Die Reformperiode Chruschtschows und das Ende der stalinistischen Bildungspolitik

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Auf dem Parteitag von 1956 setzte mit den Enthüllungen Chruschtschows über Stalins Verbrechen und der Kritik an seinem Personenkult die von der Partei gelenkte und kontrollierte Entstalinisierung ein, die in unterschiedlichem Ausmaß die verschiedenen kulturpolitischen Bereiche erfasste. Die Idee der polytechnischen Bildung eine Wiederbelebung. Dieses zentrale Thema der kommunistischen Pädagogik war auch nach 1937, als die praktische polytechnische Unterweisung in den Schulen aufgehoben wurde, nicht aus den theoretischen Erörterungen verschwunden; die Unterrichtspraxis wurde davon jedoch kaum betroffen. In den Jahren 1954 und 1955 wurden jedoch neue Stundentafeln und Lehrpläne für die allgemeinbildenden Schulen eingeführt, in denen zum ersten Mal seit achtzehn Jahren wieder Elemente der polytechnischen Bildung enthalten waren. Chruschtschow versuchte in seiner Bildungspolitik, den dialektischen Zusammenhang der ökonomischen und pädagogischen Aufgabe deutlich zu machen, der seit dem Programm der sozialistischen Kulturrevolution als Lenins leitendes Prinzip der sowjetischen Erziehungs- und Bildungspolitik war.

Die engste Verbindung von Berufsarbeit und Studium verkörperten die Technischen Betriebshochschulen, deren Errichtung an technisch führenden Industriebetrieben Ende 1959 beschlossen wurde. Die Technischen Betriebshochschulen sollten vor allem eine betriebseigene Intelligenz heranbilden.

Nach Stalins Tod wurden die kulturellen und wissenschaftlichen Austauschprogramme wieder belebt. Zunächst wurden systematisch mit allen volksdemokratischen Ländern Abkommen über den wissenschaftlichen Austausch geschlossen. Der Hochschulbereich und der wissenschaftlich-technische waren allgemein durch Sonderabkommen gedeckt. Die Akademie der Wissenschaften der UdSSR hat in der Regel selbständige Abkommen mit analogen Institutionen anderer Länder abgeschlossen.

 

 

 

 

 

Der XX. Parteitag und die Auswirkungen auf die Bildungspolitik

 

 

 

Nach ersten Versuchen zur Unterrichtsreform und zur Lenkung der Schulabsolventen in die benötigten Berufe wurde im Jahre 1956 eine breite Reformdiskussion in Gang gesetzt, die 1958 ihren Höhepunkt erreichte und in der Verabschiedung eines umfassenden Reformgesetzes gipfelte. Da diese Entwicklung von Mitte der 1950er bis Mitte der 1960er Jahre wesentliche Impuls dem unmittelbaren Eingreifen Chruschtschows in die bildungspolitischen Grundsatzfragen verdankte, erscheint es gerechtfertigt, von der Reformperiode Chruschtschows zu sprechen.

 

Schon auf dem im Oktober 1952 abgehaltenen XIX. Kongress der KPdSU – einige Monate vor dem Tode Stalins – zeichneten sich gewisse Veränderungen ab, die aber als kontinuierliche Weiterentwicklung und nicht als grundsätzliche Neuerungen gedacht waren. In den vom Parteitag angenommenen Direktiven für den 5. Fünfjahresplan wurden drei bildungspolitische Hauptziele verkündet:

 

 

 

  1. Bis zum Jahre 1955 sollte in den größeren Städten und Industriezentren die siebenjährige allgemeine Schulpflicht auf zehn Jahre erweitert werden. Bis zum Jahre 1960 sollten dann die Voraussetzungen für eine volle Verwirklichung der allgemeinen mittleren Bildung (Zehnjahresschule) in den restlichen Städten und auf dem Lande geschaffen werden.

  2. Es sollte mit der Verwirklichung des polytechnischen Unterrichts in der Mittelschule begonnen werden, damit später der Übergang zum allgemeinen polytechnischen Unterricht erfolgen könne.

  3. Die Entwicklung der allgemeinbildenden Schulen mit Unterricht am Abend sowie des Abend- und Fernstudiums an Hochschulen und mittleren Fachschulen sollte weiter vorangetrieben werden.

     

    Damit war in groben Zügen der Rahmen für die weitere Entwicklung des Bildungswesens über den Tod Stalins hinaus abgesteckt. Ökonomische und pädagogische Überlegungen wirkten dabei bei den politischen Entscheidungen ebenso mit wie ideologische Momente. Demzufolge stellten die Reformen dieser Jahre einen vielschichtigen Prozess dar, in dem sich langfristige Zielsetzungen mit gegenwärtigen Problemen und deren Lösungsversuchen mischten.

    Schon Anfang der 1950er Jahre wurde deutlich, dass ein Hauptziel der Kaderpolitik als erfüllt angesehen werden konnte: der erhöhte Bedarf der Hochschulen an gut vorbereiteten Abiturienten, die ein Studium aufnahmen, war gedeckt. Mit der Ausdehnung der zehnjährigen Schulausbildung wuchs nun die Zahl derjenigen, die nach Abschluss der Mittelschule keinen Studienplatz erhielten. Schon im Jahre 1954 gab es auf 276.000 Studienplätze 1.113.600 Bewerber; im Jahre 1958 standen 1.570.000 Abiturienten lediglich 215.000 Zulassungen gegenüber. Diese Diskrepanz veranlasste im Jahre 1954 die Hauptverwaltung der Arbeitsreserven dazu, einen neuen Schultyp, die Technischen Lehranstalten zu schaffen, die speziell für Mittelschulabsolventen zur Ausbildung qualifizierter Facharbeiter bestimmt waren. Zwischen 1955 und 1963 wurden auf diesem Wege 744.000 Personen ausgebildet. Ebenfalls im Jahre 1954 erging eine Verordnung des Ministerrats der UdSSR, in der weitere Maßnahmen zur Eingliederung der Mittelschulabsolventen in die Produktion, z.B. durch die Teilnahme an verschiedenen beruflichen Kursen, getroffen wurden. Drei Jahre später wurden diese Bestimmungen noch erweitert.

    Auf dem Juli-Plenum des ZK der Partei von 1955 sprach N.A. Bulganin davon, dass man „an der Schwelle einer neuen wissenschaftlichen-technischen und industriellen Revolution stehe, die in ihrer Bedeutung jene industrielle Revolution weit übertrifft, die mit dem Erscheinen von Dampf und Elektrizität verbunden waren.“ Die hier angedeutete Perspektive der wissenschaftlich-technischen Revolution, aus der neue und höhere Qualifikationsanforderungen erwuchsen, gewann in der Folgezeit ein immer größeres Gewicht für die Reform der Bildungsziele und –inhalte in der sowjetischen Schule.

    Außerdem erfuhr die Idee der polytechnischen Bildung eine Wiederbelebung. Dieses zentrale Thema der kommunistischen Pädagogik war auch nach 1937, als die praktische polytechnische Unterweisung in den Schulen aufgehoben wurde, nicht aus den theoretischen Erörterungen verschwunden; die Unterrichtspraxis wurde davon jedoch kaum betroffen. In den Jahren 1954 und 1955 wurden jedoch neue Stundentafeln und Lehrpläne für die allgemeinbildenden Schulen eingeführt, in denen zum ersten Mal seit achtzehn Jahren wieder Elemente der polytechnischen Bildung enthalten waren (Werkunterricht in den Klassen 1-4, praktische Arbeiten in Schulwerkstätten und Schulgärten in der 5-7 Klasse sowie Praktika zur Maschinenkunde, Elektrotechnik und Landwirtschaft in der 8-10 Klasse).

    Die pädagogischen Theoretiker, die sich um eine Reaktivierung der polytechnischen Bildung bemühten, argumentierten für eine mit Hilfe des polytechnischen Unterrichts angestrebte stärkere „Verbindung der Schule mit dem Leben“. Chruschtschow gab diesem Stichwort, das zum Motto der Reformen werden sollte, auf dem XX. Parteitag der KPdSU im Februar 1956 eine deutliche Wendung ins Praktische: Er bemängelte, dass „der Unterricht nicht lebensnah genug ist, daß die Absolventen der Schule nur ungenügend auf eine praktische Tätigkeit vorbereitet sind. Mann muß schneller von Worten zu Taten übergehen.“

    Die Schüler sollten nicht nur Kenntnisse über Technik und Produktion erwerben, sondern systematisch zur Arbeit in Betrieben, Kolchosen und Sovchosen herangezogen werden; entsprechend sollten die Lehrpläne im Sinne einer stärkeren Produktionsspezialisierung umgestaltet werden. Damit sollte sichergestellt werden, dass die Masse der Schulabsolventen, die nicht studieren konnte, sondern gezwungenermaßen eine Arbeit aufnehmen musste, auf diese praktische Tätigkeit schon in der Schule vorbereitet werden.

    Zwischen 1956 und 1958, in der Anlaufphase der Reform, wurde in der RSFSR zunächst in 585 Versuchsschulen, dann in einem Viertel aller Schulen, ein erweiterter polytechnischer lehrplan eingeführt, der Elemente einer speziellen Berufsorientierung enthielt.

    Auf dem Parteitag von 1956 setzte mit den Enthüllungen Chruschtschows über Stalins Verbrechen und der Kritik an seinem Personenkult die von der Partei gelenkte und kontrollierte Entstalinisierung ein, die in unterschiedlichem Ausmaß die verschiedenen kulturpolitischen Bereiche erfasste. Auf der Grundlage des ZK-Beschlusses vom 30.06.1956 unterzogen sich auch die leitenden pädagogischen Instanzen der Kritik und Selbstkritik. So hieß es zum Beispiel in einem ausführlichen Redaktionsartikel der führenden Zeitschrift „Die Sowjetpädagogik“ vom September 1956: „Unter den Ursachen, die eine Entfremdung der Pädagogik vom Leben bewirkten, spielt der in ihr verbreitete Personenkult Stalins zweifellos eine wichtige Rolle. Infolge dieses Kultes wurden in der pädagogischen Wissenschaft die lebendigen Ideen gefesselt und zum Verstummen gebracht, es entstand eine dem Bolschewismus fremde Furcht davor, auf schöpferische Weise neue Fragen zu lösen. (…) Als Folge einer abergläubischen Hochachtung vor der Autorität Stalins erfuhren Dogmatismus und Buchstabengelehrtheit weite Verbreitung. Viele pädagogische Theoretiker verlernten zu experimentieren und selbständig zu denken, sie hatten Angst, bestimmte wissenschaftlichen Positionen einzunehmen.“

    Die in den Entstalinisierungsappellen enthaltene Aufforderung, die neuen Probleme auf schöpferische Art zu lösen, bewirkte zweifellos eine gewisse Befreiung von alten Denkschemata und eine größere Selbständigkeit bei vielen Theoretikern und Praktikern der Erziehung. In den Schullehrplänen und Lehrbüchern wirkte sich die Kritik an Stalin vor allem im Geschichtsunterricht, im Literatur- und Biologieunterricht aus. Allerdings trat nach der ersten Diskussionswelle 1956/1957 die grundsätzliche kritische Erörterung des Stalin-Erbes im Bereich des Bildungswesens bald fast ganz hinter den sich überstürzenden Reformplänen Chruschtschows zurück.

    Die Abkehr von Stalin auf dem XX. Parteitag wurde von einem großen Teil der literarischen Intelligenz mit der Hoffnung verbunden, dass nun die Stalinzeit und mit ihr ihre literaturpolitischen Methoden endgültig überwunden seien. Doch diese Hoffnungen trogen. Die Literatur konnte sich zwar freier entwickeln, aber es erwies sich immer wieder, dass Chruschtschow mit der Distanzierung von Stalin nur so weit gehen wollte, als ihm daraus kein politischer Schaden erwuchs.

    Der XX. Parteitag löste eine neue Belebung in der Literatur aus, die als „zweites Tauwetter“ bezeichnet wurde. Aber der ungarische Aufstand im Jahre 1956 und die auf das „zweite Tauwetter“ folgenden Reaktionen der Konservativen, die an die Partei appellierten, eine härtere Linie einzuschlagen, führten schon im Herbst 1956 zu einer neuen Abkühlung. Die Konservativen befürchteten von den nonkonformen Literaten, die die „Wahrheit“ und „Aufrichtigkeit“ zum Kriterium der Literatur machten und demzufolge, wo sie konnten, harte Kritik an Überresten des Stalinismus übten, dass die eines Tages auch Grundprinzipien des Sowjetstaates, z.B. das Machtmonopol der KPdSU in Frage stellen könnten.

    Nach der Abrechnung Chruschtschows mit Stalin ging die Entwicklung zur Meinungsvielfalt weiter; das Buchsortiment stieg nach dem XX. Parteitag schnell an; im Jahre 1956 erschien die im Jahre 1941 eingestellte Konsomol-Zeitschrift „Junge Garde“ wieder als Monatsschrift. Als spontane Publikationen der Nonkonformen konnten die beiden Sammelbände „Literarisches Moskau“ und – von nun an alljährlich und in immer mehr Städten- interessante Bände mit dem Titel „Tag der Poesie“ erscheinen. Im November 1956 wurde durch einen ZK-Beschluss die Herausgabe einer literaturwissenschaftlichen Zeitschrift verfügt, die ab dem Jahre 1957 als „Fragen an die Literatur“ erschien. Die Tendenz zur Verwissenschaftlichung, die sich auf anderen Gebieten durch die Übernahme früher verpönter naturwssenschaftlichen Theorien (Quantenmechanik, Relativitätstheorie) und moderner Forschungszweige (Kybernetik, Soziologie) zeigte, machte sich auch in der Literaturwissenschaft durch das größere Bemühen um historische Objektivität und methodische Modernisierung bemerkbar. Seit dem Jahre 1957 erschien in Leningrad die literaturhistorische Zeitschrift „Russische Literatur“.

     

     

     

    Die Schul- und Hochschulreform von 1958/1959

     

    Auf dem XIII. Kongress des Komsomol im April 1958 trug Chruschtschow zum ersten Mal ausführlich in der Öffentlichkeit die Gründe und Pläne für eine umfassende Reform des Bildungswesens vor. Ein Zeichen des neuen politischen Führungsstils im Gegensatz zur Stalin-Ära war die von ermutigte, lebhaft einsetzende öffentliche Diskussion mit kontroversen Standpunkten über die Kernpunkte der Reform. Die Diskussionen erreichten ihren Höhepunkt, nachdem Chruschtschow in eigenen Memorandum vom 19.09.1958 noch einmal ausführlich seine Vorschläge zur „Festigung der Verbindung der Schule mit dem Leben und zur weiteren Entwicklung des Volksbildungssystem im Lande“ dargelegt und dem ZK der Partei zugeleitet hatte. Daraufhin wurden vom ZK der KPdSU und vom Ministerrat der UdSSR insgesamt 47 Thesen zur Bildungsreform verabschiedet und am 16. November 1958 veröffentlicht. Sie bildeten die Grundlage für das am 24.12.1958 vom Obersten Sowjet der UdSSR beschlossene Gesetz. In den Monaten März bis Mai 1959 wurden dann in den einzelnen Unionsrepubliken entsprechende Gesetze – mit gelegentlich geringfügigen Unterschieden, für die jeweilige Republik verabschiedet.

    Der Grundgedanke der Reform bestand gemäß der These 11 darin, „die gesamte Jugend von einem gewissen Alter an in die gesellschaftlich nützliche Arbeit einzubeziehen und den Unterricht in den Grundlagen der Wissenschaft mit produktiver Arbeit in Industrie und Landwirtschaft zu verbinden. Daraus folgt auch die Notwendigkeit, in der Mittelschule ein richtiges Verhältnis zwischen der allgemeinen, polytechnischen und beruflichen Bildung herzustellen.“

    In seiner Rede auf dem Komsomolkongress drückte sich Chruschtschow deutlicher aus: „Jeder Junge und jedes Mädchen muß wissen, daß sie sich beim Lernen in der Schule auf die Arbeit vorbereiten müssen, um für die Menschen und die Gesellschaft nützliche Werte zu schaffen. Für jeden darf es, unabhängig von der Stellung der Eltern, nur einen Weg geben, zu lernen und, nachdem er ausgelernt hat, zu arbeiten.“

    Die angestrebte Verbindung von Bildung und Produktion bekam neben dem erwähnten arbeitsökonomischen Zweck und der bildungstheoretischen Begründung eine starke gesellschaftliche Note. Chruschtschow meinte auf diese Weise die soziale Entfremdung zwischen der sowjetischen Intelligenz und der Masse der Produktionsarbeiter und Kolchosbauern überwinden zu können. Er schlug folgendes vor: „Meiner Ansicht sollten alle Schüler ohne Ausnahme, nachdem sie die siebente oder achte Klasse beendet haben, in die gesellschaftlich nützliche Arbeit in den Betrieben, Kollektivwirtschaften usw. einbezogen werden. Ob in der Stadt, im Dorf oder in der Arbeitersiedlung, im ganzen Land müssen alle Schulabgänger in die Produktion gehen; keiner soll darum herumkommen. Das wird erstens demokratisch sein, da für alle Bürger gleiche Bedingungen geschaffen werden: weder die Stellung der Eltern noch deren Gesuche werden irgend jemanden von der produktiven Arbeit befreien; zweitens wird das eine ausgezeichnete Schule der Erziehung unserer gesamten Jugend im Geiste der heldenhaften Traditionen der Arbeiter- und Bauernklasse sein.“

    Chruschtschow versuchte in seiner Bildungspolitik, den dialektischen Zusammenhang der ökonomischen und pädagogischen Aufgabe deutlich zu machen, der seit dem Programm der sozialistischen Kulturrevolution als Lenins leitendes Prinzip der sowjetischen Erziehungs- und Bildungspolitik war. Auf dem Allrussischen Lehrerkongress im Juli 1960 führte er aus: „Wir lösen gegenwärtig zwei Aufgaben: die Schaffung der materiell-technischen Basis des Kommunismus und die Erziehung des neuen Menschen. Im Grunde genommen ist das ein einheitlicher Prozeß. Bleiben wir mit der Bildung und Erziehung des Sowjetmenschen zurück, dann wird unvermeidlich der gesamte Aufbau des Kommunismus ins Stocken geraten.“

    Unter Chruschtschow wurde der Versuch unternommen, die revolutionären Potenzen des ideologischen Fernziels zu reaktivieren und die Vision des Kommunismus zu einer unmittelbar motivierenden politischen Kraft werden zu lassen. Das neue Parteiprogramm der KPdSU, das auf dem XXII. Parteitag im Oktober 1961 verabschiedet wurde, enthielt einen Zwanzigjahresplan, an dessen Ende die klassenlose kommunistische Gesellschaft stehen sollte. Als wichtigste Aufgaben auf dem Gebiet der Erziehung des kommunistischen Bewusstseins nannte das Programm sieben Punkte:

     

 

  1. Formung einer wissenschaftlichen Weltanschauung,
  2. Erziehung zur Arbeit,
  3. Entwicklung und Sieg der kommunistischen Moral,
  4. Entwicklung des proletarischen Internationalismus und des sozialistischen Patriotismus,
  5. allseitige und harmonische Entwicklung der menschlichen Persönlichkeit,
  6. Überwindung der Überbleibsel des Kapitalismus im Bewusstsein und Verhalten des Menschen,
  7. Entlarvung der bürgerlichen Ideologie.

 

 

 

Die durch das Unions- und die Republikgesetze beschlossenen Reformen erstreckten sich auf die Struktur des Bildungswesens und auf die Inhalte und Methoden von Erziehung, Unterricht und Studium. Zwischen 1959 und 1963 wurde der gesetzlich vorgeschriebene Rahmen durch zahlreiche weitere Verordnungen und Instruktionen auszufüllen gesucht. Die sowjetischen Schulen und Hochschulen erlebten eine ähnliche Phase der Experimente wie um das Jahr 1930, wenn auch in einem zahlenmäßig größerem Umfang.

 

Das Gesetz vom 24.12.1958 verlängerte die allgemeine Schulpflicht von sieben auf acht Jahre; die Umstellung sollte innerhalb von fünf Jahren erfolgen. Die Stundentafel der neuen Achtjahresschule wies neben den herkömmlichen Unterrichtsfächern 15,3% der zur Verfügung stehenden Zeit für den Werkunterricht aus. Diese Arbeitserziehung sollte auf den polytechnischen Produktionsunterricht vorbereiten, der sich innerhalb der reformierten Mittelschule abspielte. Sie bekam jetzt den Namen „allgemeinbildende polytechnische Arbeits-Mittelschule mit Produktionsunterricht“ und wurde um ein Jahr, d.h. auf insgesamt elf Schuljahre verlängert. Ein Drittel der wöchentlichen Unterrichtszeit in den Klassen 9 bis 11 war nunmehr technischen Fächern, theoretischem und praktischem Produktionsunterricht sowie der „produktiven Arbeit“ vorbehalten. Die Schüler gingen meistens an zwei Tagen in der Woche in Fabriken und auf Baustellen, arbeiteten in landwirtschaftlichen Betrieben mit oder erfüllten in Schulwerkstätten bestimmte Produktionsaufträge der Industrie. Sie wurden für ihre Arbeit nach den bestehenden Normen und Lohntarifen bezahlt. Die Absolventen der Mittelschule erhielten, gemäß der neuen Schulordnung vom 29.12.1959, zusammen mit dem Abiturzeugnis „ein Zeugnis über die erworbene Qualifikation in dem gewählten Beruf“

 

Als den besten Weg zum Erwerb einer vollständigen mittleren Schulbildung hatte Chruschtschow im Herbst 1958 die Schulen der Arbeiter- und Landjugend bezeichnet, die im folgenden Jahr den Namen „allgemeinbildende Abend-bzw.-Schicht-Mittelschulen“ erhielten. Aus den früheren Schulen für eine nachholende Bildung sollte der Prototyp eines produktionsverbundenen Ausbildungsganges werden, der allgemeine und berufliche Elemente miteinander verband und die Trennung zwischen „Schule und Leben“ am besten zu überwinden versprach. Dieser Schultyp expandierte zwischen 1958/1959 und 1962/1963 am stärksten; die Schülerzahl stieg von 2,32 Millionen auf 3,96 Millionen, wovon allerdings nur 1,88 Millionen die drei Oberklassen besuchten.

 

Neben den drei genannten Hauptformen des allgemeinbildenden Schulwesens wurden durch die Reformen von 1958/1959 drei weitere Erziehungseinrichtungen in besonderem Maße weiter ausgebaut:

 

 

 

  1. Die Vorschulerziehung,
  2. Die Internatsschulen,
  3. Die Ganztagsgruppen oder –schulen.

 

 

 

Die bisher getrennt bestehenden und verwalteten Kinderkrippen (bis zu drei Jahren) und Kindergärten (3-7 Jahre) wurden zu einer gemeinsamen Vorschuleinrichtung für Kinder zusammengelegt und den für das Schulwesen zuständigen Behörden unterstellt.

 

Die Internatsschulen wurden schon im Jahre 1956 gegründet. In gewisser Hinsicht verkörperten sie das Zukunftsmodell der angestrebten Erziehung im entwickelten Stadium der kommunistischen Gesellschaft.

 

In der Akademie der pädagogischen Wissenschaften wurde geschätzt, dass bis zum Jahre 1980 40 Millionen Kinder in Vorschuleinrichtungen und 55 bis 60 Millionen Schüler in Internats- und Ganztagsschulen untergebracht sein würden.

 

Im Bereich der beruflich-technischen Bildung brachte das Reformgesetz von 1958 vor allem eine organisatorische Vereinheitlichung mit sich. Die verschiedenen Anstalten im System der staatlichen Arbeitsreserven sollten im Laufe von drei bis fünf Jahren in städtische beruflich-technische Tages- und Abendschulen mit ein- bis dreijähriger Dauer und in ländliche Schulen desselben Typs mit ein- bis zweijähriger Unterrichtszeit umgewandelt werden. Die bisherige Hauptverwaltung der Arbeitsreserven wurde im Jahr 1959 in „Staatskomitee des Ministerrats der UdSSR für beruflich-technische Bildung“ umbenannt und in ein allgemeines Leitungs- und Koordinierungsorgan verwandelt, während die einzelnen Republikbehörden größere Vollmachten erhielten. Da durch die Reform die bisherige allgemeinbildende Mittelschule ebenfalls Aufgaben einer beruflichen Ausbildung übertragen bekam, blieb die Frage offen, wie sich in Zukunft das Verhältnis beider Ausbildungsbereiche zueinander gestalten würde.

 

Für die sowjetischen Hochschulen und die mittleren Fachschulen bedeutete die Reform von 1958/1959 ebenfalls einen erheblichen Einschnitt, wie für das allgemeinbildende Schulwesen. Im Prinzip wurde auch hier die Verbindung von Studium und gesellschaftlich nützlicher Arbeit proklamiert, allerdings mit dem Zusatz, dass „die konkreten Formen der Verbindung der Ausbildung mit der Praxis, mit der Arbeit je nach der Fachrichtung der Hochschule, nach der Zusammensetzung der Studentenschaft sowie nach den nationalen und lokalen Besonderheiten festgelegt werden“

 

Eine wichtige Veränderung betraf die Aufnahmebestimmungen zum Hochschulstudium. Hier waren bereits vor dem Reformgesetz seit dem Jahre 1955 schrittweise die Zulassungsbedingungen dahingehend geändert worden, dass „in erster Linie Personen in die Hochschulen aufgenommen werden, die eine mindestens zweijährige Arbeitspraxis in der industriellen und landwirtschaftlichen Produktion oder in anderen Zweigen der Volkswirtschaft und Kultur abgeleistet und sich bei dieser Arbeit bewährt haben. Das gleiche Recht wird den aus der Reihe der Sowjetarmee und der Kriegsflotte Demobilisierten gewährt.“

 

Diesen Bewerbern wurden bis zu 80% der freien Studienplätze zur Verfügung gestellt, gleichzeitig wurden die Privilegien der Gold- und Silbermedaillenträger unter den Abiturienten vermindert. In manchen Studienfächern wurden die Neuzulassungen ausnahmslos von einer zweijährigen Arbeitstätigkeit abhängig gemacht. Von 1957 bis 1960 stieg der Anteil der für ein Studium zugelassenen Studenten, die über praktische Arbeitserfahrungen verfügten, von 28 auf 59%.

 

Ähnlichen sozialpolitischen Motiven entsprang auch die im September 1959 geregelte „Kommandierung“ ausgewählter „Praktiker“ zum Studium durch die Betriebe, Kolchosen und Behörden sowie die Bevorzugung des Abend- und Fernstudiums an den Hochschulen und Fachschulen. Diese Studienform rückte in der Prioritätenskala nunmehr an die erste Stelle. Es war beabsichtigt, dass einige Studiengänge überwiegend im Fernunterrichtssystem absolviert werden sollten, andere mit dem Tagesstudium begonnen und anschließend während der praktischen Produktionstätigkeit im Abendstudium abgeschlossen wurden.

 

Eine Verordnung vom 02.07.1959 legte umfassende Vergünstigungen (Beurlaubung mit Lohnfortzahlung) für die einzelnen Abschnitte des Fern- und Abendstudiums fest. Im Jahre 1960 gab es 30 selbständige Abend- und Fernhochschulen sowie 880 Fern- und Abendfakultäten an den regulären Hochschulen. Der kontinuierliche Anstieg der Abend- und Fernausbildung in den Hochschulen, der schon Anfang der 1950er Jahre beträchtlich war, führte seit 1959 dazu, dass im Hochschulwesen die Gruppe der Fern- und Abendstudenten die der Vollzeitstudenten überholte und an den mittleren Fachschulen knapp die Hälfte betrug.

 

Die Bevorzugung des Fern- und Abendstudiums, die durch die Reform bewirkt wurde, sollte auch der angestrebten stärkeren „Verbindung des Studiums mit der Produktion“ dienen. Dieser Studienweg schien am ehesten zu gewährleisten, dass die von Chruschtschow beklagte Entfremdung der Intelligenz von den Werktätigen aufgehoben wurde und zugleich eine an den berufspraktischen, konkreten Bedürfnissen der Wirtschaftszweige orientierte Ausbildung erfolgte. Für alle Studienrichtungen, nicht nur für die technischen oder landwirtschaftlichen, wurden Zahl und Dauer der Produktionspraktika erhöht und in den Studienablauf eingebaut. In der neuen „Ordnung für die Hochschulen der UdSSR“ vom 21.03.1961, die das Statut aus dem Jahre 1938 ablöste, wurden die daraus resultierenden Veränderungen ebenfalls berücksichtigt. Die didaktischen und organisatorischen Probleme, die bei der Durchführung auftraten, gaben jedoch zu ständigen Klagen und neuen Vorschriften Anlass. Rund fünf Jahre nach Beginn der Reform musste sich eine gemeinsame Verordnung von ZK und Ministerrat vom 09.05.1963 mit den bestehenden Mängeln auseinandersetzen.

 

Die engste Verbindung von Berufsarbeit und Studium verkörperten die Technischen Betriebshochschulen, deren Errichtung an technisch führenden Industriebetrieben Ende 1959 beschlossen wurde. Die Technischen Betriebshochschulen sollten vor allem eine betriebseigene Intelligenz heranbilden, indem sie „Ingenieure aus den Reihen des betreffenden Betriebes ausbilden, und zwar in der Weise, daß die theoretischen Kenntnisse der Studierenden mit ihrer produktiven Arbeit im Betrieb auf ihrem Fachgebiet (…) während der ganzen Ausbildung und unter breiter Ausnutzung der Produktions- und Laboratoriumsbasen verbunden werden.“

 

Im Jahre 1963 studierten auf diese Weise an den 5 bestehenden Fachhochschulen etwa 7.000 Personen.

 

Die Veränderungen in der Wissenschaftspolitik, die sich auf dem XX. Kongress der KPdSU angedeutet hatten, konzentrierten sich im Jahre 1961 auf eine Reihe von politischen und organisatorischen Maßnahmen. Sie besaßen die Qualität einer historischen Zäsur in der wissenschaftspolitischen Entwicklung. Dazu kam, dass es sich nicht nur um organisatorische Maßnahmen handelte, sondern dass durch neue Definitionsversuche der Rolle der Wissenschaft ein Funktionswandel begründet wurde, der dazu berechtigte, die 1960er Jahre al eine eigene Periode der sowjetischen Wissenschaftspolitik aufzufassen.

 

Seine prägnanteste Formulierung fand dieser Funktionswandel der Wissenschaft in dem neuen Programm der KPdSU, das am 30.10.1961 vom XXII. Kongress der KPdSU angenommen wurde. Im Kapitel über die „Aufgaben der Kommunistischen Partei der Sowjetunion beim Aufbau der kommunistischen Gesellschaft“ wurde im Zusammenhang mit den Aufgaben der Partei beim wirtschaftlichen Aufbau, bei der Schaffung und Entwicklung der materiell-technischen Basis des Kommunismus auch zur Industrie Stellung genommen. Dabei wurde festgestellt, dass die „maximale Beschleunigung des wissenschaftlichen und technischen Fortschritts“ zu den wichtigsten Aufgaben der sowjetischen Bevölkerung gehörte. Über die Rolle der Wissenschaft hieß es dann: „Die Partei wird alles tun, um beim Aufbau der kommunistischen Gesellschaft der ‚Wissenschaft’ noch mehr Gewicht zu verleihen, um Forschungen zu fördern, durch die neue Möglichkeiten zur Entwicklung der Produktivkräfte entdeckt werden, und den neuesten wissenschaftlichen und technischen Erkenntnissen auf jede Weise und schnellstens Eingang in die Praxis zu verschaffen, die Forschungs- und Versuchsarbeiten, namentlich unmittelbar in der Produktion, entschieden zu intensivieren und die wissenschaftliche und technische Information sowie das ganze System der Auswertung und Weiterleitung der besten Erfahrungen des In- und Auslands mustergültig zu gestalten. Die Wissenschaft wird in vollem Maße zu einer unmittelbaren Produktivkraft.“

 

Die Formel von der Wissenschaft als einer unmittelbaren Produktivkraft hat während der 1960er Jahre in der wissenschaftspolitischen Diskussion als Leitmotiv gewirkt. In der Theorie markierte sie für die Sowjetunion den Übergang von der partiellen zur systematischen Wissenschaftspolitik, als deren Kennzeichen die Leitung der wissenschaftlichen Forschung im Gesamtmaßstab der Sowjetunion anzusehen ist. Die enge Verbindung der Wissenschaft mit Technik und Produktion fand auch darin ihren Ausdruck, dass man in diesem Zusammenhang von einem „System Wissenschaft-Produktion“ sprach. Inhaltlich ging es darum, sich von der Konzeption einer in mehrere, vertikal gegliederte Bereiche geteilten Durchführung der wissenschaftlichen Forschung, wie sie sich organisatorisch im Laufe der 1930er Jahre herausgebildet hatte, zu trennen. Auch die Teilung zwischen Grundlagenforschung, angewandter Forschung und Entwicklung erschien nach dieser neuen Definition nicht mehr zeitgemäß. Stattdessen war das „System Wissenschaft-Produktion“ aufzufassen als ein einheitlicher Innovationsprozess, der von der ersten theoretischen Hypothese über die verschiedenen Stadien der Entwicklung und Erprobung bis hin zum fertigen Produkt oder Verfahren einen in sich zusammenhängenden Vorgang bildete.

 

Dieser neuen Auffassung standen nicht nur organisatorische Schwierigkeiten entgegen, sondern auch Eigentümlichkeiten der sowjetischen Wirtschaftsverwaltung, die sich unmittelbar aus der sozialistischen Gesellschaftsordnung ergaben. Die Einführung neuer Verfahren oder Produkte in der Produktion stieß nicht selten auf den Widerstand in den Betrieben, denen primär nicht an Gewinnmaximierung, sondern an Planerfüllung gelegen sein musste. Es gewannen daher Überlegungen die Oberhand, wie die Sicherung der Verbindung zwischen wissenschaftlicher Forschung und der Einführung ihrer Ergebnisse in den Produktionsprozess zu gewährleisten sei: dies machte den Gegenstand der wissenschaftspolitischen Diskussion in den 1960er Jahren in der Sowjetunion aus.

 

Nach Stalins Tod wurden die kulturellen und wissenschaftlichen Austauschprogramme wieder belebt. Zunächst wurden systematisch mit allen volksdemokratischen Ländern Abkommen über den wissenschaftlichen Austausch geschlossen. Der Hochschulbereich und der wissenschaftlich-technische waren allgemein durch Sonderabkommen gedeckt. Die Akademie der Wissenschaften der UdSSR hat in der Regel selbständige Abkommen mit analogen Institutionen anderer Länder abgeschlossen. Partner waren unter anderem die Royal Society, National Academy of Sciences of the USA, American Council of Learned Societies und die Deutsche Forschungsgemeinschaft. Die zum Zuständigkeitsbereich des Staatskomitees für Wissenschaft und Technik gehörende angewandte Forschung, insbesondere die Ingenieurswissenschaften, waren vom individuellen Austausch ausgeschlossen. Teils unmittelbar von der westlichen Industrie, teils von staatlichen Stellen wurden Gruppeninformationsreisen vereinbart.

 

Zahlenmäßig das größte Gewicht hatte der Austausch mit dem Ministerium für Hochschul- und mittlere Fachschulbildung der UdSSR, dem alle Universitäten und Hochschulen unterstanden. Es handelte sich nicht um einen Studentenaustausch, da von sowjetischer Seite aus lediglich Hochschulabsolventen, bevorzugt Aspiranten, die ihre Dissertation vorbereiteten, entsandt wurden. Von sowjetischer Seite aus wurden etwa 80% qualifizierte Nachwuchswissenschaftler der technischen und naturwissenschaftlichen Fächer entsandt, die eine Fortbildung in aktuellen Schwerpunktgebieten anstrebten. Neben dem langfristigen Austausch wurde ein kurzfristiger für Hochschullehrer durchgeführt. Der Austausch von Wissenschaftlern bildete für die Sowjetunion insbesondere im ökonomisch-technischen Bereich ein großes Anliegen. Das von der KPdSU gesetzte Ziel, „auf allen Hauptgebieten die führenden Positionen in der internationalen Wissenschaft einzunehmen“, prägte die Struktur (Entsendungssystem, Ablehnung und Begrenzung westlicher Anträge) sowjetischer internationaler Wissenschaftspolitik.

 

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