Zum rassistischen Konstrukt "Zigeuner"

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Die meisten Sinti und Roma in Deutschland lehnen das Wort "Zigeuner" als rassistische Fremdbestimmung ab. Bei Neonazis und anderen extremen Rechen ist dies weiterhin Bestandteil ihres Hate-Speechs; auch bürgerliche Medien und "Experten" wie Rolf Bauerdick scheuen vor dem Schimpfwort nicht zurück und verschlimmern nur noch den antiziganistischen Diskurs.

Roma ist der Oberbegriff für eine Reihe ethnisch miteinander verwandter Bevölkerungsgruppen, die sich aus dem Nordwesten Indiens in verschiedenen Wanderungsbewegungen in Europa niederließen. Anhand linguistischer Forschungen konnte die Herkunft der in Europa lebenden Roma bis nach Nordindien zurückverfolgt werden.[1] Deren Vorfahren wanderten zwischen dem 7. und dem 12. Jahrhundert in unregelmäßigen Abständen über Persien und Armenien ins Byzantinische Reich ein. Von dort aus migrierten sie in unterschiedlichen Formationen erst nach Osteuropa und im Laufe der Zeit auch nach Westeuropa.[2] In der heutigen Zeit gibt es zwischen zehn zwölf Millionen Roma als europäische Minderheit, von denen etwa sechs Millionen innerhalb der EU leben. Sie bilden keinen monolithischen Block, sondern zahlreiche unterschiedliche Gruppen mit vielfältigen, stark von der Sprache, Kultur und Geschichte der jeweiligen Dominanzgesellschaft geprägten Besonderheiten. Die größten Formationen sind die Roma in Ost- und Südosteuropa, die Sinti im deutschsprachigen Raum (auch in Teilen von Norditalien, Belgien, den Niederlanden) sowie die Untergruppe der Manush in Frankreich, die Kale in Spanien und Südfrankreich mit den Ciganos in Portugal sowie der Romanichals in Großbritannien.[3]

Ihre Sprache ist das Romanes, das nach Schätzungen von weit mehr als 3,5 Millionen Menschen gesprochen wird.[4] Das Romanes hat seinen Ursprung im indischen Sanskrit und weist Gemeinsamkeiten mit indischen Sprachen wie Hindu oder Urdu auf.[5] Es hat sich seit mehr als 800 Jahren unabhängig von anderen indischen Sprachen entwickelt, davon seit mindestens 700 Jahren in Europa. Das Romanes hat etwa 60 bekannte Dialekte. Es unterlag in der Anfangszeit in Wortschatz und auch Syntax besonders dem Einfluss der Balkansprachen. Im 16. Jahrhundert wurden erstmals einige Wortlisten des Romanes vor allem in Westeuropa dokumentiert. Dies änderte jedoch nichts an der Tatsache, dass bisins 20. Jahrhundert hinein das Romanes weitgehend nicht verschriftlicht war. Seit der Entstehung einer Bürgerrechtsbewegung in den 1970er Jahren bemühten sich vor allem Roma-Intellektuelle um die Verschriftlichung ihrer Sprache, um damit die Emanzipation der Gesamtminderheit sprachpolitisch zu unterstützen.

Im Rahmen der innereuropäischen Arbeitsmigration seit den 1960er Jahren kam eine große Zahl von Roma aus südosteuropäischen und südeuropäischen Staaten nach West-, Mittel- und Nordeuropa. Aus Angst vor Diskriminierung verleugneten viele von ihren ihre wahre Identität und traten stattdessen als Angehörige der jeweiligen Staaten z.B. Jugoslawien in Erscheinung. Im Kontext von zunehmendem Rassismus, wirtschaftlicher Perspektivlosigkeit und Krieg in den südosteuropäischen Staaten nach Beginn der kapitalistischen Umwälzung migrierten seit den 1990er Jahren zahlreiche Romafamilien als Bürgerkriegsflüchtlinge und Arbeitsmigrant_innen nach Westeuropa, darunter auch in die BRD. In Deutschland leben nach jüngsten Schätzungen 80.000-120.000 Sinti und Roma mit deutscher Staatsangehörigkeit.

Die Sinti gelten als eine Untergruppe der europäischen Roma und sind die am längsten in Mitteleuropa lebende Gruppierung. Der Begriff Sinti ist eine Selbstbezeichnung, die seit dem Ende des 18. Jahrhundert belegt ist. Sie sind die größte in der BRD lebende Roma-Formation; hier leben bis zu 60.000 Sinti ausgestattet mit der deutschen Staatsbürgerschaft als Nachfahren der Zuwanderer_innen aus den letzten 600 Jahren. Die deutschen Sinti sind seit 1997 als „nationale Minderheit“ anerkannt. Die Sprache der Sinti, eine als Sintikes geltende Variante des Romanes, ist aufgrund des jahrhundelangen Aufenthalts sehr durch die deutsche Sprache geprägt und wird nur noch vereinzelt gesprochen.

„Zigeuner“ ist eine im deutschen Sprachraum seit dem frühen 15. Jahrhundert belegte Fremdbezeichnung für Bevölkerungsgruppen, denen in Ressentiments ausgeprägte, jeweils auffällige, von der Mehrheitsbevölkerung abweichende meist deviante Eigenschaften zugeordnet werden. Romantisierende oder angeblich positive Kennzeichen wie Musikalität oder Freiheitsliebe, die unveränderliche Gruppenmerkmale festschreiben, waren ebenfalls die Regel.[6] Die Bezeichnung „Zigeuner“ ist eine von mehreren konkurrierenden Fremdbezeichnungen neben „Tartare“ oder „Gypsies“. Alle diese Begriffe wurden stets in diskriminierender Absicht gebraucht. Weiterhin werden auch nicht Romanes sprechende Gruppen wie Jenische, Irish travellers oder andere diametral der herrschenden bürgerlichen Kultur Lebende als „Zigeuner“ identifiziert und marginalisiert. Eine sehr frühe deutsche Quelle für „Zigeuner“ stammt aus dem Jahr 1427.[7] In Deutschland wird der Begriff „Zigeuner“ volksetymologisch irrtümlich als „Zieh-Gäuner“, also „ziehende(r) Gauner“, gedeutet..[8] Der Begriff „Zigeuner“ ist aber eine Fremdbezeichnung, die in ähnlicher Form in vielen europäischen Sprachen vorkommt. Die genauere ethymologische Herkunft ist nicht vollständig geklärt. Viele Forscher_innen vertreten die Auffassung, dass die Herkunft des Begriffs vom mittelgriechischen Wort „athinganoi“ abgeleitet werden kann. Dies waren die Anhänger_innen einer gnostischen Sekte, die im heutigen westlichen Anatolien beheimatet war.[9]

Die wichtigsten nationalen und internationalen Interessenvertretungen der Roma lehnen die Anwendung des Begriffs auf Roma wegen der stigmatisierenden und rassistischen Konnotationen ab. Sie sehen das Wort im Kontext einer langen Verfolgungsgeschichte, die im nationalsozialistischen Genozid kulminierte.[10]Die sich in der BRD seit Ende der 1970er Jahre formierende Bürgerrechtsbewegung der Minderheit sprach sich auch gegen die Verwendung des Begriffs „Zigeuner“ wegen der diskriminierenden Absicht aus. Dass eine kleine Minderheit dies als Selbstbezeichnung wählt, ist unumstritten. Von der überwiegenden Mehrheit wird der Terminus jedoch als diskriminierendes Konstrukt der Dominanzgesellschaft zurückgewiesen. Der Zentralrat Deutscher Sinti und Roma, die Rom und Cinti Union aus Hamburg, die Roma-Union aus Frankfurt am Main, der Rom e.V. aus Köln und der Verband Amaro Drom aus Berlin lehnen die Fremdbezeichnung „Zigeuner“ als rassistisch ab. Die Sinti Allianz Deutschland aus Köln akzeptiert die Bezeichnung, wenn das Wort „Zigeuner“ von den Benutzer_innen wohlmeinend verwendet wird.

Im Rahmen einer zwischen 2007 und 2011 durchgeführten Untersuchung zur aktuellen Bildungssituation deutscher Roma stand auch der Gebrauch der Gruppenbezeichnungen durch Angehörige der Minderheit auf der Agenda. Dabei wurden die Einstellungen zu den beiden Eigenbezeichnungen „Roma“ und „Sinti“ sowie zur Fremdbezeichnung „Zigeuner“ abgefragt. Fast 95% der Befragten verwendeten die Eigenbezeichnungen „Sinti“ und „Roma“, für 57,5% war der Begriff „Zigeuner“ „immer ein Problem“. 14,9% hatten „kein Problem mit der Verwendung des Zigeuner-Begriffs durch andere“ und weitere 25,7% argumentierten, „dass es darauf ankommt, ob dieser Begriff abwertend oder gar als Schimpfwort benutzt wird“. 6,9% wandten den Begriff „Zigeuner“ auf sich selbst an, z. T. neben „Roma“ oder „Sinti“.[11]

Erst nach und nach setzten sich auch in der Öffentlichkeit die Eigenbezeichnungen durch. In der BRD ist der Begriff „Zigeuner“ noch immer ein häufig gebrauchter Terminus innerhalb der Bevölkerung. Das Wort „Zigeuner“ war noch bis in die 1990er Jahre gängige Ausdrucksweise in den Dokumenten der Europäischen Union und ihrer Vorgängerinstitutionen.




[1] Haarmann, H. (Hrsg.): Johann Christian Christoph Rüdiger. Von der Sprache und Herkunft der Zigeuner aus Indien, Nachdruck Hamburg 1990

[2] Fings, K.: Sinti und Roma. Sprache, Herkunft, Bezeichnungen, in: Quicker, E./Killguss, H.-P. (Hrsg.): Sinti und Roma zwischen Ausgrenzung und Selbstbehauptung. Stimmen und Hintergründe zur aktuellen Debatte, Köln 2014, S. 38-42, hier S. 39

[3] Ebd., S. 40

[4] Matras, Y.: Romani. A Linguistic Introduction, Cambridge 2002, S. 15f

[5]Reemtsma, K.: Sinti und Roma. Geschichte, Kultur, Gegenwart, München 1996, S. 17

[6] Winckel, Antiziganismus. Rassismus gegen Roma und Sinti im vereinten Deutschland, a.a.O., S. 10f

[7] www.faz.net/aktuell/feuilleton/geisteswissenschaften/interview-mit-klaus...

[8] www.lpb-bw.de/publikationen/sinti/sinti8.htm

[9] Siehe zum Beispiel: Vossen, R.: Zigeuner. Roma, Sinti, Gitanos, Gypsies. Zwischen Verfolgung und Romantisierung, Frankfurt am Main/Berlin/Wien 1983, S. 20f; Krauß J., „Zigeunerkontinuum“ – die Raum und Zeit übergreifende Konstanz in der Beschreibung von Roma in Theorie und Empirie, in: Jahrbuch für Antisemitismusforschung, Bd. 18 (2009), S. 161–180

[10]Sälzer, A.-L.:, Arme, Asoziale, Außenseiter. Künstler- und „Zigeuner“-Diskurse von 1900 bis zum Nationalsozialismus, in: Uerlings, H./Patrut, I.-K. (Hrsg.): „Zigeuner“ und Nation. Repräsentation-Inklusion-Exklusion. Frankfurt am Main u. a. 2008, S. 203–230, hier S. 225ff

[11]Klein, M.: Auswertung von quantitativen Daten zur Erhebung, in: Strauß, D. (Hrsg.): Studie zur aktuellen Bildungssituation deutscher Sinti und Roma. Dokumentation und Forschungsbericht, Marburg 2011, S. 17–50, hier S. 17f

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