildung hervor (…). Es gibt nur einen entschiedenen Gegensatz zum gebildeten Menschen, das ist nicht etwa der unliterarische, sondern der bloße Spezialist, der mit ungeöffneten Augen an seiner Scholle haftet und sich ewig im Kreis seiner eigenen Routine dreht. Dies zu verhüten, ist die Aufgabe aller Berufsschulen im Zusammenhang des neuen Bildungswesens, das nicht mehr allein nach der sogenannten höheren Schule und der Universität orientiert ist.“[2]

Durch die gesamte Abhandlung zieht sich in allen Abschnitten die Entwicklung eines „neuen Bildungstypus“. Die pädagogische Tradition hat mehrere Versuche aufzuweisen, Bildung zu bestimmen. Orientiert man sich in der Theorie in den Erkenntnisfunktionen, führt dies zu einer formalen und rationalen Bildung vorwiegend des Intellekts. Bildung wird über weite Strecken identisch mit Wissen. Dieses Modell der Bildung scheitert an einem nicht umgehbaren Faktum. Keine einzige Erkenntnisfunktion kann „nur an sich“ ausgebildet und geübt werden, immer ist sie an bestimmte konkrete Inhalte gebunden. Man kann keine Riesenwelle ohne Rückstange machen, man kann nicht „an sich lesen“, sondern immer nur einen ganz konkreten Text, man kann nicht ganz allgemein nachdenken, sondern bleibt immer an konkreten Fragen, Probleme und Zusammenhänge gebunden: [3] „Eine rein formale Bildung des Intellekts ist also unmöglich.“

Mit der unauflösbaren Verknüpfung des Erkennens mit konkreten Inhalten wird der Vorgang der Bildung mit dem realem Leben in der Totalität verbunden und mit dem technisch-ökonomischen, dem sozialen, dem kulturellen und dem religiösen. Die Lebenswirklichkeit in ihrer Gesamtheit liefert die Gegenstände für Bildung und Allgemeinbildung, die sich nicht an definierten Zielen orientieren, sondern in der Mannigfaltigkeit des Bildungsvorgangs; Spranger nannte ihn einen „organischen Gang der inneren Bildung.“[4] Innere Bildung geschieht jedoch nur dort, wo der Mensch starke Motive hat, wo für ihn etwas vorhanden ist, was man zu seinem Lebenskern und Lebenskreis in Verbindung setzen kann. Der andere prallt wirkungslos ab, und keine Lehrkunst kann erreichen, was gegen das Gesetz des geistigen Wachstums ist.“

Die stärkste Motivation des Menschen, diejenige, die ihn wirklich essentiell berührt, liegt in seinem Beruf.[5] Mit der Wahl eines Berufes, die selbständig erfolgen sollte, beginnt überhaupt erst die persönliche Bildungslaufbahn eines Menschen. Die selbständige Wahl geschehe aus einem persönlichen Verantwortungsgefühl und machte den Versuch, individuelle Begabung und Beruf in Einklang zu bringen. Das Selber-Wählen und Selber-Wollen öffnet überhaupt erst die ethische Pforte für jegliche Berufsausbildung. Selbst wenn dieses Selber-Wollen die schmalste Form der Motivation einnimmt, die in der Berufswahl nur die materiellen Möglichkeiten des Fortkommens sieht, setzt doch dieser Hebel alles Übrige in Bewegung. In den Lebensformen beschrieb Spranger die Ansatzpunkte für Erziehung in diesem „inneren Wesenskern“:[6] „Bei aller Erziehung kommt es darauf an, bis in das Zentrum der persönlich bejahenden Wertsetzung vorzudringen und gleichsam jenem Punkt im Inneren freizulegen, an dem das autoritativ Gesollte zu einem Wollen wird, das von den tieferen Schichten des Selbst anerkannt und so zum persönlichen Ideal erhoben wird.“

Nun stellt sich die Frage, wann aber der Mensch in seiner gesamten geistigen Entwicklung so weit fortgeschritten ist, dass er befähigt ist, alle seine Begabungsrichtungen zu überblicken, seine Fähigkeiten zu erkennen und über so viel Selbsterkenntnis zu verfügen, dass er selbst wählen kann. Sprangers selbst gibt darauf die Antwort:[7] „Vor der Pubertät sollte unter keinen Umständen nach künftigen Berufen geschieden werden.“

Spranger begründete diese Argumentation mit seinen Erkenntnissen aus seiner „Psychologie des Jugendalters“. In der Krisenzeit der Pubertät formen sich erst die inneren Seiten des Menschen, alle entschiedenen Wendungen sowohl im physischen als auch im psychologischen Bereich lag erst hinter dieser Reifezeit. Je nach individueller Lage sah Spranger die Befähigung zur selbständigen Berufswahl erst um das 19-20 Lebensjahr.[8]

Die Form der Bildung, die vor dieser Zeit liegt, ist nun aber weiterhin unklar. Bis zu Sprangers Zeit nannte man mit großer Selbstverständlichkeit alles, was vor einer Berufsbildung lag, Allgemeinbildung und war fest davon überzeugt, dass alle Schulbildung mit Allgemeinbildung zu beginnen habe. Sie biete in elementaren und allgemeinen  Formen alles, was vor einer Berufsbildung Grund legt zu einer Persönlichkeitsentwicklung. Strittig sei nur der Zeitpunkt, von dem an die Allgemeinbildung sich auf die künftigen Interessenfelder einer Berufsausbildung erstreckt, wann und in welchem Unfang sie berufsvorbereitend sein solle. Spranger hingegen wählte für die Form der Bildung, die vor der Berufsbildung liegt, einen neuen Begriff und nannte sie elementare und grundlegende Bildung.[9]

Er fasste die Inhalte und Aufgaben einer grundlegenden Bildung jedoch wesentlich weiter als die Vorstellung von Allgemeinbildung es bisher tat, die nur die Vermittlung von Kulturtechniken darunter verstand. Zur grundlegenden Bildung gehören alle elementaren Akte des Auffassens des Arbeitens und Formens, des sozialen Lebens; sie erstreckt sich auf alles, was „geistiger Volksbesitz“ ist.[10]

Grundlegende Bildung sei laut Spranger erst Sache der Volksschule, die für diese Form der Bildung bei der Heimatkunde anknüpft. Spranger machte deutlich, dass Heimatkunde mehr sei als Kenntnis vom engen und begrenzten Raum der „Heimat“ und Kinderwelt.[11] Heimatkunde ist weitererschließend in der grundlegenden und elementaren Form. Seiner Zeit weit voraus konnte Springer argumentieren, dass die Einführung einer Fremdsprache den Grundcharakter der von ihm auferlegten Heimatkunde keineswegs stören würde. Heimatkunde bedeutete für ihn in erster Linie anzuknüpfen an die „Individuallage“ der Schüler, einen Begriff den er von seinem Vorbild Pestalozzi übernommen hatte. Weitergehend habe die Volksschule bisher jedenfalls in Umrissen diese Form von grundlegender Bildung herausgearbeitet. Spranger ließ in allen seinen Schriften durchblicken, dass er eine Verlängerung der Volksschulzeit bis zum 12. Schuljahr im Auge hatte.

Die strikte Bindung an den psychischen Ablauf der geistigen Prozesse bringt es mit sich, dass elementare Bildung die gesamte Volksschulzeit umschließt. Die Mittelschulzeit schloss Spranger ein und hielt diese Schulform für überflüssig.

Vom Kanon her habe sie keine klare Bestimmung und liege zwischen alter Vorstellungen von Allgemein- und Berufsbildung.

Ihre Legitimation erhalte sie ausschließlich aus politisch gewährten Vergünstigungen. Absolventen einer Mittel- oder Realschule erhielten die Berechtigungen zum einjährigen Militärdienst. Das Abgangszeugnis der Mittelschule wurde deshalb auch das „Einjährige“ genannt. Spranger bezeichnete die Mittelschule als nicht notwendig und nicht zweckmäßig.[12]

Er wollte den Menschen als Geistwesen, d.h. als Träger und Schöpfer von Werten verstehen und ihm helfen, sich in der komplexen geistigen Welt zurechtzufinden. Verstehen und helfen, darin lagen erkenntnistheoretische und praktische Absichten. Der Ansatz dieser Fragstellung umreißt bereits den ganzen weiten Horizont. Der Mensch als personaler Geist lebt und ist tätig in einer vorhandenen, bewegten Welt des objektiven Geistes. Die Welt des objektiven Geistes belegte Spranger mit mehreren Begriffen, es war für ihn die geschichtliche Welt, die Kulturwelt, die Lebenswelt. Sie umfasste die gesamte Sphäre, unter deren Einfluss der Mensch täglich atmet, vielfach leidet, aber auch wächst. Sie ist das wie Luft und Licht Hingenommene, in das man hineingeboren wird und das man sich nicht aussuchen kann- diese Familie, diese Gesellschaft, diese Zeit- was man wie Schicksal hinzunehmen hat, aber was man dann tätig mit- und umgestaltet, verändert, Neues schafft und in diesem Prozess sich selbst bildet.

Kultur und Lebenswelt entstehen nicht kollektiv, sie leben von der schöpferischen Kraft des personalen Geistes. Die Wirklichkeit der Lebenswelt ist von diesen Auseinandersetzungen zwischen dem Personalen und dem immer schon Vorhandenen geprägt. In dieser Auseinandersetzung, die keine der beiden Pole unverändert lässt, wird Kultur weiterentwickelt und der einzelne Mensch gebildet. Das ist der geschichtliche Prozess.

Innerhalb seiner Humanitätsidee bezog er sich positiv auf das klassische Erbe der Pädagogik und der gesamten Geistesgeschichte.[13] Es gehörte die gesamte Philosophie und Pädagogik der preußischen Reformzeit zu seiner Interessenlage, die Reformversuche Süverns zu einer Neugestaltung der preußischen Volksschule, alle Bewegungen zu Reformen der Universität und des Bildungsdenkens, wie es sich im klassischen Weimar ausgeprägt hatte. Neben Humboldt beschäftigte sich Spranger sein ganzes Leben lang mit Goethe, mit dessen Welt-, Lebens- und Menschenbild und seiner eigentümlichen Art, die Welt durch exakte Beobachtung und inneres Schauen zu erkennen. Zur Beschäftigung mit dem klassischen Erbe gehörte auch das gesamte Umfeld. Die philosophischen Gedanken Friedrichs II. von Preußen zogen ihn an, des „Philosophen von Sanssouci“, wie er eine eigene Abhandlung nannte. Natürlich gehörten auch die Quellen des klassischen Denkens dazu, Sokrates und Platon. Bei Platon war es besonders die Idee der platonischen Liebe (Eros), wie sie sich in der pädagogischen Ausprägung zeigen kann.

Nicht zuletzt gehörte zu diesem Denken über das Klassische die pädagogische Ausprägung, die er bei Pestalozzi und Fröbel, in der Schultheorie von Süvern und im Nationalerziehungsplan bei Fichte gefunden hat.

In diesem Motivkreis, der während seiner Studienzeit aufgeschlossen wurde und erst mit seinem Tod endete, zog ihn die Idee der Humanität als Erziehungsziel an. Er sah sie in der Verbindung von Individualität und Totalität oder Universalität, wie Humboldt sich ausdrückte. Die „innere Idealität“ hielt Spranger für bildbar im Gesamtzusammenhang und in steter Wechselwirkung mit dem kulturellen Leben in seiner aktuellen Ausprägung.

Lediglich in einem Grundzug distanzierte sich Spranger vom Humanitätsdenken der deutschen Klassik.[14] Bei der ganzen auf Selbstbildung der „inneren Idealität“ ausgelegten Theorie vermisste er die soziale Einbindung, letztlich die ethische Verantwortung, die so zu allem kulturellen Leben als auch zum letzten Grund des Erziehertums gehört.

Die Hinwendung zur deutschen Klassik verband Spranger mit einem historischen Interesse.[15] Zu einem großen Teil gehörte dieses Denken in die preußische Reformzeit. Es war eine Krisenzeit, nach der Niederlage Preußens durch Napoleon und daran anschließend der Geist der Erneuerung, eine Stimmung des Aufbruchs und der Reformen auf allen Gebieten des gesellschaftlichen Lebens. Spranger verglich gerne diese Epoche der deutschen Geschichte mit seiner Zeit, der Niederlage Deutschlands im 1. Weltkrieg und den Versuchen des Neuanfangs in einer Republik.[16] Dabei vermisste er den Schwung, die Begeisterung und den Ideenreichtum, die er in der preußischen Reformzeit zu erkennen glaubte. Für Spranger lag in diesem schwungvollen geistigen Aufbruch zugleich eine Verbindung von Weimar und Berlin. Weimar stand als Repräsentant für die Humanitätsidee, Berlin als Repräsentant für den preußischen Geist, in dem er nüchterne Klarheit, strenge Zucht und die Hingabe an das Pflichtgebot erblickte. Goethe- das war Weimar, Humboldt- das war Berlin. Aus der Verbindung beider war die Rettung für Deutschland gekommen. Aus der Wiederbelebung des Geistes von Weimar und Berlin erhoffte er sich erneut eine Rettung Deutschlands.

Spranger bezog den gesamten Bildungsauftrag des Gymnasiums und der höheren Schulen in die Form der grundlegenden Bildung mit ein. Selbst die Wissenschaftspropädeutik, die man mit größter Selbstverständlichkeit den Gymnasien zuschreibt, gelänge laut Spranger „nur bei denjenigen Köpfen, die ausgesprochen wissenschaftlich veranlagt sind. (…) der Spielraum des allgemeinen Bildungsdranges ist nicht bei allen Jugendlichen so wiet, wie es die höhere Schule vorauszusetzen beliebt.“[17] Der weit verbreitete Unglaube, die höhere Schule vermittele eine nach allen Seiten abgerundete Allgemeinbildung, habe unendlich viel Leid gestiftet. Spranger erinnerte dabei an die Tragik so manches Sekundaner und Primanerschicksal, das damals besonders in der deutschen Literatur (Professor Unrat von Heinrich Mann) ein weit verbreitetes Motiv war Die Schüler des Gymnasiums befinden sich ebenfalls in der Pubertät, unterliegen den gleichen Krisensymptomen wie allen anderen jungen Menschen und suchen als Gegengewicht nach einer Stütze ihres werdenden Selbstgefühls.

Erst mit der selbständigen Berufswahl und der sich anschließenden Berufsausbildung beginne die persönliche Bildungsbahn, erst dann werde der innerste essentielle Kern des Menschen gefordert und damit beginne eine ethische Verbesserung. Freilich legte Spranger eine Auffassung von Berufsbildung zugrunde, die nicht geläufig war, und er hatte zunächst den Begriff von Vorurteilen und Fehleinschätzungen zu befreien.

Eine Vorstellung von Berufsbildung hatte sich in der Zeit des deutschen Idealismus oder der von Nohl so bezeichneten Zeit der deutschen Bewegung die vom Auftreten Lessings bis ca. zum Tode Goethes reichte (1832), herausgebildet. Die Vertreter des deutschen Idealismus erblickten im Beruf den alleinigen  Brauchbarkeits- und Nützlichkeitsaspekt (Schiller, Fichte). Diese Diskreditierung habe dazu geführt, dass die Berufsbildung an den höheren Schulen bis hin zu den Universitäten ausgeschlossen wurde. Die gesamte Berufsbildung im 19. Jahrhundert entwickelte sich, obwohl umfangmäßig immer größer werdend, außerhalb der Universitäten in Fachhochschulen.

Worin nun sah Spranger die große Bedeutung der Berufsbildung? Die Elementarbildung orientierte sich an der gesamten Fülle des Volkslebens und der Mannigfaltigkeit der Kultur- und Sozialformen. Das ist erforderlich, weil die individuelle Bestimmung des Menschen noch nicht erkennbar ist und von allen Seiten des öffentlichen Lebens Anreize gegeben werden müssen, bis das Individuum sich selbst und seinen Weg gefunden hat. Dann muss es eine gesunde Verbindung zwischen seiner Individualität und der sozialen Ausweitung finden. Im Universellen und Allgemeinen droht der Mensch sich zu verlieren, hier ist Beschränkung dringend geboten; im nur Individuellen besteht die Gefahr der Isolation, hier ist Erweiterung dringend erforderlich. Spranger charakterisierte diese „eigene Bildungsarbeit“ und „kampfreichen Weg“ des Wilhelm in Goethes Bildungsroman „Wilhelm Meister“ an der Gestalt Pestalozzis und an der Theorie der Arbeitsschule seines Protagonisten Kerschensteiners. In Lebenspraxis (Pestalozzi), Literatur (Goethe) und Theorie (Kerschensteiner) liegt der Kern des Bildungsprozesses „von einer unbestimmten Universalität zur zielbewußten Individualität.“[18]

Auf diesem Weg, auf dem Universelles und Individuelles verbunden werden, öffnet der Mensch das Tor zur Sittlichkeit. Er erfährt den Beruf nicht als isoliertes, individuelles Geschehen, sondern er sieht sich in einem größeren Kulturzusammenhang stehen und erlebt sich selbst dadurch als über dem Beruf stehend. Eine solche Einschätzung des Berufes weckt Verantwortung für das soziale Ganze als auch für das individuelle Handeln. Denn jede lebendige Moral kann „nur in Beziehung zu ganz bestimmten Kulturverhältnissen entwickelt werden.“[19] Ein vom Verantwortungsbewusstsein betriebener Beruf führt zu einer Erweiterung des Gesichtskreises und des gesamten Horizontes. Spranger sah, dass die Berufsbildung seiner Zeit diesen Status keineswegs erreicht hatte, sondern an einem Wendepunkt stand, an dem sie sich zu entscheiden hatte, ihre Aufgaben nicht allein am Äußerlichen zu orientieren, sondern am inneren Weg des Bildungsvorganges.

Eine neue Berufsausbildung erweitert laut Spranger den Horizont und führt zu einer neuen Form der Allgemeinbildung, Erweiterung des Horizontes über den Beruf hinaus schafft den Anschluss an gesellschaftliche, soziale und kulturelle Gegebenheiten. Das Individuum, das immer begrenzt ist, bedarf dieser Erweckung. Sie erfolgt jedoch nicht über Wissen, literarischer Bildung und Ästhetik allein, „es gibt nur einen entscheidenden Gegensatz zum gebildeten Menschen, denn es ist nicht etwa der unliterarische (denn Bildung ist nicht ausschließlich literarische Bildung), sondern der bloße Spezialist, der mit ungeöffneten Augen an der Scholle haftet und sich ewig im Kreise seiner engen Routine dreht.“[20]

Zur Erweiterung des Horizontes gehören zu der Berufsbildung für Spranger deshalb auch politische Bildung und Religion. Der Mensch habe eine rechte Einstellung, aber auch Einschätzung seiner beruflichen Tätigkeit in der Gesellschaft und im Staate zu finden. So erlerne der Mensch die Verwobenheit von Rechten, Pflichten und Ansprüchen. Mit altpreußischer Gesinnung setzt Spranger die Pflichten gegenüber dem Staat an erster Stelle. Die erschließende Kraft des Politischen und Religiösen führte zur nächsten Horizonterweiterung und über die Berufsausbildung zu einer jetzt wirklichen Allgemeinbildung. In ihr setzt der Mensch das, was man zu seinem Lebenskern und Lebenskreis rechnen kann, in Beziehung zum Allgemeinen der Kultur. Eine solche Allgemeinbildung orientiert sich nicht an Definitionen und Zielvorgaben, sie ist in ihrer Form so vielfältig wie das individuelle, das soziale und das kulturelle Leben. Bildung fächert sich in konzentrischen Kreisen auf, indem sie als fundamentale Bildung bei der Vielfalt des Gegebenen ansetzt, in der Berufsbildung sich die Individualität mit Universalität auseinandersetzt und lernt, sich zu beschränken, um über den Beruf Horizonterweiterung zu gewinnen und eine allgemeine Form zu erreichen, in der sich Vielfalt und Individualität verbinden.

Spranger stellte im Jahre 1924 fest:[21] „Von der Spitze bis zur Basis ist unser ganzes nationales Bildungsleben unerweckt, zielblind, also tatenlos und unfruchtbar.“




[1]Herrmann, U.: Spranger, Eduard, in: Walter Killy (Hrsg.): Literaturlexikon. Autoren und Werke deutscher Sprache. Band 11, Gütersloh u. a. 1989, S. 118f

[2] Spranger, E.: Grundlegende Bildung, Berufsbildung, Allgemeinbildung, in: Preußische Fortbildungsschulzeitung (1918), S. 23-36, hier S. 32

[3] Ebd. S. 23

[4] Ebd., S. 30

[5] Kollmann, R.: Bildung – Bildungsideal – Weltanschauung. Studien zur pädagogischen Theorie Eduard Sprangers und Max Frischeisen-Köhlers, Kastellaun u. a. 1972, S. 35

[6] Spranger, E.: Grundlegende Bildung, Berufsbildung, Allgemeinbildung, in: Preußische Fortbildungsschulzeitung (1918), S. 23-36, hier S. 27

[7] Ebd.

[8] Hohmann, J.S. (Hrsg.): Beiträge zur Philosophie Eduard Sprangers, Berlin 1996, S. 31

[9] Klussmann, R.: Die Idee des Erziehers bei Eduard Spranger vor dem Hintergrund seiner Bildungs- und Kulturauffassung, Frankfurt am Main u. a. 1984, S. 77

[10]Jost, L u. a. (Hrsg.): Eduard Spranger. Zur Bildungsphilosophie und Erziehungspraxis, Zürich 1983, S. 65

[11] Klussmann, R.: Die Idee des Erziehers bei Eduard Spranger vor dem Hintergrund seiner Bildungs- und Kulturauffassung, Frankfurt am Main u. a. 1984, S. 89

[12] Kollmann, R.: Bildung – Bildungsideal – Weltanschauung. Studien zur pädagogischen Theorie Eduard Sprangers und Max Frischeisen-Köhlers, Kastellaun u. a. 1972, S. 73

[13] Jost, L u. a. (Hrsg.): Eduard Spranger. Zur Bildungsphilosophie und Erziehungspraxis, Zürich 1983, S. 83

[14] Ebd., S. 91

[15] Ebd., S. 92

[16] Fontana, M.: „…jener pädagogische Stoß ins Herz.“ Erziehungswissenschaftliche und biographisch-politische Kontinuitäten und Diskontinuitäten im Leben und Werk Eduard Sprangers, Frankfurt am Main u. a. 2010, S. 91

[17] Spranger, Grundlegende Bildung, Berufsbildung, Allgemeinbildung, in: a.a.O., S. 26

[18] Ebd., S. 28

[19] Ebd.; S. 31

[20] Ebd.; S. 32

[21] Spranger, E.: Die Generationen und die Bedeutung des Klassischen in der Erziehung, in: Fischer, A./Spranger, E.: Jugendführer und Jugendprobleme. Festschrift für Georg Kerschensteiner (1924), in:  Bähr, W. u.a. (Hrsg.): Eduard Spranger. Gesammelte Schriften, Band I., Heidelberg 1969, S. 70-89, hier S. 94

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