Bau der Berliner Mauer

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Die Entscheidung über die Errichtung der Mauer fiel auf einer Zusammenkunft der Warschauer-Pakt-Staaten Anfang August 1961. Sie unterstützen die DDR-Regierung bei der Durchführung dieses Schrittes. Den Bewohnern der DDR war jede Möglichkeit genommen, nach Westberlin zu gelangen. Den Westberlinern war es dagegen noch bis zum 22. August erlaubt, Ostberlin zu betreten. Einwohner der übrigen Bundesrepublik durften weiterhin Ostberlin besuchen, wozu sie eine Aufenthaltsgenehmigung brauchten. Die DDR bezeichnete den Bau der Mauer als „antifaschistischen Schutzwall“ und als „Sieg des sozialistischen Lagers über den westlichen Imperialismus".

 

Die Berlin-Krise

 

 

 

Am 27.11.1958 richtete die Sowjetunion Noten an die drei Westmächte, die Bundesrepublik und die DDR, in denen sie für Westberlin den Status einer „freien und entmilitarisierten Stadt“ forderte und eine einseitige sowjetische Aktion zur Beendigung des Viermächte-Besatzungsstatuts in Berlin nach Ablauf von sechs Monaten androhte.[1]

 

In der Note der Sowjetunion an die USA hieß es dazu:[2] „(…) Man muß natürlich berücksichtigen, daß die politische und wirtschaftliche Entwicklung Westberlins in der Zeit seiner Besetzung durch die drei Westmächte in einer anderen Richtung verlief als die Entwicklung Ostberlins und der DDR, so daß die Lebensformen in beiden Teilen Berlins gegenwärtig grundverschieden sind. Die Sowjetregierung ist der Meinung, daß der Bevölkerung Westberlins bei Beendigung der ausländischen Besetzung das Recht gewährt werden muß, solche Verhältnisse bei sich zu haben, die sie selbst wünscht. Wenn die Einwohner Westberlins die gegenwärtigen Lebensformen beizuhalten wünschen, die auf privatkapitalistischem Eigentum beruhen, so ist das ihre Angelegenheit. Die UdSSR ihrerseits wird jede Wahl der Westberliner in dieser Beziehung respektieren. In Anbetracht aller dieser Erwägungen würde es die Sowjetregierung ihrerseits für möglich erachten, daß die Frage Westberlins gegenwärtig durch Umwandlung Westberlins in eine selbständige politische Einheit – eine Freistadt – gelöst werde, in deren Leben sich kein Staat, darunter auch keiner der bestehenden zwei deutschen Staaten, einmischen würde. Man könnte unter anderem vereinbaren, daß das Gebiet der Freistadt entmilitarisiert werde und daselbst keinerlei Streitkräfte stationiert werden. Die Freistadt Westberlin könnte eine eigene Regierung haben und ihre Wirtschaft, ihre Verwaltungs- und sonstigen Angelegenheiten selbst lenken. Die vier Mächte, die nach dem Kriege an der gemeinsamen Verwaltung Berlins beteiligt waren, wie auch die zwei deutschen Staaten, könnten die Verpflichtung übernehmen, den Status Westberlins als Freistadt zu achten, wie das beispielsweise die vier Mächte in bezug auf den von der österreichischen Republik übernommenen Neutralitätsstatus getan haben. Die Sowjetregierung ihrerseits hätte keine Einwände dagegen, daß in irgendeiner Form auch die Organisation der Vereinten Nationen an der Wahrung des Status der Freistadt Westberlins mitwirken würde. Offensichtlich würde in Anbetracht der spezifischen Lage Westberlins, das sich auf dem Territorium der DDR befindet und von der Außenwelt abgeschnitten ist, die Frage auftauchen, mit der DDR in dieser oder jenen Form eine Vereinbarung überGarantien für einen ungehinderten Verkehr in der Freistadt mit der Außenwelt –sowohl in östlicher als auch in westlicher Richtung -, für die Freizügigkeit der Menschen und die Beförderung der Waren zu treffen. Westberlin würde seinerseits die Verpflichtung übernehmen, in seinem Gebiet keine feindselige, subversive Tätigkeit gegen die DDR oder einen beliebigen anderen Staat zu dulden. Die Sowjetregierung strebt danach, daß die erforderliche Änderung der Lage Berlins in einer ruhigen Atmosphäre ohne Eile und unnötige Reibungen unter möglichst weitgehender Berücksichtigung der Belange der interessierten Seiten erfolge. (…) In Anbetracht dessen gedenkt die Sowjetregierung, im Laufe eines halben Jahres keine Änderungen an dem gegenwärtig geltenden Modus für Militärtransporte der USA, Großbritanniens und Frankreichs aus Westberlin in die Bundesrepublik vorzunehmen. Sie hält diese Frist für durchaus hinreichend, um eine gesunde Basis für die Lösung der Fragen zu finden, die mit der Änderung der Lage Berlins verbunden sind. Wird die erwähnte Frist jedoch nicht dazu ausgenutzt, zu einer entsprechenden Einigung zu gelangen, so wird die Sowjetunion durch Übereinkommen mit der DDR die geplanten Maßnahmen durchführen. Hierbei wird in Betracht gezogen, daß die DDR, wie jeder andere selbständige Staat, ganz für die Fragen zuständig sein muß, die ihren Raum betreffen, das heißt, ihre Hoheitsrechte zu Lande, zu Wasser und in der Luft ausüben muß. Gleichzeitig damit werden alle bisherigen Kontakte mit Vertretern der Streitkräfte und anderen offiziellen Personen der USA sowie Großbritanniens und Frankreichs in Berlin betreffende Fragen eingestellt werden.“

 

Das Datum dieser Note war zugleich die diplomatische Geburtsstunde der kommunistischen Dreistaatentheorie. Diese Theorie, die bei dem Passierscheinabkommen vom 17.12.1963 eine zentrale Rolle spielen sollte, besagte, dass die Entwicklung nach der Befreiung Deutschlands vom Nationalsozialismus zu drei Staaten geführt habe: die DDR, die Bundesrepublik und „Besonderes Territorium Westberlin“, das weder zur Bundesrepublik noch zur DDR gehöre. Diese kommunistische These verneinte also die staatsrechtliche Zugehörigkeit Westberlins zur Bundesrepublik.[3]

 

Die Motive und Ziele des ultimativen Schrittes der Sowjetunion in der Berliner Frage waren offensichtlich. Es war der Versuch, den Westen zur Anerkennung der DDR zu zwingen und die Bereitschaft, Westberlin in das kommunistische Lager zu integrieren.

 

Die Sowjetunion hatte bei Nichtanerkennung ihres Vorschlages und Nichtbeachtung ihres Ultimatums, womit sie rechnete, die Übertragung ihrer Rechte aus den seit 1945 bestehenden alliierten Vereinbarungen an die Organe der DDR angekündigt. Das hätte zu weitreichenden und folgenschweren Konsequenzen für den Transitverkehr von Zivilpersonen, Truppen und Gütern zwischen den Westsektoren Berlins und der Bundesrepublik führen müssen. Die Wiederholung der Blockade Berlins von 1948 drohte. US-Außenminister John Foster Dulles entwickelte zu diesem Zeitpunkt die so genannte Agententheorie, durch die er Verhandlungen der Westmächte mit Beauftragten der DDR als Agenten der Sowjetunion für möglich hielt, sofern die Sowjetunion hierdurch nicht aus ihrer Verantwortung für Berlin entlassen und die DDR nicht anerkannt würde. Der Vollzug dieser Theorie trat aber nicht ein.

 

Die Eingliederung Westberlins in das kommunistische Lager war von höchster Priorität. Schon seit 1956/57 beschäftigte die DDR-Führung die Berlinfrage intensiv. Über Westberlin flüchteten jährlich Tausende aus der Zone in die Bundesrepublik. Das Flüchtlingsproblem störte die DDR nicht nur wegen der volkswirtschaftlichen Auswirkungen, sondern auch wegen des ideologischen Autoritätsverlustes. Das Drängen Ulbrichts auf Lösung des Berlinproblems hatte aber erst im Herbst 1958 Erfolg. Chruschtschows Rede im Moskauer Sportpalast vom 10.11.1958, in der er den Viermächtestatus Berlins durch Verletzung des Potsdamer Abkommens als überholt bezeichnete und für den Abschluss eines deutschen Friedensvertrages eintrat, bereitete die Welt auf die Berlin-Krise vor, die durch die sowjetische Note vom 27.11.1958 ausgelöst wurde.[4]

 

Der sowjetische Vorschlag war für den Westen unannehmbar.[5] Die Westmächte, die übrigen Mitglieder der NATO, Regierung, Opposition und Öffentlichkeit in der Bundesrepublik und Westberlin lehnten die Note ab.[6] Willy Brandt gab am 20.11.1958 zu den sowjetischen Forderungen vor dem Berliner Abgeordnetenhaus eine Erklärung ab, die das Anwesenheitsrecht der Westmächte in Berlin begründete und die Auffassungen des Weißen Hauses und des britischen Auswärtigen Amtes wiedergab:[7] „Über den Status Berlins im geteilten Deutschland gibt es einen Strauß internationaler Vereinbarungen, die fälschlich als Teil des Potsdamer Abkommens bezeichnet worden sind. Zwischen den Westmächten und der Sowjetunion handelt es sich vor allem um die Londoner Vereinbarungen vom 12. September 1944, die am 5. Juni 1945 in Berlin ergänzt wurden. In der Londoner Vereinbarung ist ausdrücklich von einem ‚Berliner Gebiet’ die Rede, das ‚unter der gemeinsamen Besatzung’ der Mächte stehen solle, und es wurde weiter festgelegt, daß die Streitkräfte der UdSSR die ‚Ostzone’ zu besetzen hätten ‚mit Ausnahme des Berliner Gebiets, für das ein Besatzungs-Sondersystem vorgesehen ist’. Diesen Text reihen sich die Vereinbarungen an, mit denen die Beschlüsse der Pariser Außenministerkonferenz vom Frühsommer 1949 bestätigt und ergänzt wurden.[8] Hier handelt es sich vor allem um die Wiederherstellung des ungehinderten Verkehrs von und nach Berlin. Jene Verträge und Abmachungen sind die Grundlage der freiheitlich-demokratischen Ordnung in Westberlin, der Unterstellung Westberlins unter die oberste Gewalt der drei Mächte, unseres Gemeinwesens überhaupt, das – unter einem frei gewählten Stadtparlament und einer der Volksvertretung verantwortlichen Regierung – allen Hindernissen zum Trotz unbestreitbare Leistungen des Aufbaues und wesentliche Erfolge im Interesse der Bevölkerung zu verzeichnen hat. Aus internationalen Verträgen, aus völkerrechtlichen Vereinbarungen kann man sich nicht einseitig lösen, ohne rechtsbrüchig zu werden. Wer glaubt, sich darüber hinwegsetzen zu können, wird selbst sehr ernste Rückwirkungen in Kauf nehmen müssen.“

 

Die Ablehnung der sowjetischen Vorschläge hatten verschiedene Gründe.[9]

 

Die Annahme des sowjetischen Vorschlages hätte zur Anerkennung der DDR geführt, da der sowjetische Plan die Teilnahme der DDR am Abschluss und an der Durchführung des Berliner Abkommens vorsah. Mit der „freien“ Stadt Berlin würde ein dritter deutscher Staat geschaffen.

 

Die politische und wirtschaftliche Unabhängigkeit Berlins wäre ständig bedroht gewesen. Mit der Übernahme der Kontrolle der Verbindungswege in der Luft, zu Wasser und zu Lande durch ihre Organe hätte die DDR-Regierung ein Instrument der möglichen Erpressung in die Hand bekommen. In einer solchen permanent unsichren Situation gäbe es keine politische Unabhängigkeit einer autonomen Stadtregierung.

 

Die sowjetischen Truppen würden, aus dem Ostsektor Berlins abgezogen, an der Stadtgrenze vor Gesamtberlin stehen. Die Truppen der westlichen Mächte müssten in die Bundesrepublik abgezogen werden. Paramilitärische Verbände und Volkspolizei blieben in Ostberlin. Dies wäre aus Sicht des Westens keine Garantie für den Schutz der „Freistadt Berlin“.

 

 

 

 

 

 

 

Der sowjetische Friedensvertragsentwurf

 

 

 

Am 11.01.1959 legte die Sowjetregierung 28 Staaten den Entwurf eines Friedensvertrages mit Deutschland, der 48 Artikel enthielt, vor. Die Berlin-Note vom 27.11.1958 wie der Friedensvertragsentwurf war als Versuch der sowjetischen Politik zu werten, die Anerkennung der DDR zu erreichen.

 

Die fünf wichtigsten Punkte des sowjetischen Entwurfes waren die folgenden:[10]

 

  1. Die völkerrechtliche Anerkennung der endgültigen Teilung Deutschlands wurde gefordert. Der Friedensvertrag sollte mit zwei deutschen Staaten abgeschlossen werden. Im Fall der Bildung einer deutschen Konförderation sollten ihre Organe zusammen mit den Regierungen beider deutschen Staaten den Friedensvertrag unterzeichnen. Bei der endgültigen Teilung Deutschlands würde es sich zunächst um eine Dreiteilung gehandelt haben, da Artikel 25 des Entwurfes vorsah, Westberlin bis zur Wiederherstellung der Einheit Deutschlands den Status einer entmilitarisierten Freien Stadt zu geben.

  2. In Artikel 5 wurde die Neutralisierung Deutschlands gefordert:[11] „Deutschland verpflichtet sich, keinerlei Militärbündnisse einzugehen, die gegen irgendeinen Staat, der Teilnehmer des vorliegenden Vertrages ist, gerichtet sind, sowie nicht an Militärbündnissen teilzunehmen, deren Teilnahme nicht alle vier wichtigsten Verbündeten der Anti-Hitler-Koalition, die UdSSR, die USA, das Vereinigte Königreich und Frankreich, sind.“ Der Austritt der Bundesrepublik aus der NATO und der Westeuropäischen Union und der der DDR aus dem Warschauer Pakt wären die Folgen gewesen.

  3. Die Forderung nach einer weitgehenden Entmilitarisierung Deutschlands stand im Raum. Die dem deutschen Staat zugestandenen eigenen nationalen Streitkräfte waren so schwach gehalten, dass sie nicht in der Lage gewesen wären, die Neutralität Deutschlands in einem bewaffneten Konflikt zu schützen.

  4. Es wurde die Wiederzulassung der KPD in der Bundesrepublik und das Verbot politischer Betätigung revanchistischer Organisationen und Parteien postuliert, die „eine Überprüfung der Grenzen Deutschlands fordern oder territoriale Ansprüche an andere Staaten zum Ausdruck bringen.“ (Artikel 17).[12]

  5. Der Anspruch der völkerrechtlichen Anerkennung der Oder-Neiße-Linie als Ostgrenze Deutschlands wurde erhoben. Der Artikel 8, Absatz 1 des Vertragsentwurfs lautete: „Die Grenzen Deutschlands werden so sein, wie sie am 1. Januar 1959 waren.“[13]

     

    Der Westen reagierte auf den sowjetischen Friedensvorschlag negativ. Er sah als unerlässliche Voraussetzung für eine Erfolg versprechende Lösung der deutschen Frage freie Wahlen als ersten Schritt an. Die Bildung einer gesamtdeutschen Regierung konnte nach Auffassung des Westens sich nur auf diesem Wege vollziehen. Machte Molotow noch auf der Londoner Außenministerkonferenz von 1947 die Unterzeichnung eines Friedensvertrages von der vorherigen Errichtung einer gesamtdeutschen Zentralregierung abhängig, so sollte sich diese Einstellung im Laufe der Jahre grundlegend wandeln. Der Gedanke der Zentralregierung wurde verdrängt durch den einer provisorischen gesamtdeutschen Regierung und den einer Ost- und Westdeutschland umfassenden Konförderation, wie von Ulbricht vorgeschlagen.

    Mit dem Friedensvertragsentwurf von 1959 leitete die Sowjetunion aber eine neue Phase der Deutschlandpolitik ein, indem sie auf völkerrechtlich unvollkommen arbeitende Zwischenlösungen verzichtete und nicht nur die Aushandlung, sondern auch die Annahme und Unterzeichnung eines Friedensvertrages durch zwei deutsche Staaten forderte. Das, was als eigentliches Ziel sowjetischer Deutschlandpolitik schon seit Juli 1955 nicht mehr verborgen geblieben war, wurde jetzt in aller Öffentlichkeit verbindlich fixiert: die deutsche Wiedervereinigung wurde nicht mehr gewünscht.[14] Die Moskauer Politik berief sich mit Nachdruck auf das Modell von Potsdam, das sie in ihrer Besatzungszone verwirklicht sah. Die Westmächte hatten sich von diesem Potsdamer Modell in sowjetischer Auslegung (neutralisiertes und entmilitarisiertes Deutschland) frühzeitig gelöst und sich zum Wiederaufbau und zur Integration Westeuropas sowie zu seiner militärischen Sicherung entschlossen.[15]

     

     

     Die Genfer Außenministerkonferenz

     

    Die Regierung der Sowjetunion ließ keinen Zweifel am Abschluss eines separaten Friedensvertrages mit der DDR und den östlichen kommunistischen Staaten, falls der Westen den Entwurf ablehnen sollte.[16] Die durch Chruschtschow ausgelöste Berlin-Krise schufen eine starke internationale Spannung und in Deutschland und der DDR einen hohen Grad von Besorgnis, die etwas abgemildert wurde durch eine im März 1959 erreichte Vereinbarung über eine Außenministerkonferenz der vier Mächte in Genf. [17]

    Der Westen zeigte Geschlossenheit, die in der Rede des amerikanischen Präsidenten Eisenhower vom 16.03.1959 ihren Ausdruck fand. Eisenhower ließ nicht den geringsten Zweifel zu, dass die USA ihre Rechte und Pflichten in Berlin wahrnehmen würden, zeigte sich aber auch zu Verhandlungen bereit. Der ultimative Charakter, den die sowjetische Berlin-Note zweifellos besaß, wurde von Chruschtschow auf einer Pressekonferenz am 19. März bestritten. Entgegen dem Notentext räumte er den Westmächten legitime Anwesenheitsrechte in Berlin ein.[18]

    Der französische Präsident de Gaulle gab in einer Pressekonferenz ebenfalls deutlich zu erkennen, dass Frankreich in der deutschen wie in der Berlin-Frage den gleichen Standpunkt wie seine beiden Alliierten einnehme. In der Frage der Anerkennung der deutschen Grenzen deckte sich aber seine Auffassung mit der der Sowjetunion in Artikel 8 des Friedensvertrages. Er stellte fest:[19] „Die Wiedervereinigung der beiden Teile Deutschlands zu einem einzigen Deutschland, das völlig frei sein würde, scheint uns das natürliche Schicksal des deutschen Volkes zu sein unter der Bedingung, daß dieses Deutschland nicht seine augenblicklichen Grenzen im Westen, im Osten, im Norden und im Süden in Frage stellt.“

    Chruschtschow hatte sich in der von ihm seit dem 27.11.1958 eingeleiteten krisenhaften Entwicklung so exponiert, dass es ein Teilziel des westlichen Konferenzprogramms für Genf war, ihm eine Brücke zum Rückzug zu bauen, ohne dass er sein Gesicht verloren hätte. Diesen Rückzug hatte er bereits mit seinen Antworten auf der Moskauer Pressekonferenz vom 19.03.1959 bereits eingeleitet. Das hatte er schon anlässlich eines Besuches in der DDR vom 04-12.03.1958 getan, als er am 9. März in Ostberlin erklärte:[20] „Wenn nötig, werden wir auch damit einverstanden sein, daß die USA, England und Frankreich und die Sowjetunion oder neutrale Länder in Westberlin ein Minimum an Truppen haben sollen, die die Einhaltung des Status der Freien Stadt zu sichern hätten, sich aber nicht in das innere Leben der Stadt einmischen dürften.“

    Die Genfer Außenministerkonferenz, die vom 11.05-05.08.1959, mit einer Unterbrechung vom 21.06-12.07. tagte, sah als Teilnehmer neben den vier Konferenzmächten USA, Großbritannien, Frankreich und die Sowjetunion die Bundesrepublik und die DDR. Der Versuch Moskaus, mit der gleichberechtigten Platzierung der Regierungsvertreter beider deutschen Staaten am Konferenztisch die völkerrechtliche de-facto-Anerkennung der DDR durchzusetzen, scheiterte am Widerstand der Westmächte. Die beiden deutschen Delegationen unter Führung ihrer Außenminister erhielten nur den Status als Berater und getrennte Tische zugewiesen. An den Geheimsitzungen nahmen sie nicht teil. Trotzdem förderte das gleichberechtigte Auftreten der beiden die Aufwertung der DDR.[21]

    Der Außenminister der USA, Herter, legte im Namen der Westmächte und in Übereinstimmung mit der Bundesregierung am 14. Mai einen Stufenplan für die deutsche Wiedervereinigung und für einen deutschen Friedensvertrag vor, der in seinen Grundzügen vorsah:[22]

 

  1. Ost- und Westberlin sollen durch freie Wahlen unter UN- oder Viermächte-Überwachung vereint werden. Ein für Berlin frei gewählter Rat, der die Stadt nach eigenem Ermessen verwalten könne, wäre der erste Schritt der Wiedervereinigung. Die Freiheit und Unverletzlichkeit Berlins werde durch die vier Mächte garantiert, deren Streitkräfte in Berlin stationiert bleiben.
  2. Die vier Mächte setzen einen gemeinsamen deutschen Ausschuss ein, der Beschlüsse mit Dreiviertelmehrheit fasst. Er wird bestellt von den jeweiligen Behörden und setzt sich aus 25 Mitgliedern aus der BRD und 10 Mitgliedern aus der DDR zusammen. Die Aufgaben des Ausschusses sind die Vorschläge für technische Kontakte, Freizügigkeit von Personen, Sicherung der Menschenrechte sowie die Ausarbeitung eines Gesetzentwurfes zu allgemeinen, geheimen und freien Wahlen unter unabhängiger Kontrolle. Über den Wahlgesetzentwurf soll eine Volksabstimmung entscheiden. Falls der Ausschuss innerhalb eines Jahres keinen solchen Gesetzentwurf vorlegt, sollen die Bundesrepublik und die DDR je einen Entwurf aufstellen. Über beide Entwürfe soll in ganz Deutschland abgestimmt werden. Der Wahlgesetzentwurf mit Stimmenmehrheit erhält Gesetzeskraft.
  3. Nach spätestens zweieinhalb Jahren sollen Wahlen unter Kontrolle für eine gesamtdeutsche Versammlung  in beiden Teilen Deutschlands gemäß Wahlgesetz abgehalten werden. Es wird eine Verfassung nach dem Grundsatz der Förderation durch die gesamtdeutsche Versammlung ausgearbeitet. Eine gesamtdeutsche Regierung, die nach dieser Verfassung gebildet wird, ersetzt die Regierungen der BRD und der DDR und erhält innere und äußere Entscheidungsfreiheit vorbehaltlich der Rechte und Verantwortlichkeit der vier Mächte für Berlin und Deutschland als Ganzes (Wiedervereinigung, Friedensvertrag, Truppenstationierung). Die gesamtdeutsche Regierung soll Verhandlungen über einen deutschen Friedensvertrag aufnehmen.
  4. Es soll eine endgültige Friedensregelung mit der gesamtdeutschen Regierung abgeschlossen werden. Allen ehemaligen Kriegsgegnern steht der Beitritt offen. Die Friedensregelung tritt in Kraft, wenn die entsprechenden Verträge durch die vier Mächte ratifiziert worden sind.

 

 

 

Dieser westliche Vorschlag für einen Friedensplan von 1959 enthielt gegenüber den Plänen der Außenminister von 1955 einige bemerkenswerte Zugeständnisse:[23]

 

  1. Freie Wahlen standen nicht mehr am Beginn des Wiedervereinigungsprozesses.
  2. Das Wahlgesetz sollte nicht mehr von den vier Mächten, sondern von der deutschen Bevölkerung selbst ausgearbeitet werden bzw. im Fall einer Nichteinigung einer Volksabstimmung unterzogen werden.
  3. Ein gemischter deutscher Ausschuss wurde im Gegensatz zu 1955 erstmalig vorgeschlagen, somit also eine Kontaktnahme zwischen beiden Teilen Deutschlands.

 

 

 

Außenminister Gromyko legte den sowjetischen Friedensvertragsentwurf vom 10.01.1959 als Verhandlungsgrundlage vor. Im Gegensatz zu den westlichen Vorschlägen wünschte die Sowjetunion zuerst den Abschluss eines Friedensvertrages – ausgearbeitet von einer paritätisch besetzten Kommission aus Vertretern beider Teile Deutschlands – mit beiden deutschen Staaten und betrachtete die Wiedervereinigung als eine ausschließlich deutsche Angelegenheit. Hinsichtlich Westberlins beharrte die Sowjetunion auf ihrer Forderung, dieser Stadt den Status einer freien, entmilitarisierten Stadt zu geben.[24]

 

Die westliche wie die östliche Delegation lehnten die Vorschläge der Gegenseite ab.

 

Im Zuge weiterer modifizierter Vorschläge über Westberlin befristete Gromyko das westliche Besatzungsrecht auf eineinhalb Jahre. Der Westen erklärte am 16. Juni in einem Kompromissvorschlag sein Einverständnis zur Beschränkung seines Berliner Truppenkontingents auf insgesamt 110.000 Personen.

 

Die Genfer Außenministerkonferenz blieb also ergebnislos. Sie erreichte weder eine umfassende Vereinbarung zur deutschen Frage und zur europäischen Sicherheit, noch gelang ihr das Nahziel einer Interimslösung über Berlin, obwohl beide Seiten sich in dieser Frage in einigen Punkten recht nahe gekommen waren. Das Berlin-Problem, der eigentliche Kern der Genfer Konferenz, blieb zwar ungelöst, aber am 27.05.1959, dem Datum des Ablaufs des Ultimatums, brach kein Krieg aus, sondern die Weltmächte saßen am Verhandlungstisch. Hierin allein bestand schon ein Erfolg der Genfer Konferenz. Ein weiteres Ergebnis war eine Art stillschweigenden Einvernehmens über den Status quo in Berlin.[25] Chruschtschow hatte in seiner Moskauer Rede vom 19.06.1959 anlässlich des Empfanges einer Delegation der DDR unter Führung von Ulbricht und Grotewohl gesagt:[26] „In Anbetracht dessen, daß die Westmächte gegenwärtig nicht bereit sind, einer endgültigen und unverzüglichen Annullierung des Besatzungsregimes in Westberlin zuzustimmen, gab die Sowjetregierung Genossen Gromyko die Anweisung, gegen die Beibehaltung der Besatzungsrechte der drei Mächte in Westberlin für eine bestimmte Zeit keine Einwände vorzubringen.“

 

Die Spannungen um Berlin waren damit praktisch auf den Stand vor dem 27.11.1958 reduziert. Die Tagung in Genf führte zwar im Gesamtaspekt der deutschen Frage unter Einschluss Berlins zu keinem Ergebnis in der Sache, wohl aber zu einem Ausbruch aus dem gefährlichen Bannkreis gesetzter Fristen. Unmittelbarster Nutznießer dieser psychologischen Entspannung war die Berliner Bevölkerung. Wenn schließlich das Scheitern der Genfer Konferenz keine deprimierende Wirkung zeigte, lag das an der Einladung Chruschtschows durch Präsident Eisenhower zu einem Besuch in den USA. Diese Einladung wurde als ein weiterer Schritt zur Entspannung aufgefasst.[27]

 

 

 

 

 

 

 Der Deutschlandplan der SPD

 

 

 

Von einem Einverständnis in der Wiedervereinigungspolitik zwischen Regierung und Opposition konnte nicht gesprochen werden; die Fronten waren im Gegenteil außerordentlich verhärtet. Mitte März veröffentlichten die beiden Oppositionsparteien SPD und FDP Vorschläge zur Lösung der deutschen Frage. Während das Konzept der FDP die Ausarbeitung von Verträgen über europäische Sicherheit, deutsche Friedensregelung und Wiedervereinigung vorsah, die alle gleichzeitig in Kraft treten sollten, so setzte der Deutschland-Plan der SPD vom 18.03.1959 eine allmähliche Annäherung in Stufen voraus.[28] Er ging aus von einer allgemeinen Sicherheitsvereinbarung für Mitteleuropa und berücksichtigte Vorstellungen, die der US-Diplomat Kennan, der britische Oppositionsführer Gaitskell und der polnische Außenminister Rapacki entwickelt hatten. Der Plan wurde vorgelegt in der Sorge, dass, wenn sich die Großmächte nicht über Berlin einigten, Krieg drohe und, wenn sie sich nur über Berlin verständigten, die deutsche Teilung endgültig wäre. Der Deutschlandplan lautete im Wortlaut seiner wesentlichsten Auszüge:[29] „Die langjährige Teilung Deutschlands hat zu einer strukturell grundverschiedenen politischen und wirtschaftlichen Entwicklung in beiden Teilen Deutschlands geführt. Hieraus ergibt sich zwangsläufig, daß die Wiederherstellung der staatlichen Einheit Deutschlands durch eine frei gewählte Nationalversammlung eine allmähliche Annäherung in Stufen voraussetzt. (…)

 

Die erste Stufe:

 

Die politische Zusammenführung beginnt in der ersten Stufe mit der Bildung einer Gesamtdeutschen Konferenz. Beide deutschen Regierungen entsenden Beauftragte auf der Grundlage der Parität. Die Gesamtdeutsche Konferenz hat die Aufgabe, Regelungen über innerdeutsche Angelegenheiten zu vereinbaren. Soweit diese Regelungen der Zustimmung verfassungsmäßiger Organe der Teile Deutschlands bedürfen, bleiben deren Zuständigkeiten unberührt. Die Gesamtdeutsche Konferenz ist von allen Gesetzesvorlagen des Bundestages und der Volkskammer zu unterrichten und muß sich hierzu äußern. Die Gesamtdeutsche Konferenz setzt zur Wahrung der Einheitlichkeit in der Auslegung der Menschenrechte und Grundfreiheiten ein Gesamtdeutsches Gericht ein, das in letzter Instanz entscheidet. Seine Mitglieder werden auf die Charta der Menschenrechte der Vereinten Nationen vereidigt. (…)

 

Die zweite Stufe:

 

In der zweiten Phase der politischen Zusammenführung wird ein Gesamtdeutscher Parlamentarischer Rat errichtet. Seine Mitglieder, die in ganz Deutschland Immunität genießen, werden je zur Hälfte in beiden Teilen Deutschlands gewählt. Die Gesamtdeutsche Konferenz schreibt diese Wahl aus. Dem Gesamtdeutschen Parlamentarischen Rat wird die gesetzgeberische Zuständigkeit, insbesondere für Eisenbahn, Straßenverkehr, Binnenschifffahrt, Post- und Fernmeldewesen und zur Förderung der volkswirtschaftlichen Erzeugung, übertragen. Er hat ferner die Befugnis, den Missbrauch wirtschaftlicher Macht zu verhindern und den gewerblichen Rechtsschutz zu regeln. Gegen die von ihm erlassenen Gesetze kann jede der beiden Regierungen in einer bestimmten Frist Einspruch erheben. Der Gesamtdeutsche Parlamentarische Rat kann diesen Einspruch mit Zweidrittelmehrheit zurückweisen.

 

Die dritte Stufe:

 

In der dritten Stufe der Zusammenführung befasst sich der Gesamtdeutsche Parlamentarische Rat mit der Vorbereitung von gesamtdeutschen Gesetzen zum Steuersystem, Finanzausgleich, zur Zollunion, zur Währungsunion und zur sozialpolitischen Anpassung. Eine gesamtdeutsche Willensbildung kann auch durch Volksabstimmungen herbeigeführt werden. Auf Antrag von einer Million Wahlberechtigten wird ein Gesetzentwurf einheitlich in beiden Teilen Deutschlands zur Volksabstimmung gestellt. Widerspricht eine der beiden Regierungen, so kann die Volksabstimmung nach einem Jahr wiederholt werden und wird dann verbindlich. Volksabstimmungen sind ausgeschlossen, wenn sie eine Einschränkung der Menschenrechte und Grundfreiheiten, eine Änderung der Eigentumsverhältnisse oder die Beseitigung der Legislativ- oder Exekutivorgane in beiden Teilen Deutschlands zum Ziel haben. Der Gesamtdeutsche Parlamentarische Rat ist befugt, jederzeit mit Zweidrittelmehrheit ein Gesetz für die Wahl einer Verfassunggebenden Nationalversammlung zu erlassen. Ist er hierzu nicht in der Lage, so erhält für diesen Fall eine Volksabstimmung uneingeschränkte Gesetzeskraft, wenn zwei Drittel aller abgegebenen Stimmen sich für die Wahl einer Verfassunggebenden Nationalversammlung aussprechen. Die Nationalversammlung löst den Gesamtdeutschen Parlamentarischen Rat ab und beschließt die gesamtdeutsche Verfassung. Während der stufenweisen Zusammenführung Deutschlands ist Berlin Sitz aller gesamtdeutschen Institutionen.

 

Die Wiedervereinigung:

 

Nach dem Inkraftreten der gesamtdeutschen Verfassung werden allgemeine, freie und geheime Wahlen zum Gesamtdeutschen Parlament abgehalten. Aus ihm geht die Gesamtdeutsche Regierung hervor.“

 

Der Plan stellte nach Auffassung der Sozialdemokraten einen geeigneten Weg zu einer möglichen politischen Annäherung beider Teile Deutschlands und schließlich zur Wiedervereinigung dar. Die Bundesregierung lehnte ihn aus folgenden Gründen ab:[30] „ 1. Es fehlt jede Koppelung der militärischen Entspannungspläne mit dem politische Stufenplan. Dabei würde diese Form der Entspannungszone eine einseitige, die Verteidigungskraft des Westens schwächende Vorleistung darstellen und zum Rückzug der US-Truppen aus Europa führen. (…)

 

2. Der politisch-wirtschaftliche Stufenplan enthält ebenfalls keinerlei Bedingungen oder kontrollierbare Verpflichtungen darüber, daß einer Stufe wirklich die nächste folgt. Die Wiedervereinigung, ihre Form, ihr Ausmaß und ihr Tempo ist damit völlig in das Belieben Pankows gestellt.

 

3. Die Durchführung des Planes bedeutet gleichberechtigte Anerkennung der Pankower Regierung und entspricht damit nicht den zahlreichen einstimmigen Beschlüssen des Deutschen Bundestages.

 

4. Wirklich freie, gesamtdeutsche kontrollierte Wahlen sind erst nach der Fertigstellung der Verfassung vorgesehen, das heißt, zu einem Zeitpunkt, an dem keine Entscheidungen mehr getroffen werden können. Bis dahin sollen paritätisch besetzte Gremien beraten beziehungsweise entscheiden.

 

Hierin liegt eine entscheidende Gefährdung der demokratischen Entwicklung eines zukünftigen Gesamtdeutschlands, denn wir wissen alle aus den leidvollen Erfahrungen der letzten Jahre, daß politische, wirtschaftliche und weltanschauliche Begriffe – von Demokratie über Freiheit bis zu Menschenrechten – im Westen und Osten völlig verschiedene Bedeutung haben. Daran müßte auch ein paritätisch besetzter Gerichtshof scheitern.“

 

Dagegen fand der Plan nach anfänglicher Ablehnung durch die SED deren begrenzte Zustimmung mit den Worten, dass er „in mancher Hinsicht die realen Gegebenheiten in der Welt und in Deutschland berücksichtige.“[31] Vor allem die paritätische Besetzung der von der SPD vorgeschlagenen Gremien fand die Zustimmung der SED. Auch die sowjetische Nachrichtenagentur TASS brachte ihre einschränkende Zustimmung zum Ausdruck. Sie sah die wichtigste positive Bedeutung des Programms der SPD darin, dass es von der Tatsache ausgehe, dass zwei deutsche Staaten existieren und dass die Verantwortlichen der SPD, allerdings mit Vorbehalten anerkannt hätten, dass es einen Fortschritt in der Vereinigung Deutschlands nur geben könne, wenn sie von den Deutschen selbst in die Hand genommen werde.

 

Das Funktionieren des Planes der SPD hatte die grundsätzliche Einigung der vier Mächte zur Voraussetzung. Da sie in Genf nicht eintrat, blieb auch der Plan der SPD, der in der westdeutschen Öffentlichkeit kontrovers diskutiert wurde, wirkungslos. Im Jahre 1960 ließ die SPD diesen Plan fallen.[32]

 

 

 

 

 

 

Der Interzonenhandel

 

 

Die Regierung der Bundesrepublik kündigte am 30.09.1960 das Interzonenhandelsabkommen zum 31. Dezember. Dieser gegen und in Abwesenheit von Wirtschaftsminister Erhard erfolgte Schritt war eine Reaktion auf zahlreiche Differenzen mit der SED-Regierung. Die SED hatte z.B. beschlossen, dass Reisende aus der Bundesrepublik für den Besuch Ostberlins eine Aufenthaltsgenehmigung benötigten.

 

Die Verhandlungen über ein neues Abkommen führten am 29.12.1960 zu einer Verlängerung des Handelsabkommens zwischen der Bundesrepublik und der DDR über den 01.01.1961 hinaus.[33] Die Regierung der DDR sagte inoffiziell Verkehrserleichterungen zwischen den Berliner Sektoren zu. Der Warenverkehr zwischen der Bundesrepublik und Westberlin sollte in Zukunft reibungslos ablaufen, die Autobahnbrücke bei Hof wiederhergestellt werden. Vor allem aber erhob sie keinen Widerspruch gegen eine von der Regierung der Bundesrepublik eingeführte Widerrufsklausel im neu entstandenen Vertrag, der es ermöglichen sollte, bereits erteilte Warengutscheine außer Kraft zu setzen, wenn der Verkehr zwischen der Bundesrepublik und der DDR erschwert wird. Weiterhin wurde der Wunsch der Bundesregierung respektiert, die Wasserstraßengebühr, die westdeutsche und Westberliner Binnenschiffe für die Benutzung der Wasserstraßen durch die DDR zu entrichten hatten, aufzuheben. Dies alles war ein Beweis für den großen wirtschaftlichen Wert des Handelsabkommens für die DDR.

 

Die Kündigung des Abkommens beschwor zwar die Gefahr eines vertragslosen Zustandes herauf, der die Interessen Berlins fühlbar geschädigt hätte, blieb aber nicht ohne Wirkung. Der wirtschaftliche Nutzen des Interzonenhandels fiel für die Bundesrepublik kaum ins Gewicht, vielmehr bestand seine Bedeutung im politischen Wert für Berlin. Das wirtschaftliche Interesse der DDR an der Aufrechterhaltung des Abkommens dagegen war groß. Die DDR war am Interzonenhandel mit 12% ihres Außenhandels im Gegensatz zur Bundesrepublik mit lediglich 2-3% beteiligt.

 

Der Interzonenhandel demonstrierte, wie stark die Unterschiede und Gegensätze zwischen der BRD und DDR auf wirtschaftlichem Gebiet waren.[34] Die Verhandlungen über neue wirtschaftliche Vereinbarungen benutzte die DDR-Regierung stets dazu, ihre staatliche Anerkennung zu erstreben. Sie wünschte Regierungsbeauftragte auf beiden Seiten als eine Art de-facto-Anerkennung, während die Bundesrepublik nur technische Beauftragte entsandte und zu Verhandlungen bevollmächtigte. [35]

 

Der große Unterschied der beiden Wirtschaftssysteme und Währungen führte zu der Hilfskonstruktion „Verrechnungseinheit“, bei der West-und Ost-Mark einander gleichgesetzt wurden.[36] Die Regierung bestand aus Prestige darauf, dass ihre Währung nicht nach dem tatsächlichen Wert, der 1960 zwischen 4 und 5 Ostmark für eine Westmark lag, berechnet wurde. Die Bundesregierung dagegen wollte wegen des starken Wertgefälles den von der Regierung der DDR eingeführten Zwangskurses Ost-Mark=West-Mark nicht anerkennen. So kam es zu den oben bereits erwähnten „Verrechnungseinheiten“. Umfasste der Interzonenhandel 1952 noch 225 Millionen „Verrechnungseinheiten“, so waren es im Jahre 1960 2 Milliarden. Größere handelspolitische neben der politischen Bedeutung hatte das Abkommen für Westberlin, das insbesondere Kohle, Fleisch und Zucker aus der DDR bezog.[37]

 

 

 

 

 

 

 

Die Ereignisse bis zum Bau der Mauer

 

 

 

Schien es um die Jahreswende 1958/59 noch so, dass die Krise um Berlin zu ernsteren Konsequenzen führen werde, so zeigte schon die Genfer Konferenz der Außenminister, dass aus dem russischen Ultimatum ein Dialog geworden war. Der Besuch Chruschtschows in den USA vom 15-18.09.1959 brachte die Fortsetzung dieses Dialoges. Es wurde zwischen Eisenhower und Chruschtschow die Übereinkunft erzielt, dass die Gespräche über die Berliner Frage ohne zeitliche Beschränkung wieder aufgenommen werden sollten. In den Gesprächen auf dem amerikanischen Landgut Camp David vom 25-27.09. gewann Eisenhower die Überzeugung, dass die Ultimaten in der deutschen und Berliner Frage nicht als Drohung gemeint gewesen seien, so dass er seine Zustimmung zur Pariser Gipfelkonferenz im Mai 1960 gab. Die Gipfelkonferenz scheiterte aber, ehe sie begann. Der Zwischenfall mit dem amerikanischen Erkundungsflugzeug U 2 über sowjetischem Territorium am 01.05.1959 war für den sowjetischen Ministerpräsidenten der Anlass, um die Konferenz zu boykottieren.[38]

 

Die Verschlechterung der internationalen Lage nach Abbruch der Konferenz ließ befürchten, dass Moskau in der deutschen Frage unter Einschluss Berlins nunmehr zu einseitigen Handlungen schreiten würde. Aber Chruschtschow lenkte zur Überraschung der Weltöffentlichkeit ein. Am 20.05.1960 stellte er in einer öffentlichen Versammlung in Ostberlin fest:[39] „Natürlich hat die Sowjetunion jetzt das völlige moralische Recht, ohne weitere Verzögerung den Friedensvertrag mit der Deutschen Demokratischen Republik zu unterzeichnen. Damit wäre auch die Westberlin-Frage gelöst. Wir haben das erörtert und sind zu folgender Schlussfolgerung gekommen: Wir glauben, daß ungeachtet der Sprengung der Gipfelkonferenz der Kampf der friedliebenden Kräfte vom Sieg gekrönt werden wird. Wir möchten glauben, daß die Gipfelkonferenz in sechs bis acht Monaten stattfinden wird. Unter diesen Bedingungen hat es Sinn, noch etwas zu warten und zu versuchen, durch gemeinsame Anstrengungen aller vier Siegermächte eine Lösung zu finden. Die Sache geht uns nicht aus den Augen, warten wir noch, dann wird sie besser heranreifen. Deshalb wird man in bezug auf den deutschen Friedensvertrag und dabei auch in der Frage Westberlins offensichtlich die bestehende Lage bis zum Treffen der Regierungschefs beibehalten müssen. (…) Die Westmächte, unsere Partner beim Gipfeltreffen, müssen diese unsere Haltung richtig verstehen. Ihrerseits müssen sie auch diese Prinzipien einhalten, das heißt, keinerlei einseitige Schritte zulassen, die ein Treffen der Regierungschefs verhindern würden.“

 

Dieses Einlenken entsprach auf keinen Fall den Vorstellungen der Politik der DDR, die in Konsequenz des Ausganges der Pariser Konferenz rasche und energische Schritte zu ihren Gunsten erwartet hatte. Die gewonnene Atempause hielt bis Juni 1961 an, als sich der neu gewählte Präsident der USA, John F. Kennedy, und Chruschtschow am 03-04.06 in Wien trafen. Das auf dieser Zusammenkunft Kennedy übergebene Memorandum zur Deutschlandfrage machte deutlich, dass sich die Vorstellungen der Sowjetunion nicht gewandelt hatten. Neu war, dass der Dreimächtestatus von Westberlin durch Stationierung sowjetischer Truppen in ein Viermächtestatus umgewandelt werden könnte:[40] „Die UdSSR schlägt vor, die zuverlässigen Garantien gegen die Einmischung in die Angelegenheiten der Freien Stadt seitens irgend eines Staates zu schaffen. Als Garant der Freien Stadt könnten in Westberlin symbolisch Kontingente von Truppen der USA, Großbritanniens, Frankreichs und der Sowjetunion stationiert werden. Seitens der UdSSR würden auch keine Einwände gegen die Stationierung von Kontingenten der Truppen neutraler Länder unter der Schirmherrschaft der UNO in Westberlin zu gleichen Zwecken erhoben werden.“

 

Bezogen auf den Abschluss eines Friedensvertrags war auch eine größere Flexibilität in den Modalitäten im Gegensatz zum sowjetischen Friedensvorschlag vom 10.1.1959 neu. Die Bundesrepublik brauche nicht sofort durch alle Partner eines Friedensvertrags anerkannt zu werden, man könne sogar einen östlichen und einen westlichen Friedensvertrag „mit beiden oder mit einem deutschen Staat nach eigenem Ermessen unterzeichnen, sofern die Verträge nur die gleichen Grundsätze zu den wichtigsten Fragen einer Friedensregelung enthalten.“[41]

 

Zum Schluss wurde wieder der Abschluss eines separaten östlichen Friedensvertrages für Westberlin genannt:[42] „Gleichzeitig wird dies auch die Aufhebung des Besatzungsregimes in Westberlin mit allen sich hieraus ergebenen Fragen bedeuten. Insbesondere werden die Fragen der Benutzung der Verbindungswege auf dem Lande, zu Wasser und in der Luft, die über das Territorium der DDR führen, nicht anders zu lösen sein als auf der Grundlage entsprechender Übereinkommen mit der DDR. Dies ist auch natürlich, da die Wahrnehmung einer Kontrolle über solche Verbindungswege das unveräußerliche Recht eines jeden souveränen Staates ist.“

 

Genau dies war das Ziel Ulbrichts. Mit dem Friedensvertrag zwischen der Sowjetunion und der DDR hätte er das entscheidende Instrument in den Händen gehabt, um die Anwesenheit der Westmächte in Berlin zu erschweren. An entsprechenden Äußerungen aus Ulbrichts Munde im Sommer 1961 hat es nicht gefehlt, wobei er die Nachgiebigkeit des Westens einkalkulierte.

 

Das Problem der Flüchtlinge nach Westberlin, was die DDR schon seit Jahren beschäftigte, nahm sprunghaft zu und verschärfte die Lage. In den ersten 7 ½ Monaten des Jahres 1961 flohen 133.700 Menschen, lediglich 18.000 weniger als im ganzen Jahr 1960. Im Juni, Juli und August emigrierten täglich 1500 bis 2000 Menschen. Die Neue Zürcher Zeitung kennzeichnete am 02.07.1961 die Situation für die DDR-Führung folgendermaßen:[43] „Es ist verständlich, daß das kommunistische Regime der Ostzone diesen Zustand als unerträglich ansehen muß. (…) Das ‚offene Loch’ in Berlin verzögert eine politische Konsolidierung des Regimes und läßt die Ostzone im Vergleich zur dynamischen Entwicklung Westdeutschlands immer fühlbarer stagnieren, und zwar in einem Maße, das auch wichtige politische Aspirationen der kommunistischen Seite in Mitleidenschaft zieht. (…) Man ist sich in Berlin bereits heute völlig im klaren darüber, daß einer der ersten Schritte Ulbrichts nach dem Abschluß eines Friedensvertrages die Schließung der Sektorengrenze und damit die Abriegelung des Flüchtlingsstromes sein wird. Die bisherigen Absperrungsmaßnahmen, wie die Errichtung eines besonderen Kontrollnetzes um Ostberlin gegen die Zone, haben sich als ungenügend erwiesen.“

 

Ulbricht hatte noch am 15.06 in einer Pressekonferenz vor in- und ausländischen Journalisten erklärt:[44] „Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten. (…) Wir sind für vertragliche Regelung der Beziehungen zwischen Westberlin und der Regierung der Deutschen Demokratischen Republik. Das ist der einfachste und normalste Weg zur Regelung dieser Fragen.“

 

Die Westmächte hatten ihre ganzen Bemühungen darauf konzentriert, Moskau von der Unterstützung ihrer Entschlossenheit auch zum militärischen Handeln zu warnen. In dem im Inhalt übereinstimmenden Antwortnoten der Westmächte auf das Wiener Memorandum der Sowjetunion hieß es unmissverständlich:[45] „Die Sowjetregierung ist sich zweifellos bewußt, daß die Stadt Berlin noch zur sogenannten Deutschen Demokratischen Republik gehört. Sie liegt nicht, wie die Sowjetregierung behauptet, auf dem Territorium der Deutschen Demokratischen Republik. Das Protokoll vom 12. September 1944 ist in diesem Punkte völlig klar. Es sieht vor, daß die Sowjetunion ein Gebiet im Osten Deutschlands besetzen soll ‚mit Ausnahme des Gebietes von Berlin, für das ein besonderes Besatzungssystem gilt’ Dieses Protokoll, das die Sowjetregierung am 6. Februar 1946 gebilligt hat, ist nach wie vor in Kraft. Es kann revidiert oder außer Kraft gesetzt werden durch Übereinkunft zwischen den vier Mächten, aber nicht durch eine Vereinbarung zwischen einer der Mächte und den von dieser Macht in einem Teil Deutschlands eingesetzten Behörden. (…) Die Regierung Ihrer Majestät hofft, daß die Sowjetregierung ihrerseits nicht daran denkt, einen solchen Schritt zu unternehmen, der, wie bereits gesagt, unübersehbare Folgen haben würde. Sie hält es für notwendig, die Sowjetregierung mit allem Ernst vor den schweren Gefahren einer solchen Handlungsweise zu warnen.“

 

Die Entscheidung über die Errichtung der Mauer fiel auf einer Zusammenkunft der Warschauer-Pakt-Staaten Anfang August. Sie unterstützen die DDR-Regierung bei der Durchführung dieses Schrittes:[46] „Die Regierungen der Warschauer Vertragsstaaten wenden sich an die DDR mit dem Vorschlag, an der Westberliner Grenze eine solche Ordnung einzuführen, durch die der Wühltätigkeit gegen die Länder des sozialistischen Lagers zuverlässig der Weg verlegt und rings um das ganze Gebiet Westberlins einschließlich seiner Grenze mit dem demokratischen Berlin eine verlässliche Bewachung und eine wirksame Kontrolle gewährleistet wird. Selbstverständlich werden diese Maßnahmen die geltenden Zustimmungen für den Verkehr und die Kontrolle an den Verbindungswegen zwischen Westberlin und Westdeutschland nicht berühren.“

 

Am 04.08.1961 wurden die Grenzgänger per Verordnung durch den Berliner Magistrat angewiesen, sich registrieren zu lassen und Mieten sowie Mietnebenkosten künftig in West-Mark zu zahlen. Schon vor dem Mauerbau kontrollierte die Volkspolizei im Ostteil Berlins die in den Westteil führenden Straßen und Verkehrsmittel intensiv auf so genannte verdächtige „Republikflüchtlinge“ und „Schmuggler“. Außerdem kauften viele Westberliner oder in Westberlin arbeitende Ostberliner mit der auf dem Devisenschwarzmarkt günstig getauschter Mark der DDR – Umtauschkurs ca. 1:4 – die vergleichsweise billigen Grundnahrungsmittel und die wenigen hochwertigen Konsumgüter in Ostberlin.

 

Am 12.08 ging beim Bundesnachrichtendienst (BND) aus Ostberlin folgende Information ein:[47] „Am 11. August  hat eine Konferenz der Parteisekretäre der parteigebundenen Verlage und anderer Parteifunktionäre beim ZK der SED stattgefunden. Hier wurde u.a. erklärt: ‚(…) Die Lage des ständig steigenden Flüchtlingsstromes mache es erforderlich, die Abriegelung des Ostsektors von Berlin und der SBZ in den nächsten Tagen – ein genauer Tag wurde nicht angegeben – durchzuführen und nicht, wie eigentlich geplant, erst in 14 Tagen.’“

 

Marshall Konjew, erster Oberbefehlshaber der Truppen der Warschauer-Pakt-Staaten, wurde wenige Tage vor dem 13. August zum Befehlshaber der sowjetischen Streitkräfte in der DDR ernannt. Am 10. August lud er die drei westlichen Stadtkommandanten in sein Potsdamer Hauptquartier. Er gab ihnen die Versicherung, dass, was auch immer in Berlin geschehen würde, die Rechte der Westmächte davon unberührt blieben. Am 11. August erteilte die Volkskammer der Regierung der DDR die Vollmacht, „alle Maßnahmen vorzubereiten und durchzuführen, die sich aufgrund der Festlegung der Teilnehmerstaaten des Warschauer Vertrages als notwendig erweisen.“[48] Der amtierende Ministerpräsident Stoph kündigte die Entschlossenheit der Regierung an, geeignete Maßnahmen gegen die Fluchtbewegungen zu ergreifen.

 

Trotz dieser und anderer Anzeichen, die auf eine bevorstehende Absperrung hindeuteten, löste der Vollzug dieser Maßnahmen in der Weltöffentlichkeit Erschütterung und Entsetzen aus. In den frühen Morgenstunden des 13. August 1961, riegelten Volksarmee und Volkspolizei die Sektorengrenzen innerhalb der Stadt und die Zonengrenze nach Westberlin hermetisch ab. [49] Den Bewohnern der DDR war jede Möglichkeit genommen, nach Westberlin zu gelangen. Den Westberlinern war es dagegen noch bis zum 22. August erlaubt, Ostberlin zu betreten. Einwohner der übrigen Bundesrepublik durften weiterhin Ostberlin besuchen, wozu sie eine Aufenthaltsgenehmigung brauchten. Die DDR bezeichnete den Bau der Mauer als „antifaschistischen Schutzwall“ und als „Sieg des sozialistischen Lagers über den westlichen Imperialismus“.[50]

 

Der Stachendrahtabsperrung und anderen Hindernissen folgte der Bau der zwei Meter hohen Mauer, die Berlin teilte. Fenster und Türen von unmittelbar an den Sektorengrenzen gelegenen Häusern wurden zugemauert, deren Bewohner zwangsweise ausgewiesen. Die Grenzposten erhielten Schießbefehl. Der S- und U-Bahnverkehr war vorübergehend unterbrochen. Die bis dahin ca. 80 Übergänge in Berlin wurden bis auf wenige geschlossen. Schätzungen sprechen von ca. 500.000 Menschen, die täglich in beiden Richtungen die Sektorengrenze passierten. Den Menschen aus Ostberlin war der Besuch der Westberliner Theater, Kinos und Konzerten gegen Ostmark im Umtausch-Verhältnis 1:1 möglich. Die 50.000 Pendler, die täglich von Ostberlin und den Berliner Randgebieten nach Westberlin kamen, konnten nicht mehr in Westberlin arbeiten.

 

An der gesamten Berliner Mauer gab es 25 Grenzübergangsstellen, 13 Straßen-, 4 Eisenbahn- und 8 Wasserstraßengrenzübergangsstellen. Dies waren etwa 60% aller Grenzübergänge zwischen der DDR und Westberlin. [51]

 

Empörung und Verbitterung der Berliner Bevölkerung über den Bau der Mauer waren groß. Der damalige Bundeskanzler Konrad Adenauer rief noch am gleichen Tag die Bevölkerung zur Ruhe und Besonnenheit auf und verwies auf nicht näher benannte Reaktionen, die gemeinsam mit den Alliierten folgen würden. In der Bundesrepublik lief der Wahlkampf für die Bundestagswahlen im September 1961 auf Hochtouren. Adenauer besuchte viele Wahlkampfveranstaltungen in dieser Zeit und machte damit deutlich, dass ihn der Bau der Berliner Mauer und die daraus resultierenden Folgen für die weltpolitische Entwicklung nur am Rande interessierten. Erst zwei Wochen nach dem Mauerbau besuchte er Westberlin, was ihm innerhalb Westdeutschlands viele Sympathien kostete.[52]

 

Am 16. August fanden sich vor dem Schöneberger Rathaus, dem Sitz des Westberliner Senats, 250.000 Menschen ein. Auf dieser Demonstration teilte Berlins Regierender Bürgermeister Willy Brandt mit, dass er dem amerikanischen Präsidenten Kennedy[53] einen Brief geschrieben habe. Die wesentlichsten Auszüge lauteten:[54] „Die Maßnahmen des Ulbricht-Regimes, gestützt durch die Sowjetunion und den übrigen Ostblock, haben die Reste des Viermächtestatus nahezu völlig zerstört. Während früher die Kommandanten der alliierten Mächte in Berlin bereits gegen Paraden der sogenannten Volkspolizei protestierten, haben sie sich jetzt mit einem verspäteten und nicht sehr kraftvollen Schritt nach der militärischen Besetzung des Ostsektors durch die Volksarmee begnügen müssen. Die illegale Souveränität der Ostberliner Regierung ist durch Hinnahme anerkannt worden, soweit es sich um die Beschränkung der Übergangsstellen und des Zutritts zum Ostsektor handelt. Ich halte dies für einen ernsten Einschnitt in der Nachkriegsgeschichte dieser Stadt, wie es ihn seit der Blockade nicht mehr gegeben hat. (…) Die Sowjetunion hat die Hälfte ihrer Freistadt-Vorschläge durch den Einsatz der deutschen Volksarmee erreicht. Der zweite Akt ist eine Frage der Zeit. Nach dem zweiten Akt würde es ein Berlin geben, das einem Ghetto gleicht, das nicht nur seine Funktion als Zufluchtsort der Freiheit und als Symbol der Hoffnung auf Wiedervereinigung verloren hat, sondern das auch vom freien Teil Deutschlands abgeschnitten wäre. Dann könnten wir statt der Fluchtbewegung nach Berlin den Beginn einer Flucht aus Berlin erleben. Ich würde es in dieser Lage für angemessen halten, wenn die Westmächte zwar die Wiederherstellung der Viermächte-Verantwortung verlangen, gleichzeitig aber einen Dreimächtestatus Westberlins proklamieren. Die drei Mächte sollen die Garantie ihrer Anwesenheit in Westberlin bis zur deutschen Wiedervereinigung wiederholen und gegebenenfalls von einer Volksabstimmung der Bevölkerung in Westberlin und der Bundesrepublik unterstützen lassen.“

 

Präsident Kennedy entsandte am 18. August Vizepräsident Johnson und General Clay nach Berlin und verfügte die Verstärkung der amerikanischen Garnison um 1500 Personen. Die Truppenverstärkung erreichte Berlin ungehindert und wurde vom Vizepräsidenten und von weiten Teilen der Westberliner Bevölkerung begrüßt.[55]

 

Die sich aufdrängende Frage, ob ein sofortiges militärisches Eingreifen der drei Westmächte den Mauerbau verhindert bzw. beseitigt hätte, ist spekulativ. Es steht aber fest, dass die Westmächte diese Absicht nicht hatten. Durch die Absperrungen waren keine entscheidenden Rechte des Westens verletzt worden. Sicherlich war das zitierte Berlinprotokoll vom September 1944 nicht beachtet worden, denn das Berliner Statut sah nicht nur den ungehinderten Verkehr in alle Sektoren der Stadt, sondern auch das klare Verbot des Auftretens deutscher Truppen in irgendeinem Teil der Stadt vor. Die Westmächte wollten und konnten diesen Prozess – vor allem in einer Situation, die einem Pulverfass glich – nicht rückgängig machen.

 

Die Ereignisse schufen eine Spannung, die für das restliche Jahr 1961 zum Dauerzustand wurde, aber die Kriegsgefahr trotz zahlreicher Zwischenfälle nicht erhöhte. [56] Chruschtschow erklärte auf dem XXII. Parteitag der KPdSU in Moskau: [57]„Wenn die Westmächte Bereitschaft zur Regelung des deutschen Problems zeigen, so wird die Frage der Termine der Unterzeichnung eines deutschen Friedensvertrages nicht solche Bedeutung haben. Wir werden dann nicht darauf bestehen, den Friedensvertrag unbedingt bis zum 31. Dezember 1962 zu unterzeichnen.“

 

Das Drängen Ulbrichts auf Abschluss eines Friedensvertrages fand in der Sowjetunion kein Gehör. Das damit verbundene Risiko eines militärischen Konfliktes war Moskau offenbar zu hoch, während Ulbricht überzeugt war, dass es zu keinem Krieg kommen werde.

 

Zu einer direkten Konfrontation zwischen amerikanischen und sowjetischen Truppen kam es am 27.10.1961 am Checkpoint Charlie auf der Friedrichstraße, als sich als finale Folgen von Unstimmigkeiten jeweils vier Kampfpanzer der amerikanischen und sowjetischen Armee unmittelbar am Grenzstrich gegenüber aufbauten.[58] Am nächsten Tag wurden jedoch beide Panzergruppen wieder zurückgezogen. Dieses Scharmützel beinhaltete ernorme politische Bedeutung, da es den USA auf diese Weise gelungen war zu belegen, dass die Sowjetunion und nicht die DDR für die Sicherung des Ostteils von Berlin verantwortlich war. Beide Seiten wollten den Kalten Krieg wegen Berlin nicht eskalieren lassen oder gar einen Atomkrieg riskieren.

 

Mit der Errichtung der Mauer erfolgte der schwerste Vorstoß der Sowjetunion gegen den Viermächtestatus seit 1948. Gesamtberlin wurde als Verhandlungsgegenstand bei zukünftigen Verhandlungen durch die Sowjetunion nicht mehr akzeptiert. Die Sowjetunion hatte diese Haltung durch die Auflösung ihrer Kommandantur in Ostberlin am 23.08.1962 deutlich unterstrichen.

 

Die Spaltung der Stadt, die hohen Verluste durch Krieg und Demontagen sowie der weit über dem Durchschnitt liegende Prozentsatz alter und kranker Menschen beeinflussten die wirtschaftlichen Möglichkeiten Westberlins. Aus der Bundesrepublik flossen deshalb jährlich die notwendigen Geldmittel zum Ausgleich der Berliner Leistungsbilanz. Der entscheidende Teil dieser öffentlichen Mittel wurde für den Haushalt von Berlin in Form der Bundeshilfe gewährt.[59]

 

 

 

 

 




[1] Lemke, M.: Die Berlinkrise 1958 bis 1963. Interessen und Handlungsspielräume der SED im Ost-West-Konflikt, Berlin 1995, S. 13

[2] von Siegler, Archiv der Gegenwart, 1958, a.a.O., S. 7417f

[3] Pötzsch, Deutsche Geschichte von 1945 bis zur Gegenwart, a.a.O., S. 122f

[4] Sethe, P.: Russische Geschichte, 2. Auflage, Frankfurt/M./Berlin 1978, 159ff

[5] Pötzsch, Deutsche Geschichte von 1945 bis zur Gegenwart, a.a.O., S. 123

[6] Uhl, M.: Krieg um Berlin? Die sowjetische Militär- und Sicherheitspolitik in der zweiten Berlin-Krise 1958 bis 1962, München 2008, S. 28

[7] von Siegler, Archiv der Gegenwart, 1958, a.a.O., S. 7407

[8] Stern, C.: Willy Brandt, 6. Auflage, Reinbek bei Hamburg 1998, S. 50

[9] Eschenhagen/Judt, Chronik Deutschlands 1949-2009, a.a.O., S. 90

[10] von Siegler, Archiv der Gegenwart, 1958, a.a.O., S. 7417ff

[11] Ebd.

[12] Ebd., S. 7419

[13] Ebd., S. 7418

[14] Eschenhagen/Judt, Chronik Deutschland 1949-2009, a.a.O., S. 93

[15] Kurth, D.: Die europäische Integration, Stuttgart 1987, S. 76

[16] Kosthorst, D.: Brentano und die deutsche Einheit. Die Deutschland- und Ostpolitik des Außenministers im Kabinett Adenauer 1955-1961, Düsseldorf 1993, S. 163

[17] Eschenhagen/Judt, Chronik Deutschland 1949-2009, a.a.O., S. 92

[18] Hahn K.-E.: Wiedervereinigungspolitik im Widerstreit. Einwirkungen und Einwirkungsversuche westdeutscher Entscheidungsträger auf die Deutschlandpolitik Adenauers von 1949 bis zur Genfer Viermächtekonferenz 1959, Hamburg 1993, S. 189

[19] Zitiert aus Conze, E.: Die gaullistische Herausforderung. Die deutsch-französischen Beziehungen in der amerikanischen Europapolitik 1958-1963, München 1994, S. 97

[20] Ebd., S. 98

[21] Ebd., S. 102

[22] Ebd., S. 104

[23] Ebd., S. 106

[24] Ebd., S. 107

[25] Ebd., S. 110

[26] Ebd., S. 117

[27] Laumann, P.: Die Genfer Konferenz, München 1982, S. 178

[28] Eschenhagen/Judt, Chronik Deutschland 1949-2009, a.a.O., S. 94

[29] von Siegler, Archiv der Gegenwart, 1959, S. 7615f

[30] Ebd., S. 7704

[31] Pötzsch, Deutsche Geschichte von 1945 bis zur Gegenwart, a.a.O., S. 127

[32] Greven, T.: Die deutsche Sozialdemokratie nach 1945, Bonn 1989, S. 101

[33] Eschenhagen/Judt, Chronik Deutschland, a.a.O., S. 108

[34] Paul-Calm, H.: Ostpolitik und Wirtschaftsinteressen in der Ära Adenauer 1955-1963, Frankfurt/M. 1981

[35] Ebd.

[36] Döscher, H.-J.: Verschworene Gesellschaft. Das Auswärtige Amt unter Adenauer zwischen Neubeginn und Kontinuität, Berlin 1995, S. 87

[37] Heydemann, G.: Gesellschaft und Alltag in der DDR, Bonn 2005, S. 79

[38] Eschenhagen/Judt, Chronik Deutschland 1949-2009, a.a.O., S. 92

[39] von Siegler, Archiv der Gegenwart, 1961, a.a.O., S. 9045

[40] Ebd., S. 9142

[41] Ebd., S. 9143

[42] Ebd., S. 9146

[43] Neue Zürcher Zeitung vom 02.07.1961

[44] von Siegler, Archiv der Gegenwart, 1961, a.a.O., S. 8493

[45] Ebd., S. 8495

[46] Ebd., S. 8498

[47] Ebd., S. 8502

[48] Eschenhagen/Judt, Chronik Deutschland 1949-2009, a.a.O., S. 111

[49] Feist, P.: Die Berliner Mauer, 4. Auflage, Berlin 2004, S. 36ff

[50] Ebd.

[51] Hertle, H.-H.: Der Fall der Mauer, 2. Auflage, Opladen/Wiesbaden 1999, S. 26

[52] Stützle, W.: Kennedy und Adenauer in der Berlin-Krise 1961-1962, Bonn 1973

[53] Vgl. dazu Posener, A.: John F. Kennedy, 4. Auflage, Reinbek bei Hamburg 1995, S. 100ff

[54] von Siegler, Archiv der Gegenwart, 1961, a.a.O, S. 9309

[55] Hertle, Der Fall der Mauer, a.a.O, S. 67

[56] Rührle, J./Holzweißig, G.: 13. August 1961. Die Mauer von Berlin, 3. Auflage, Köln 1988, S. 137

[57] Ebd., S. 139

[58] Ebd., S. 141

[59] Eggert, H.: Die Bundesrepublik bis zum Jahre 1968, Hamburg 1991, S. 154

 

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