Völkermord an Sinti und Roma in der NS-Zeit

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Die Zahl der in Europa bis zum Ende des 2. Weltkrieges getöteten Sinti und Roma wird auf eine halbe Million geschätzt. 25.000 der von den Nationalsozialisten erfassten 40.000 deutschen und österreichischen Sinti und Roma wurden ermordet. Hier ein Überblick!

 

Die Politik in der Weimarer Republik gegenüber Sinti und Roma knüpfte in wesentlichen Punkten an die rassistische Sonderbehandlung des Kaiserreiches an. Im Jahre 1926 wurde das bayerische „Gesetz zur Bekämpfung von Zigeunern, Landfahrern und Arbeitsscheuen“ verabschiedet. Dieses Gesetz besagte, dass Sinti und Roma, die keiner regelmäßigen Arbeit nachgingen, für die Dauer von zwei Jahren in einer „Arbeitsanstalt“ untergebracht werden konnten.

 

Die schon im deutschen Kaiserreich und in der Weimarer Republik rassistisch motivierte Ausgrenzungspolitik gegenüber Sinti und Roma erlangte im Kontext der rassenideologischen Konzeption der Nationalsozialist_innen eine neue Dimension. Ihre Verfolgung aus rassistischen Gründen begann mit der Machtübernahme der NSDAP Anfang 1933 und war ein Bestandteil der allgemeinen Rassenpolitik des nationalsozialistischen Systems.[1] Romani Rose stellt zu Recht fest: „Letztlich zielten alle gegen Sinti und Roma gerichteten Verordnungen darauf ab, die gesamte Volksgruppe ebenso wie die jüdische Bevölkerung von der deutschen Gesellschaft ‚abzusondern‘ und die ‚Endlösung‘ propagandistisch und organisatorisch vorzubereiten.“[2] Den Nationalsozialist_innen war der Umstand bekannt, dass die Vorfahren der Sinti und Roma ursprünglich aus Indien stammten und das Romanes zur indoeuropäischen Sprachfamilie gehörte. Die folgerichtige Schlussfolgerung, dass sie deshalb gemäß der rassenideologischen Vorstellungen der Nationalsozialisten als „Arier“ anzusehen seien und zur „Rassenelite“ gehören müssten, wurde unter den Teppich gekehrt.

 

Das „Berufsbeamtengesetz“ vom 7.4. 1933 betraf vor allem Jüd_innen sowie Sinti und Roma. Darin wurde festgelegt, dass Beamt_innen „nichtarischer Abstammung“ in den (vorzeitigen) Ruhestand zu versetzen seien.[3] Das im Juli 1933 verabschiedete „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ wurde dazu benutzt, Sinti und Roma zwangsweise zu sterilisieren. Erklärungen der „freiwilligen Sterilisation“ wurden von den Betroffenen nur deshalb unterschrieben, weil sie von den Behörden durch Androhung schärferer Maßnahmen unter Druck gesetzt wurden. Seit 1934 wurden Sinti und Roma aus Berufsorganisationen ausgeschlossen, wenn sie keinen „Ariernachweis“ erbringen konnten. Damit verloren die meisten der erwerbsfähigen Arbeiter_innen oder Angestellte ihre materielle Existenzgrundlage. Arbeitsämter verhinderten systematisch, dass jugendliche Sinti und Roma nach ihrem Schulabschluss eine Lehre beginnen konnten. Im Herbst 1935 begann die „Reichstheaterkammer“ damit, „Nichtarier“ und somit auch Sinti und Roma auszuschließen. Im Winter 1937/1938 kam es zum systematischen Ausschluss von „Zigeunern“ aus der „Reichsmusikkammer“.[4] Der nationalsozialistische Staat erließ zahlreiche rassistische Sonderbestimmungen, die Sinti und Roma in ihrem Alltag immer weiter einschränkten und von der übrigen Bevölkerung absonderten.[5] Entweder wurden Kinder ganz vom Schulunterricht ausgeschlossen oder getrennt von ihren Altersgenossen in „Zigeunerklassen“ gesteckt. Letztere Variante wurde unter anderem in Köln und Gelsenkirchen praktiziert. Vermieter wurden von Behörden unter Druck gesetzt, keine Sinti und Roma als Mieter_innen mehr zuzulassen oder bereits bestehende Verträge zu annullieren. Die Benutzung von Straßenbahnen oder Zügen wurde ihnen verboten; Krankenhäuser wurden dazu angehalten, keine Sinti und Roma mehr zu behandeln. In einigen Städten durften Angehörige der Minderheit lediglich zu festlegten Zeiten in manchen ausgewählten Geschäften einkaufen. Der Besuch von Lokalen, Kinos oder Theatern wurden ihnen in vielen Städten und Gemeinden verboten. Der Aufenthalt auf öffentlichen Plätzen wurde ihnen in manchen Städten untersagt. In Minden zum Beispiel stellte die dortige Stadtverwaltung Schilder mit der Aufschrift „Zigeunern und Zigeunermischlingen ist das Betreten des Spielplatzes verboten.“ auf.

 

Auf dem siebten „Reichsparteitag“, der vom 10.9- 16.9.1935 in Nürnberg stattfand, ging es vor allem um die Verabschiedung des „Gesetzes zum Schutz des deutschen Blutes und der deutschen Ehre“ sowie das „Reichsbürgergesetz“.[6] Das „Gesetz zum Schutz des deutschen Blutes und der deutschen Ehre“ verbot die Eheschließung sowie den außerehelichen Geschlechtsverkehr zwischen Jüd_innen und Nichtjüd_innen. Verstöße gegen dieses Gesetz wurden als „Rassenschande“ bezeichnet und mit Gefängnis oder Zuchthaus bestraft. Im „Reichsbürgergesetz“ wurde festgelegt, dass nur „Staatsangehörige deutschen und artverwandten Blutes“ als „Reichsbürger“ anerkannt werden.[7] In der Folgezeit durften sowohl Jüd_innen als auch Sinti und Roma nicht an Wahlen teilnehmen. Am 7.12.1935 ordnete Reichsinnenminister Frick an, dass „in allen Fällen, in denen strafbare Handlungen von Juden begangen sind, dies auch besonders zum Ausdruck zu bringen“, was besonders Presseorgane, Funk und Fernsehen betraf. Diese Propaganda richtete sich auch gegen Sinti und Roma und lieferte den Vorwand für die staatlichen Verfolgungsmaßnahmen sowie letztlich auch die Endlösung. Ein Beispiel für diese antiziganistische Agitation ist der Esslinger Zeitung vom 24.9.1937 zu entnehmen, wo es hieß: „Es gibt eine Zigeunerfrage in Deutschland und es ist an der Zeit, daß diese Frage gelöst wird. Diese Feststellung trifft im öffentlichen Gesundheitsdienst Dr. Rotenberg, der Leiter der Abteilung für Erb- und Rassenpflege im Reichsausschuß für Volksgesundheit. Bei den Zigeunern handele es sich im einen biologischen Fremdkörper, auf dessen zerstörerischen Einfluß unser Blut- und rassemäßig harmonisch gestalteter Volkskörper zwangsläufig mit Entartung antworten müsse. (…) Er lebt, so fährt er fort, unter uns außer dem Juden noch ein anderes fremdrassiges Volk, das in seiner anlagebedingten Verhaltensweise eine soziologische und biologische Gefahr bedeutet, die nicht unterschätzt werden darf und die jedenfalls in rassenbiologischer Hinsicht nicht geringer einzuschätzen ist als die Gefahr, die uns durch die Vermischung von Juden drohte.“[8]

 

Am 6.6.1936 rief der Reichsinnenminister den „Erlaß zur Bekämpfung der Zigeunerplage“ ins Leben, der die einzelnen bisher geltenden „Zigeunergesetze“ der Länder zusammenfasste.[9] Dies bedeutete, dass alle deutschen Sinti und Roma einem Sonderrecht unterstellt wurden. Ab dem Jahre 1937 begann der Ausschluss der Sinti und Roma aus der Wehrmacht. Der im Dezember 1937 verabschiedete „Asozialenerlaß“ gab der Polizei ausdrücklich die Berechtigung, Sinti und Roma in Konzentrationslager einzuweisen.[10] 

 

Eine Reihe von Städten trieb die Ausgrenzung von Sinti und Roma eigenmächtig voran und errichtete kommunale Lager meist am Stadtrand, wo „Zigeuner“ zwangsweise zusammengepfercht wie Vieh leben mussten.[11] Seit Mitte des Jahres 1935 begann die Stadt Köln damit, Sinti und Roma in einem umzäunten und bewachten Lager am Stadtrand zwangsumzusiedeln. Angelehnt an das „Vorbild“ Köln wurden 1936 in Berlin, Frankfurt/Main und Magdeburg und ein Jahr später in Düsseldorf, Essen, Kassel und Wiesbaden spezielle „Zigeunerlager“ errichtet. Brucker-Boroujerdi und Wippermann stellten zu Recht fest: „Die in der NS-Zeit errichteten ‚Zigeunerlager‘ dienten der Konzentration und Freiheitsberaubung, der Selektion nach rassenideologischen Kriterien, der Ausbeutung durch Zwangsarbeit und der unmittelbaren Vorbereitung der Deportation von Sinti und Roma.“[12] Bei der Zwangsarbeit wurden Sinti und Roma, darunter auch Frauen und Kinder, im Hoch- und Tiefbau, in Land- und Forstwirtschaft, in Rüstungsbetrieben oder in der Straßenausbesserung beschäftigt.

 

Vor der Eröffnung der Olympischen Spiele 1936 wurde extra für die in Berlin lebenden Sinti und Roma ein Zwangslager errichtet. Berlin wollte sich vor den Augen der Weltöffentlichkeit von seiner besten Seite präsentieren; Sinti und Roma wurden in diesem Zusammenhang als „störend“ empfunden. Ohne sich auf Gesetze oder staatliche Verordnungen berufen zu können, entstand so das „Zigeunerlager“ Berlin-Marzahn. Am 16.6.1936 wurden die ersten Berliner Sinti und Roma ohne Angabe von Gründen von der Polizei verhaftet und in das Lager eingewiesen.[13] Da die dort bereitgestellten Baracken und Bauwagen nicht mehr ausreichten, da sich das Lager immer mehr füllte, waren viele Sinti und Roma gezwungen, im Freien zu schlafen. In der Folgezeit verschlechterten sich die hygienischen Bedingungen immer mehr. Das Lager war ständig bewacht; nur zur Zwangsarbeit in Berliner Fabriken und im Straßenbau durfte es verlassen werden. Alle Lagerinsass_innen bekamen „Zigeunerpässe“, in denen ein großes Z als rassistisches Erkennungsmerkmal gestempelt war. Zutritt zum Lager hatten nur Mitarbeiter_innen der protestantischen „Zigeunermission“ und Angehörige der „Rassenhygienischen Forschungsstelle“ aus Berlin-Dahlem.

 

Die Rassenhygienische Forschungsstelle (RHS) beim Reichsgesundheitsamt spielte eine wichtige Rolle bei der Vorbereitung, Planung und Durchführung der Verfolgung und Vernichtung der Sinti und Roma im „Dritten Reich“.[14] Adolf Würth, Mitglied der RHS, bemerkte zur Arbeit des Instituts: „Die rassenbiologische Zigeunerforschung ist die unbedingte Voraussetzung für eine endgültige rassenhygienische Lösung der Zigeunerfrage. Diese Lösung dient dem großen Ziel, das Blut des deutschen Volkes vor dem Eindringen fremdrassigen Erbgutes zu schützen und zu verhindern, daß die weitverbreitete und gefährliche Mischlingspopulation sich immer stärker vermehrt.“[15]

 

Die RHS wurde finanziell durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) unterstützt. Für ihren Leiter Robert Ritter waren Sinti und Roma „Schmarotzer“, die „ohne unsere Arbeit und unseren Fleiß und unsere Sittlichkeit in diesem Erdteil gar nicht leben könnten.“ Für ihn stellte sich „die Frage, ob wir die Zigeuner als sorglose, nomadisierende, nahrungssuchende Naturmenschen, als urtümliche Sammler und primitive Handwerker, die noch auf einer Kindheitsstufe der Menschheit stehen, oder ob sie insgesamt gewissermaßen nur eine mutativ entstandene entwicklungsunfähige Spielart der Gattung Mensch darstellen.“[16] Ritter sprach sich nachdrücklich für eine Einweisung von Sinti und Roma in Konzentrationslager aus: „Die Zigeunerfrage kann erst dann als gelöst betrachtet werden, wenn die Mehrzahl der asozialen und nutzlosen Zigeunermischlinge in großen Lagern zusammengefaßt und zur Arbeit angehalten wird, und die andauernde Fortpflanzung dieser Mischbevölkerung endgültig unterbunden ist. Erst dann werden die zukünftigen Generationen des Deutschen Volkes von dieser Bürde befreit sein.“[17]

 

Die Mitarbeiter_innen der RHF führten genealogische und anthropologische Untersuchungen an Sinti und Roma durch.[18] Diese Untersuchungen umfassten Vermessungen des Kopfes, der Ohren, der Hände, daktyloskopische Fragen, die Beschreibung des Körperbaus, der Haare und der Schambehaarung.[19] Neben diesen Untersuchungen wertete die RHF  von staatlichen Behörden wie Polizei, Gesundheits- und Fürsorgeämter angeforderte Akten und Kirchenbücher aus.[20] Diese Informationen wurden im „Zigeunersippenarchiv“ im Reichsgesundheitsamt in Karteien zusammengefasst und zu „Sippentafeln“ kombiniert.[21] Fast alle der in Deutschland lebenden Sinti und Roma wurden erfasst und in die Kategorien „Vollzigeuner“, „Zigeuner-Mischling mit vorwiegend zigeunerischen Blutsanteil“, „Zigeuner-Mischling mit gleichem zigeunerischen und deutschen Blutsanteil“ sowie „Zigeuner-Mischling mit vorwiegend deutschem Blutsanteil“ kategorisiert.  Die auf dieser Grundlage bis zum Ende des 2. Weltkrieges angefertigten 24.000 „Rassegutachten“ und Klassifikationskriterien waren eine entscheidende Grundlage für die Deportation von „Zigeunern“ und „Zigeunermischlingen“ in die Konzentrations- und Vernichtungslager.[22] Die RHS arbeitete mit „Forschungseinrichtungen“ wie dem Institut für Erb- und Rassenpflege der Universität Gießen unter der Ägide des „Asozialenforschers“ H.W. Kranz und dem Kaiser-Wilhelm-Institut für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik in Berlin zusammen, die ebenfalls „Zigeunerforschung“ betrieben.[23]

 

 

 

In den vom nationalsozialistischen Deutschland besetzten Gebieten in Osteuropa wurden zehntausende Roma Opfer rassistisch motivierter Morde.[24] Einsatzgruppen der Sicherheitspolizei und des Sicherheitsdienst des Reichsführers-SS (SD) bekamen die Order, direkt hinter der Front alle „rassisch und politisch unerwünschten Elemente“ umzubringen. Diese Spezialeinheiten wurden jeder der vier Heeresgruppen der Wehrmacht und der Ordnungspolizei zugeordnet. Zwischen Juli 1941 und April 1942 töteten die Spezialeinheiten ca. 560.000 Menschen. Auch Einheiten der Wehrmacht und der Ordnungspolizei waren an Massenexekutionen beteiligt.

 

Ein geographischer Schwerpunkt der Massenmorde an Roma waren die besetzten Gebiete Jugoslawiens. Im deutsch besetzten Serbien kam es zu systematischen Morden an Roma oder an als solche identifizierten Personen, woran Einheiten der Wehrmacht maßgeblich beteiligt waren. Roma waren für die deutschen Besatzer „rassisch minderwertige“, „asoziale“ „Spione“ des „jüdisch-bolschewistischen“ Feindes.[25] Die deutsche Verwaltung registrierte alle Roma und verordnete, dass diese als „Zigeuner“ gelbe Armbinden zu tragen haben. Die Wehrmacht nahm im Herbst 1941 Jüd_innen und männliche Roma gefangen und ließ sie aus „Rache“ für gefallene deutsche Soldaten erschießen.[26] Der Leiter des Verwaltungsstabes der Militärverwaltung in Serbien, Harald Turner, meldete am 26.8.1942: „Im Interesse der Befriedung wurde durch deutsche Verwaltung (…) die Judenfrage ebenso wie die Zigeunerfrage völlig liquidiert (Serbien einziges Land, in dem Juden- und Zigeunerfrage gelöst)“.[27] Dies wurde damit begründet, dass Jüd_innen und „Zigeuner“ ein „Element der Unsicherheit und damit der Gefährdung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit“ darstellen würden.[28] Der „Zigeuner“ könne „auf Grund seiner inneren und äußeren Konstitution kein brauchbares Mitglied der Volksgemeinschaft“ sein. Tausende Roma wurden als „Agenten des Widerstandes“ standrechtlich exekutiert. Hauptsächlich Frauen und Kinder wurden im Konzentrationslager Zemun von der SS vergast.

 

Als Hitler im April 1941 einen Teil des besetzten Jugoslawiens in einen kroatischen Satellitenstaat aufgehen ließ, übernahm dort die Ustascha, eine faschistische kroatische Organisation, die Macht. Innerhalb ihrer vierjährigen Herrschaft gab es eine systematische Ausrottungspolitik gegenüber Roma, Serb_innen und Jüd_innen.[29] Im Konzentrationslager Jasenovac waren bis zu 24.000, Serb_innen und Jüd_innen interniert. Insgesamt kamen die meisten der 28.000 kroatischen Roma durch die Völkermordpolitik der Ustascha ums Leben. In Rumänien starben ca. 36.000 Roma unter dem faschistischen Regime Antonescus; eine systematische Völkermordpolitik gegen Roma gab es auch in Bulgarien, Bosnien und der Slowakei.

 

Nach dem deutschen Angriff auf die Sowjetunion vom 22.6.1941 wurden vor allem Roma und Jüd_innen Opfer der Völkermordpolitik der Sicherheitspolizei und des SD. Die Morde besaßen dann systematischen Charakter, wenn diese Einheiten längere Zeit in einem Gebiet blieben und auf die direkte und indirekte Hilfe der Ordnungspolizei sowie der zivilen Besatzungsverwaltung rechnen konnten.[30] Die Tötung von Roma begründete die 339. Infantrie-Division im Herbst 1941 mit der Verschlechterung der „Verpflegungslage“, weshalb alle „Schädlinge und unnütze Esser auszumerzen“ seien.[31] Angehörige der Wehrmacht übergaben Roma in der Regel an die Einsatzgruppen. Es lassen sich zahlreiche solcher Fälle wie den folgenden, wo Wehrmachtseinheiten selbst Roma ermordeten, nachweisen. Im Bereich der 281. Sicherungsdivision im Heeresgebiet Nord ließ die Ortskommendantur Noworshew im Mai 1942 128 Roma exekutieren. Dies wurde damit begründet, dass Roma „keiner geregelten Arbeit nachgehen“ und ihren Lebensunterhalt „durch Betteln von Ort zu Ort“ bestreiten würden.[32]

 

Im Jahre 1938 spitzte sich die Situation für die im „Dritten Reich“ lebenden Sinti und Roma zu. In der Zeitschrift des Nationalsozialistischen Ärztebundes forderte Karl Hannemann: „Ratten, Wanzen und Flöhe sind auch Naturerscheinungen, ebenso wie die Juden und Zigeuner. (…) Alles Leben ist Kampf. Wir müssen deshalb alle diese Schädlinge allmählich ausmerzen.“[33] Adolf Würth, Mitarbeiter der RHF, bemerkte im August: „Die Zigeunerfrage ist für uns heute in erster Linie eine Rassenfrage. So wie der nationalsozialistische Staat die Judenfrage gelöst hat, so wird er auch die Zigeunerfrage grundsätzlich regeln müssen.“[34] Die bislang in München beheimatete „Zigeunerpolizeistelle“ wurde im Oktober 1938 nach Berlin verlegt. Dort wurde sie unter dem neuen Namen „Reichszentrale zur Bekämpfung des Zigeunerunwesens“ zunächst dem „Reichskriminalpolizeiamt“ unterstellt. 1939 wurde sie dann dem Amt V des „Reichssicherheitshauptamtes" eingegliedert. Himmler ordnete am 8.12.1938 in einem Dekret an, „die Regelung der Zigeunerfrage aus dem Wesen dieser Rasse hinaus in Angriff zu nehmen.[35] Alle Sinti und Roma ab dem 6. Lebensjahr sollten erkennungsdienstlich behandelt und nach „rassenbiologischen“ Gesichtspunkten begutachten werden. Diese Aufgabe wurde der RHF übertragen. Aufgrund einer Verordnung zur besonderen Kennzeichnung von Sinti und Roma wurden ihnen ab März 1939 besondere „Rasseausweise“ ausgehändigt und ihre alten Ausweise abgenommen. Adolf Eichmann, der ab 1939 die „Endlösung der Judenfrage“ organisierte, plante ebenfalls die Deportationen der Sinti und Roma in die Konzentrations- und Vernichtungslager. Eichmann und seine Helfershelfer arbeiteten dabei eng mit der RHS zusammen. Am 21.9.1939 wurde entschieden, dass alle im „Großdeutschen Reich“ lebenden Sinti und Roma in das „Generalgouvernement Polen“ gebracht werden sollten. Der kurz darauf folgende „Festschreibungserlass“ Himmlers besagte, dass Sinti und Roma ihre Heimatorte nicht verlassen dürften. Im Fall der Übertretung dieses Erlasses wurde mit Haft in einem Konzentrationslager gedroht.[36] Am 30.1.1940 wurde bei einem Treffen von Heydrich, Leiter des Reichssicherheitshauptamts (RSHA), mit hohen SS-Führern die Deportation aller „Juden der neuen Ostgaue und 30.000 Zigeunern aus dem Reichsgebiet und der Ostmark als letzte Massenbewegung in das Generalgouvernement“ beschlossen.[37] Nachdem Himmler am 27.4.1940 die erste Deportation von Sinti und Roma aus dem westlichen und nordwestlichen Teilen des „Dritten Reiches“ in das neu entstandene „Generalgouvernement Polen“ angeordnet hatte, wurden ab Mai 1940 ca. 2.500 „Zigeuner“ per Bahn dorthin deportiert. Dies war der Auftakt für die geplante Zwangsumsiedlung aller Sinti und Roma sowie der Jüd_innen in das „Generalgouvernement Polen“ und anderen besetzten Gebiete im Osten. Das Vermögen der deportierten Sinti und Roma wurde vom nationalsozialistischen Staat eingezogen, was dazu führte, dass die wenigen Überlebenden nach Ende des 2. Weltkrieges völlig mittellos waren.[38] Im „Generalgouvernement Polen“ mussten die deportierten Sinti und Roma in Ghettos Zwangsarbeit leisten. Personen, die infolge der menschenunwürdigen Lebens- und Arbeitsbedingungen erkrankten oder nicht mehr arbeiten konnten, wurden rücksichtslos erschossen. Vor allem ab 1942 wurden Sinti und Roma systematisch von der SS getötet. Ein überlebender Augenzeuge des Lagers Treblinka berichtete: „Nach ein paar Stunden traf die SS ein, trennte die Männer von den Frauen und Kindern. (…) In die Grube trieb man jeweils 100 Personen, auf die sie aus Maschinenpistolen feuerten. Die noch am Leben gebliebenen Zigeuner waren gezwungen, die Erschossenen, oft nur Verwundeten, einzuscharren, wonach man sie selber in den Graben stieß und erneutes Maschinengewehrgeknatter einem weiteren Hundert Menschen das Leben nahm. Die Ermordeten wurden mit einer dünnen Schicht Erde zugeschüttet. (…) In Gegenwart ihrer Mütter ergriffen sie die Säuglinge und töteten sie, indem sie sie mit dem Kopf gegen einen Baum schlugen. Mit Peitschen und Stöcken prügelten sie auf die Frauen ein, die wie rasend waren von dem Anblick. Sie warfen sich auf die Soldaten, zerrten an ihnen, um ihnen die Säuglinge zu entreißen, die man ihnen fortgenommen hatte. Dieser Szene setzten erst die dichten Salven der SS und der Soldaten ein Ende, die die Menge umzingelten. Die Leichen der Frauen und Kinder räumten herbeigerufene Häftlinge weg, die sie in die zuvor vorbereiteten Gruben im Wald trugen.“[39]

 

Sinti und Roma arbeiteten beim Flugzeug- und Straßenbau, in Munitionsfabriken und beim Bau von Konzentrationslagern. Dabei trugen sie Armbinden mit einem blauen „Z“ für „Zigeuner“. Wegen des Arbeitskräftemangels in der deutschen Kriegs- und Rüstungsindustrie wurde verstärkt auch auf Häftlinge in den Konzentrationslagern zurückgegriffen. Sinti und Roma mussten sowohl für SS-eigene Betrieben als auch für private Rüstungsbetriebe Zwangsarbeit leisten. Darunter waren Unternehmen wie Daimler-Benz, BMW, VW, Siemens, Henkel, AEG oder Krupp, die noch heute die Auseinandersetzung mit diesem dunklen Kapitel ihrer Firmengeschichte scheuen.[40]

 

Am 16.12.1942 gab Himmler den Befehl, dass ca. 23.000 Sinti und Roma aus ganz Europa, davon über 10.000 aus dem damaligen Reichsgebiet, familienweise in den als „Zigeunerlager“ bezeichneten Abschnitt des Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau, das auf Weisung Himmlers im Abschnitt B II errichtet worden war, deportiert werden sollten.[41] Dieses „Zigeunerlager“ wurde zum Zentrum des staatlich organisierten Völkermordes an Europas größter Minderheit.[42] Fast 90% der dortigen Insassen kamen durch die unmenschlichen Lebens- und Arbeitsbedingungen, den Terror der Aufseher_innen oder in den Gaskammern ums Leben. Ab März 1943 wurden die über 10.000 Sinti und Roma aus dem damaligen Reichsgebiet nach Auschwitz-Birkenau deportiert. Den Insass_innen des Lagers wurden eine Nummer und ein großes „Z“ als „Erkennungszeichen“ auf den Arm tätowiert. Die als „arbeitsfähig“ eingestuften Sinti und Roma wurden zur Zwangsarbeit herangezogen.[43] Dazu gehörten Erd- und Bauarbeiten wie das Ausheben von Entwässerungsgräben und Gleisverlegungsarbeiten zu den Krematorien. In einem Interview mit einem Zeitzeugen hieß es: „Bald nach der Ankunft wurde ich eingeteilt zur Zwangsarbeit im Kommando Kanalbau in Birkenau, das nur aus Sinti und Roma bestand. (…) Mit großen Stöcken wurden die abgemagerten Häftlinge bis zur völligen Erschöpfung vorangetrieben; jeden Tag mußten wir Tote heimtragen. Später mußte ich auch mithelfen, die Toten aus dem Krematorium herauszutragen. Ich habe dort die großen Fässer gesehen, die mit Goldzähnen, Frauenhaaren, Brillen usw. gefüllt waren – wer es nicht selbst miterlebt hat, kann es sich nicht vorstellen. Die Lagerstraße von Birkenau war übersät mit Toten. Nachts, wenn alles gefroren war, wurden die steifgefrorenen Leichen auf Lastwagen geworfen und weggefahren.“[44] Medizinische Experimente an Sinti und Roma waren ebenfalls in Auschwitz an der Tagesordnung. Typhus-, Senfgas- und Kälteschockversuche, Experimente zur Sterilisation und Kastration mit Röntgenstrahlen und Pflanzengift und Meerwasserversuche führten zu unvorstellbaren Qualen für die Opfer, die meist mit dem Tode endeten. Josef Mengele, der 1943 SS-Lagerarzt in Auschwitz wurde, benutzte für seine „Zwillingsforschung“ Juden- und Sintikinder. Auch in anderen Konzentrationslagern wurden medizinische Versuche an Sinti und Roma durchgeführt. Im KZ Ravensbrück führte Prof. Dr. Clauberg Experimente an Sinti und Roma zur Sterilisation durch.

 

Als am 16.5.1944 die SS versuchte, alle Häftlinge des „Zigeunerlagers“ in Auschwitz-Birkenau in Gaskammern zu ermorden, scheiterte dies am bewaffneten Widerstand der Insass_innen.[45] Kurz darauf schickte die SS alle „arbeitsfähigen“ Insass_innen als Zwangsarbeiter_innen in die Konzentrationslager Buchenwald, Mittelbau-Dora, Flossenbrück und Ravensburg. Die noch im Lager verbliebenen Sinti und Roma, darunter vor allem Greise, Frauen und Kinder, wurden in der Nacht auf den 3.8.1944 in den Gaskammern ermordet. Von den ca. 23.000 Sinti und Roma, die von den Nationalsozialisten ins „Zigeunerlager“ deportiert wurden, kamen insgesamt mehr als 18.000 ums Leben.[46] Die Zahl der in Europa bis zum Ende des 2. Weltkrieges getöteten Sinti und Roma wird auf eine halbe Million geschätzt. 25.000 der von den Nationalsozialisten erfassten 40.000 deutschen und österreichischen Sinti und Roma wurden ermordet.

 




[1] Wippermann, W.: Verweigerte Wiedergutmachung. Die Deutschen und der Völkermord an den Sinti und Roma, in: Standpunkte 14/2012, S. 1-6, hier S. 5

[2] Rose, Der nationalsozialistische Völkermord an den Sinti und Roma, a.a.O., S. 14

[3] Ebd., S. 17

[4] www.bpb.de/apuz/33275/ns-verfolgung-von-zigeunern-und-wiedergutmachung-n...

[5] Rede von Romani Rose, in: Heft der Flüchtlingsräte, Antiziganismus, a.a.O., S. 47

[6] Essner, C.: Die „Nürnberger Gesetze“ oder Die Verwaltung des Rassenwahns 1933-1945, Paderborn 2002, S. 15f

[7] Kershaw, I.: Hitler 1889-1936, Stuttgart 1998, S. 711

[8] Zitiert aus Rose, Der nationalsozialistische Völkermord an den Sinti und Roma, a.a.O., S. 42

[9] Zimmermann, Rassenutopie und Genozid. Die nationalsozialistische „Lösung der Zigeunerfrage“, a.a.O., S 158ff

[10] www.bpb.de/apuz/33275/ns-verfolgung-von-zigeunern-und-wiedergutmachung-n... (zuletzt abgerufen am 28.1.2013)

[11] Widmann, P.: An den Rändern der Städte. Sinti und Jenische in der deutschen Kommunalpolitik, Berlin 2001, S. 17

[12] Brucker-Boroujerdi, U./Wippermann, W.: Das „Zigeunerlager“ Berlin-Marzahn. Zur Geschichte und Funktion eines nationalsozialistischen Zwangslagers, in: pogrom 130, 6/1987, S. 77-80, hier S. 78

[13] Rose, R. (Hrsg.): Der nationalsozialistische Völkermord an den Sinti und Roma, Heidelberg 1995, S. 48

[14] Brucker-Boroujerdi, U./Wippermann, W.: Die „Rassenhygienische und Erbbiologische Forschungstelle“ im Reichsgesundheitsamt, in: Bundesgesundheitsblatt 32, März 1989, S. 13-19, hier S. 13ff

[15] Zitiert aus Schenk, M.: Rassismus gegen Sinti und Roma. Zur Kontinuität der Zigeunerverfolgung innerhalb der deutschen Gesellschaft von der Weimarer Republik bis in die Gegenwart, Frankfurt/Main u.a. 1994, S. 60

[16] Hohmann, J.S.: Verfolgte ohne Heimat. Geschichte der Zigeuner in Deutschland, Frankfurt/Main u.a. 1990, S. 118f

[17] Wippermann, W.: „Wie die Zigeuner“. Antisemitismus und Antiziganismus im Vergleich Berlin 1997, S. 146

[18] Danckwortt, B.: Wissenschaft oder Pseudowissenschaft? Die „Rassenhygienische Forschungsstelle“ im Reichsgesundheitsamt, in: Hahn, J./Kavcic, S./Kopke, C. (Hrsg.): Medizin im Nationalsozialismus und das System der Konzentrationslager, Frankfurt/Main 2005, S. 140-164, hier S. 149

[19] Wippermann, „Wie die Zigeuner“, a.a.O., S. 147

[20] Wippermann, W.: Holocaust mit kirchlicher Hilfe, in: Evangelische Kommentare 9, 1993, S. 519-521, hier S. 519f

[21] Rosenhaft, E.: Wissenschaft als Herrschaftsakt: Die Forschungspraxis der Ritterschen Forschungsstelle und das Wissen über „Zigeuner“, in: Zimmermann, M.: Zwischen Erziehung und Vernichtung. Zigeunerpolitik und Zigeunerforschung im Europa des 20. Jahrhunderts, Stuttgart 2007,  S. 329-353, hier S. 342

[22] Zimmermann, M.: Verfolgt, vertrieben, vernichtet. Die nationalsozialistische Vernichtungspolitik gegen Sinti und Roma, Essen 1989, S. 25f

[23] Wippermann, „Wie die Zigeuner“. Antisemitismus und Antiziganismus im Vergleich, a.a.O., S. 144

[24] Rose, Der nationalsozialistische Völkermord an den Sinti und Roma, a.a.O., S. 110

[25] Zimmermann, M.: Verfolgt, vertrieben, vernichtet: die nationalsozialistische Vernichtungspolitik gegen Sinti und Roma, Essen 1989, S. 263

[26] Zimmermann, M.: Rassenutopie und Genozid. Die nationalsozialistische „Lösung der Zigeunerfrage“, Hamburg 1996, S. 234

[27] Zitiert aus Rose, Der nationalsozialistische Völkermord an den Sinti und Roma, a.a.O., S. 110

[28] Wippermann, „Wie die Zigeuner“, a.a.O., S. 162

[29] Rose, Der nationalsozialistische Völkermord an den Sinti und Roma, a.a.O., S. 110

[30] Zimmermann, Rassenutopie und Genozid. Die nationalsozialistische „Lösung der Zigeunerfrage“, a.a.O., S. 234

[31] Schreiben der 339. Infantrie-Division an die Befehlshaber rückwär. Heeres-Gebiet-Mitte vom 5.11.1941, in: Bundesarchiv Militärarchiv Freiburg RH 26/339/5

[32] STA Nürnberg, ND, NOKW 2072, 281, Sdv. 23.6.42

[33] Zitiert aus Weisz, Z.: Ein noch immer vergessener Holocaust – Essay in: www.bpb.de/apuz/33273/ein-noch-immer-vergessener-holocaust-essay (zuletzt abgerufen am 28.1.2013)

[34] Zitiert aus von Haase-Mihalik, E./Kreuzkamp, D.: Du kriegst auch einen schönen Wohnwagen. Zwangslager für Sinti und Roma während des Nationalsozialismus in Frankfurt/Main 1990, S. 35

[35] Rose, Der nationalsozialistische Völkermord an den Sinti und Roma, a.a.O., S. 64

[36] Ebd., S. 91

[37] Luchterhandt, M.: Der Weg nach Birkenau. Entstehung und Verlauf der nationalsozialistischen Verfolgung der „Zigeuner“, Lübeck 2000, S. 57

[38] Gebhardt, A.: Die langen Schatten der Vergangenheit, Münster 1994, S. 117

[39] Rose, Der nationalsozialistische Völkermord an den Sinti und Roma, a.a.O., S. 107

[40] Ebd., S. 161

[41] Zimmermann, M.: Die nationalsozialistische Zigeunerverfolgung, das System der Konzentrationslager und das Zigeunerlager in Auschwitz-Birkenau, in: Herbert, U./Orth, K./Dieckmann, C. (Hrsg.): Die nationalsozialistischen Konzentrationslager: Entwicklung und Struktur, Göttingen 1998, S. 887-910, hier S. 888

[42] Rede von Romani Rose, Vorsitzender des Zentralrates Deutscher Sinti und Roma: zum Anlass des Gedenktages für die Opfer des Nationalsozialismus, Landtag Sachsen-Anhalt, in: Heft der Flüchtlingsräte (Hrsg.): Antiziganismus, München 2010, S. 47-50, hier, S. 49

[43] Rose, Der nationalsozialistische Völkermord an den Sinti und Roma, a.a.O, S. 136

[44] Ebd., S. 140

[45] Rosenberg, O.: Das „Zigeunerlager“ in Auschwitz-Birkenau, in: Kramer, H. (Hrsg.): Die Gegenwart der NS-Vergangenheit, Berlin 2000, S. 221-238, hier S. 230f

[46] Rose, Der nationalsozialistische Völkermord an den Sinti und Roma, a.a.O, S. 136

 

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